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Uruguay wählt linken Präsidenten ...

... und stimmt gegen die Privatisierung des Wassers

Man kann den Ausgang der Wahlen in Uruguay nicht anders als historisch nennen. Zum ersten Mal in der Geschichte gewann ein Vertreter der Linken und verwies den konservativen Gegenspieler auf Platz Zwei. Ob das indessen das Ende des Neoliberalismus in diesem kleinen südamerikanischen Staat bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Die Voraussetzungen für eine gesellschaftspolitische Wende sind aber nicht schlecht. In einer Volksabstimmung, die gleichzeitig mit der Präsidentenwahl stattfand, haben sich 63 Prozent der Wähler gegen die Privatisierung der Trinkwasserversorgung ausgesprochen und für eine Verfassungsreform gestimmt, nach der der Verkauf von Staatsbetrieben untersagt werden soll.

Der Wahlsieg der Frente Amplio steht in einer Reihe Aufsehen erregender Wahlen in anderen südamerikanischen Staaten (Venezuela, Brasilien, Argentinien) der letzten Jahre. Der Halbkontinent erhält ein anderes Gesicht und lässt sich nicht mehr so leicht als "Hinterhof" der USA behandeln. Das ist die über Uruguay hinaus gehende Botschaft dieser Wahl.

Im Folgenden dokumentieren wir Pressesplitter, in denen die Wahlen in Uruguay dargestellt und kommentiert werden.

Uruguays Linke jubelt

Von Andreas Behn

Nach Argentinien, Brasilien und Venezuela hat auch Uruguay einen linksgerichteten Präsidenten gewählt. Gleich nach Stimmenabgabe kamen am Sonntag (Ortszeit) Zehntausende Anhänger des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front) spontan zu Freudenkundgebungen auf den Straßen der Hauptstadt Montevideo zusammen. Am Ausgang der Präsidentschaftswahl hatten sie keine Zweifel. Im Laufe des Abends dann wurde bestätigt, worauf die Linken in Uruguay seit 170 Jahren warten: Erstmals wird das kleine südamerikanische Land nicht mehr von rechtsgerichteten Politikern regiert, und auch beide Kammern des Kongresses sind mehrheitlich in Händen fortschrittlicher Abgeordneter.

Hunderttausende waren schließlich auf den Beinen, um den zukünftigen Präsidenten, den Arzt Tabaré Vázquez, zu feiern. Seine Gegner gestanden ihre Niederlage ein. Bereits im ersten Wahlgang konnte Vázquez die absolute Mehrheit erringen, ein Zeichen dafür, wie überdrüssig die Uruguayer der neoliberalen, oft nur an den Interessen Washingtons und des Internationalen Währungsfonds ausgerichteten Politik des scheidenden Präsidenten Jorge Batlle sind. Vorläufigen Ergebnissen zufolge errang Vázquez gut 51 Prozent der Stimmen, sein stärkster Rivale, Jorge Larrańaga von der Nationalpartei, kam auf 34 Prozent. Der Kandidat der regierenden Colorado-Partei, Guillermo Stirling, erreichte lediglich knapp über zehn Prozent der Stimmen – das schlechteste Ergebnis in der Geschichte dieser konservativen Partei. Dem Stand der Auszählung vom Montag zufolge wird die Frente Amplio zudem in den beiden Kammern 16 von 30 Senatoren und 52 von 99 Abgeordneten stellen.

Allerdings wird spätestens zum Amtsantritt am 1. März der politische Alltag den Jubel über einen linken Wahlerfolg dämpfen. Zwar hat der 64jährige Vázquez mit der breiten parlamentarischen Mehrheit und der Unterstützung von Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Kräften eine gute Ausgangsposition, doch befürchten viele Vertreter des linken Frente-Flügels, daß sich schon bald Enttäuschung einstellen wird. Noch am Wahlabend erklärte der designierte Präsident zwar seinen Anhängern: »Ich werde eure Erwartungen nicht enttäuschen«. Doch an die Realpolitiker gerichtet ergänzte er, daß »die Suche nach pragmatischen politischen Vereinbarungen und der Dialog« im Vordergrund bleiben würden.

