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Uruguayer fordern Ende des Unrechts

Zehntausende demonstrierten in Montevideo für die Abschaffung des Amnestiegesetzes

Von Harald Neuber *

»Erinnerung in Freiheit« stand auf dem Spruchband, hinter dem sich am Dienstagnachmittag in Uruguays Hauptstadt zehntausende Menschen versammelten.

Die Massenkundgebung im Zentrum Montevideos bildete den Höhepunkt einer Kampagne linker Parteien und Menschenrechtsorganisationen gegen die Straffreiheit für Folterer und Mörder der Diktatur, die in Uruguay von 1973 bis 1985 andauerte. Parallel zu den Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag sind die Bürger des Landes aufgerufen, über die Annullierung des 1986 erlassenen Amnestiegesetzes aufgerufen.

Als das Gesetz 1986 auf Betreibeben des damaligen Präsidenten Julio Maria Sanguinetti verabschiedet wurde, war die parlamentarische Demokratie in dem südamerikanischen Staat mit 3,5 Millionen Einwohnern zwar formell wieder hergestellt. Tatsächlich aber befanden sich die Staatsgewalten nach wie vor in der Hand der Rechten. Vermutet werden bis heute geheime Absprachen zwischen Sanguinetti und den Militärs. Das Gesetz untersagt grundsätzlich die Verfolgung von Gewaltverbrechen während der Diktatur - darunter Entführung, Folter, Vergewaltigung und Mord. Allerdings konnte die Regierung auf Antrag der Gerichte entscheiden, ob eine Straftat in den Geltungsbereich des Gesetzes fällt oder nicht. Die seit 2004 regierende linke Frente Amplio (Breite Front) ermöglichte denn auch erste Ermittlungen, einige Verbrecher aus Kreisen des Militärs und der Polizei wurden verhaftet und angeklagt. Nun aber geht es um die kompromisslose Abschaffung des Gesetzes.

Neben schwarz-weißen Schildern mit Fotos und Namen der rund 200 verschwunden Aktivisten schwenkten die Demonstranten am Dienstag in Montevideo rosa Fahnen - eine Anspielung auf die Farbe der Abstimmungskarten beim Referendum am Sonntag. Auf der Abschlusskundgebung sprachen Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und der Autor und Essayist Eduardo Galeano. Er bezeichnete das Amnestiegesetz als »trauriges Erbe der Diktatur«. Zugleich erinnerte er an die erste Volksabstimmung 1989, bei der schon einmal über die Amnestieregelung befunden wurde. Die rechten Parteien hatten vor dem Referendum die Gefahr eines Putsches an die Wand gemalt. »Wir haben damals sehr knapp verloren«, sagte Galeano, »diese Niederlage war der Angst der Menschen geschuldet.« Die vergangenen Jahre unter einer von der Frente Amplio geführten Regierung hätten aber bewiesen, dass diese Angst besiegt wurde.

Lateinamerikanische Medien schätzen ein, dass die Amnestie für Verantwortliche von Menschenrechtsverbrechen in Uruguay am Sonntag aufgehoben wird, obwohl jeder Nichtwähler praktisch als Gegner der Aufhebung gezählt wird. Erst einen Tag vor der Massenkundgebung hatte der Oberste Gerichtshof in Montevideo das Gesetz in mehreren Punkten für verfassungswidrig erklärt. Es war das erste Mal, dass die obersten Richter sich zu diesem Thema äußerten. Ihr einstimmig gefälltes Urteil betrifft vorerst jedoch nur den Fall der Literaturstudentin Nibia Sabalsagaray. Die junge Kommmunistin war am 29. Juni 1974 in den frühen Morgenstunden von einem Militärkommando in ihrer Wohnung festgenommen worden. Am Nachmittag desselben Tages informierten die Militärs die Familie über den angeblichen Selbstmord der 24-Jährigen. Bei einer heimlichen Obduktion der Leiche fanden Mediziner, die von der Familie beauftragt worden waren, eindeutige Spuren von Folter.

Die Rechtsanwältin der Familie Sabalsagaray, Mirtha Guianze, sprach am Dienstag von einem »Urteil, das große Bedeutung für die Zukunft haben kann«. Die Richter hätten frei und auf der Basis rechtstaatlicher Prinzipien entschieden. Dies sei in der Vergangenheit nicht so gewesen. Auch der Verband der Kinder verschwundener Gefangener sprach nach dem Urteil von einem »nicht nur politischen, sondern einem kulturellen Wandel«.

Zweifellos ist es auch der politische Umbruch in Uruguay, der die Aufarbeitung der Vergangenheit begünstigen. Am Sonntag wird der bisherige Präsident Tabaré Vázquez den Umfragen zufolge von José »Pepe« Mujica, einem ehemaligen Kämpfer gegen die Diktatur, abgelöst. Mujica repräsentiert heute den linken Flügel des Regierungsbündnisses Frente Amplio.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009


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