Uruguay steht vor immensen sozialen Problemen. Gleichzeitig hat das Land mit seinen 3,3 Millionen Einwohnern kaum wirtschaftlichen Spielraum, eigene Akzente zu setzen. So ist davon auszugehen, daß in naher Zukunft im Land vieles beim alten bleiben wird – insbesondere in Sachen Wirtschaftspolitik. Im regionalen Kontext allerdings dürfte der Frente-Sieg das Gewicht weiter in Richtung Eigenständigkeit und mehr Selbstbewußtsein verschieben: Brasilien, Argentinien und Uruguay werden jetzt von Mitte-Links-Regierungen geführt, im Nachbarland Paraguay setzt sich Präsident Nicanor Duarte Frutos ebenfalls von der jahrzehntelangen Tradition erzkonservativer Regierungen ab. Die Tendenz dieses Blockes, geopolitischen Forderungen aus Washington sowie wirtschaftspolitischen Vorgaben Paroli zu bieten, dürfte mit der Regierung Vázquez in Uruguay zunehmen.

Aus: junge Welt, 2. November 2004

Wasser bleibt in Staatshand

VON GABY WEBER
(Auszug)

(...) Eigentlich hatte schon eine Volksabstimmung im Jahr 1992 klar festgelegt, dass Staatsbetriebe nicht verkauft werden dürfen. Privatisierungen sind unpopulär in Uruguay. Die Linke lehnt sie ab, weil sie Übernahmen durch multinationale Konzerne vermutet und verweist auf die negativen Erfahrungen mit den privatisierten Dienstleistungsunternehmen im Nachbarland Argentinien. Aber auch die Konservativen wollen Vater Staat nicht aus der Pflicht lassen. In den Staatsunternehmen wurden Parteifreunde und Verwandte untergebracht, dank Beamtenstatus sind sie unkündbar.

Doch das Plebiszit von 1992 wurde sukzessive ausgehebelt, indem private Betreiber Konzessionen erhielten. Dies wurde mit dem schlechten Service der staatlichen Dienstleistung begründet. Tatsächlich schmeckt in Montevideo das Trinkwasser nach Chlor und Erde. (...)

Jahrzehntelang haben die Gewerkschaften Vetternwirtschaft und Schlamperei toleriert. Für die Einstellung reichte das richtige Parteibuch. Obwohl die beiden traditionellen Parteien in jedem Wahlkampf den Abbau von überflüssigem Personal versprochen haben, stehen beim Wasserwerk OSE noch 4600 Personen auf der Gehaltsliste. (...)

Doch die private Trinkwasserversorgung in Maldonado hat sich als noch schlechter - und teurer - als die öffentliche entpuppt. Im Badeort Piriápolis blieben die Wasserhähne fünf Tage lang trocken, und in Punta del Este ergoss sich die Kloake auf den weißen Sandstrand. Die Wasserwerker fordern von der neuen Regierung, die erteilten Konzessionen aufzuheben. Doch der designierte Wirtschaftsminister Danilo Astori hat bereits im Vorfeld angekündigt, die erteilten Verträge zu respektieren und statt dessen ein "interpretatives" Gesetz zu verabschieden, wie im Falle der bestehenden Konzessionen der Volkswille auszulegen sei.

Aus: Frankfurter Rundschau, 2. November 2004


Das Wasser-Plebiszit

Die Wasserwerker-Gewerkschaft (Ffose) und Nachbarn aus dem Department Maldonado, wo ein spanisches Unternehmen die Konzession für die Trinkwasserversorgung hält, hatten monatelang Unterschriften für den Volksentscheid gesammelt. Das Plebiszit soll nun in der Verfassung festschreiben:
  • dass der Zugang zu Trinkwasser ein Menschenrecht ist
  • dass Süßwasser-Vorräte nicht verpfändet und als Bürgschaft in internationalen Verträge eingesetzt werden
  • dass der Staat die Wasserwirtschaft betreibt
  • dass Joint-Venture und Konzessionen an private Firmen unzulässig sind
  • dass Oberflächenwasser und unterirdische Reservoirs öffentliches Eigentum und kein Exportgut sind.
Aus: FR, 2. November 2004


Kommentare und ein Porträt des Siegers

In der Frankfurter Rundschau kommentierte Wolfgang Kunath: "Historisch":

Ein historischer Sieg der Linken - da ist schnell die Parallele zu Salvador Allende zur Hand. Aber vermutlich ist kaum ein Vergleich schiefer als der zwischen dem chilenischen Sozialisten und dem Sieger der Wahl in Uruguay am Sonntag, Tabaré Vázquez.
Es stimmt, beide haben einen historischen Sieg der Linken errungen. Aber heute bedeutet das in Südamerika etwas ganz anderes als Ende der 60er Jahre. Vázquez vertritt einen moderaten, versöhnlichen Kurs. Er gehört in die Phalanx sozialdemokratisch ausgerichteter Staatschefs, die in den vergangenen Jahren in Brasilien, Chile, Argentinien an die Macht gekommen sind: Modernisierer, die das neoliberale Wirtschaftsmodell nicht revolutionär zerschmettern, sich aber das beharrliche Dringen auf Kurskorrekturen der menschenfreundlichen Art nicht abhandeln lassen wollen.
Ob sie das erreichen, wird man am Ende ihrer Amtszeit sehen. Aber selbst wenn sie scheitern - das Ziel immerhin ist richtig. Die neoliberale Wende hat in Südamerika zu kurzfristigen Wachstumserfolgen geführt, gefolgt von tiefen Krisen, von denen sich Länder wie Uruguay erst langsam erholen. Wenn es sozialen Modernisierern wie Vázquez, dem Brasilianer Lula oder dem Argentinier Kirchner gelänge, ein Modell für den südamerikanischen Kapitalismus mit halbwegs menschlichem Antlitz zu entwickeln - das wäre schon der viel zitierte "historische Sieg der Linken".

Aus: FR, 2. November 2004

"Uruguay weist den Weg", titelt das Neue Deutschland. Martin Ling kommentiert:

Für Uruguays Linke ist es ein historischer Wahlsieg, für Lateinamerika eine historische Chance. Seit 170 Jahren wird in Uruguay gewählt und seitdem gaben sich die liberal-konservativen Colorados und konservativ-liberalen Blancos das Regierungszepter in die Hand. Zur Not verbündeten sich die Rivalen wie 1999 im zweiten Wahlgang gegen die Linke, als Tabaré Vázquez die erste Runde relativ, aber eben nicht absolut gewann. Diesmal hat er das geschafft.
Einmal mehr wurde damit an den Wahlurnen in Lateinamerika plumpen Vertretern neoliberaler Politik und Sachwaltern US-amerikanischer Interessen eine Absage erteilt. Das gesamte Bündnis MERCOSUR (Gemeinsamer Markt des Südens) wird nun von progressiven Politikern regiert: Lula in Brasilien, Kirchner in Argentinien, Duarte in Paraguay und Vázquez in Uruguay. Eine historisch einmalige Konstellation.
Sie zu nützen, ist alles andere als ein Selbstläufer. Zwar stehen die Zeichen auf verstärkte Süd-Süd-Zusammenarbeit, weil sie politisch gewollt ist. Vázquez ist ein Baustein mehr. Doch der Hebel für das externe Durchsetzen neoliberaler Politik besteht nach wie vor: die hohe Auslandsverschuldung und die daraus resultierende Abhängigkeit von Internationalem Währungsfonds und internationalen Gläubigern. Gegenüber diesen Kontrahenten müssen Vázquez und Co. gemeinsam Druck für eine tragfähige Lösung entfalten. Sonst bleibt der Spielraum für Sozialpolitik gering.

Aus; Neues Deutschland, 2. November 2004

Die Berliner Tageszeitung (taz) hebt auf die Eigenart des Linksbündnisses ab (Kommentar: Ingo Malcher) und schreibt über "Sozis und Stadtguerilleros Seit an Seit":

Es gibt nur wenige Länder in der Welt, in denen die Linke geschlossen zu einer Wahl antritt. Im 3,5-Millionen-Einwohner-Land Uruguay wurde diese Strategie am Wochenende belohnt: 33 Jahre nach der Gründung des Linksbündnisses "Frente Amplio" ("Breite Front") schaffte es deren Kandidat Tabaré Vázquez, zum neuen Präsidenten gewählt zu werden. Das war nur möglich, weil ehemalige Stadtguerilleros und klassische Sozialdemokraten ihre Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellten und Streitthemen wie die wirtschaftspolitische Ausrichtung ausblendeten. Nur so gibt es jetzt eine realistische Chance, das verkrustete Parteiensystem aufzubrechen und linken Inhalten in der Politik Geltung zu verschaffen. Mit dieser Haltung könnte die Frente Amplio auch zum Modell für linke Wahlprojekte in anderen Ländern werden.
Zugleich aber stellt sich die Frage, wie viel Handlungsspielraum die neue Regierung tatsächlich hat. Vázquez ist gefangen in einem Netz aus widersprüchlichen Anforderungen, die er kaum selbst auflösen kann. Er muss soziale Gerechtigkeit schaffen und darf den Schuldendienst nicht gefährden; er muss Investoren anziehen und das Steuersystem dahin gehend reformieren, dass auch die Unternehmer Steuern bezahlen; er muss ein Rentensystem finanzieren, für das er kaum Geld hat, weil viele junge Leute und damit potenzielle Einzahler das Land verlassen haben. Nicht umsonst bremste Vázquez bereits im Wahlkampf die Erwartungen an seine Regierung. Das gibt ihm zunächst einen gewissen Freiraum. Er wird ihn nutzen müssen, um Prioritäten zu setzen. Ganz oben auf seiner Liste steht ein soziales Notprogramm. (...)

Aus: taz, 2. November 2004

Unter der Rubrik "Kopf des Tages" porträtierte der Wiener "Standard" den Wahlsieger Tabare Vazquez. Es heißt dort u.a.:

Dass er kein Berufspolitiker ist, mögen die Uruguayer an ihrem neuen Präsidenten Tabaré Vázquez. Und dass er den sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zum angesehenen Krebsarzt vorgelebt hat – eine Karriere, wie sie bis vor zehn Jahren in dem Land mit dem größten Mittelschichtanteil Lateinamerikas durchaus üblich war. (...) In seinem dritten Anlauf siegte Vázquez und zieht als erster Sozialist in das Präsidialamt ein.
Es ist gewiss nicht sein Charisma, das dem 64-Jährigen nun zu diesem Triumph verholfen hat. Er ist ein eher hölzerner Redner, hat die Ausstrahlung eines Universitätsprofessors und scheut den Kontakt mit dem Volk und den Medien. (...)
Als Manager eines Amateurfußballklubs brachte er den winzigen Verein aus La Teja auf Vordermann und führte ihn zur uruguayischen Meisterschaft. Als erster linker Bürgermeister Montevideos (1989–1993) legte der vierfache Familienvater mit einer moderaten und effizienten Amtsführung die Basis für das weitere Wachstum des Linksbündnisses. Und durch seine ausgeglichene Art ist er eine Integrationsfigur des heterogenen Zusammenschlusses, der von Exguerilleros über Sozialdemokraten bis hin zu Christdemokraten reicht.
Seit zehn Jahren steht Vázquez dem Frente Amplio vor – der beliebteste Linkspolitiker ist er aber nicht: Unumstrittener Star des Frente ist der 70-jährige Exguerillero José „Pepe“ Mujica, der seine politischen Gegner „Blutsauger“ nennt, ihre mafiösen Geschäfte anprangert, in einem bescheidenen Häuschen lebt und mit der Vespa durch die Stadt rollt. Vázquez hingegen gilt als der „Staatsmann“ des Frente. (...)
Mit der Linken sympathisierte er schon sehr jung: Als angehender Arzt versorgte Vázquez verwundete Guerilleros und schloss sich der Sozialistischen Partei an. Krebsspezialist wurde er nach einem persönlichen Schicksalsschlag. Innerhalb kürzester Zeit starben seine Eltern und eine Schwester an Krebs.
Auch als Präsident werde er in seiner Privatklinik weiter praktizieren, so Vázquez, der vom scheidenden Präsidenten Jorge Batlle den Spitznamen „Schamane“ bekommen hat.

Aus: DER STANDARD, 2. November 2004


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