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Reaktionärer Eintopf

Am Sonntag wählen die Ungarn eine neue Nationalversammlung. In den vergangenen vier Jahren hat die Fidesz-Regierung eine in jeder Hinsicht rückschrittliche und antidemokratische Politik betrieben. Die Wiederwahl gilt als sicher

Von Sándor Horváth *

Am 6. April stehen Ungarn nach vier politisch stürmischen Jahren unter der Regierung Viktor Orbán wieder Parlamentswahlen ins Haus. Wie es ausschaut, wird der derzeitige Ministerpräsident sie erneut souverän gewinnen. Wahrscheinlich kann er seine Zweidrittelmehrheit verteidigen, ja, sie vielleicht sogar zu einer Dreiviertelmehrheit ausbauen – und das trotz seiner für den Großteil der Gesellschaft desaströsen Politik. Heute leben 47 Prozent der Ungarn unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von 260 Euro verfügbaren monatlichen Einkommens. Bei bei der Romabevölkerung, die immerhin fünf bis sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, errreicht dieser Wert unglaubliche 92 Prozent. Vor Wahlen im Allgemeinen und angesichts dieser erschreckenden Zahlen im Speziellen stellt sich die Frage, welche Bilanz der vierjährigen Herrschaft des nationalkonservativen Fidesz – Ungarischer Bürgerbund zusammen mit der mittlerweile angeschlossenen KDNP (Christdemokratische Volkspartei) zu ziehen ist.

Was in Ungarn in den vergangenen vier Jahren politisch geschah, darüber ist der Westen im großen und ganzen informiert. Orbán und der Fidesz verhinderten von Anfang an jeglichen gesellschaftlichen und parlamentarischen Dialog und haben mit ihrer Zweidrittelmehrheit die gesamte Gesetzgebung und das Land im Alleingang stark verändert. Sie zwangen Ungarn ein Grundgesetz auf, das nicht einmal die Fidesz-Wähler guthießen, weshalb auch die ursprünglich angekündigte Volksbefragung stillschweigend ad acta gelegt wurde. Infolge des neuen Mediengesetzes, das so gut wie alle Redaktionen in den Dienst der Macht stellte, rutschte Ungarn beim Ranking zur Achtung der Pressefreiheit vom 23. Platz im Jahr 2009 auf den 64. Platz, unmittelbar hinter Senegal und Tonga. Auch fast die gesamte Werbebranche ist mittlerweile in den Händen Fidesz-naher Oligarchen. Ansonsten gibt es vom Staatspräsidenten bis zu den Museums- oder Theaterdirektoren, vom Rechnungshof bis zur Richterschaft und Staatsanwaltschaft, vom Verfassungsgerichtshof bis zum Rettungsdienst praktisch keine öffentlichen Posten, die nicht mit Fidesz-Kadern besetzt wären.

Strafverschärfung und Kahlschlag

Weniger bekannt ist im Westen, daß die Fidesz-Regierug auch ein neues Strafgesetzbuch ausarbeiten ließ. Delikte, die früher als Ordnungswidrigkeit galten, wurden neu als Straftat oder Verbrechen qualifiziert, Gefängnis- und Geldstrafen signifikant erhöht. Das Ergebnis ist, daß im krassen Gegensatz zur Fidesz-Propaganda, derzufolge die Kriminalität deutlich zurückgegangen sei, heute 16 bis 17 Prozent mehr Verurteilte in den Gefängnissen einsitzen als noch 2010, als der Fidesz an die Macht kam. Die Strafverschärfung wird ergänzt durch das aus den USA übernommene Prinzip des »Three-Strikes-Law«, bei dem nach der dritten Verurteilung wegen eines beliebigen Verbrechens automatisch eine lebenslange Haftstrafe verhängt wird. Eingeführt wurde außerdem die tatsächliche lebenslängliche Gefängnisstrafe und die Herabsetzung der Strafmündigkeit von Kindern von 14 Jahren auf nunmehr 12 Jahre. Außerdem wurde das Strafmaß für Delikte, die typischerweise von Armen, darunter oft Roma, begangen werden, unmäßig erhöht. Es erreicht mittlerweile ein Niveau, wie wir es nur aus den Romanen des 19. Jahrhunderts kennen. 2013 wurde ein Obdachloser wegen des Diebstahls einer Bettdecke im Wert von rund 2000 Forint (6,45 Euro) und 600 Forint (zwei Euro) Bargeld zu elf Jahren Gefängnis verurteilt: Er war eben rückfällig.

Das Bildungswesen wurde einschneidend umgestaltet. Kernelement des neuen, zentralen Lehrplans ist die christlich-nationalistische Erziehung. Der freie Schulbuchmarkt ist abgeschafft, es wird in naher Zukunft für jedes Unterrichtsfach nur mehr zwei Bücher geben, beide herausgegeben vom staatlichen Schulbuchverlag. Unter diesen zwei dürfen die Schulen dann wählen. Alle Schul- und Gymnasialdirektoren werden vom zuständigen Staatssekretär ernannt, die Lehrer unterstehen einem neu eingerichteten zentralen Bildungsinstitut. Die »Reform« der Studieneinrichtungen ist nicht minder gravierend. Orbán verkündete, daß die Hochschulen in »sich selbst erhaltende« Betriebe umzuwandeln seien. Ihnen wurde viel Geld entzogen, und es wurde die Studiengebühr eingeführt. Die Zahl der Studierenden sank dementsprechend dramatisch: Seit 2011, als die Hochschulreform in Kraft gesetzt wurde, ist in Ungarn die Menge der Studenten 2012 um 15000 und 2013 um 45000 zurückgegangen.

Im Gesundheitswesen sind Zustände, wie sie aus Ländern des globalen Südens bekannt sind, alltäglich. Oft müssen die Patienten ihre Medikamente aus den Apotheken selbst besorgen und ins Krankenhaus mitbringen, selbstverständlich auf eigene Kosten. Toilettenpapier und ähnliches gab es schon zu Zeiten der sozialliberalen Vorgängerregierung in mehreren Krankenhäusern nicht mehr. Die Wartezeiten für Operationen haben sich in den letzten vier Jahren dramatisch verlängert, teilweise auf mehr als das Achtfache des bisher Üblichen. Termine erst nach über einem Jahr sind keine Ausnahme. Gesetzlich erlaubt wurde es dagegen, sich einen besseren Platz auf den Wartelisten für ärztliche Behandlung zu erkaufen.

Was dem Beobachter vielleicht am stärksten Übelkeit bereiten könnte, ist jedoch die in Ungarn noch nie dagewesene systematische ­Umver­teilung materieller Güter zugunsten der Wohlhabenden. Es wurde in der ganzen vergangenen Legislaturperiode praktisch kein einziges Gesetz verabschiedet, das nicht die ohnehin schon mehr Besitzenden begünstigt hätte. Besonders widerwärtig daran ist: Diese Rechtsvorschriften sind so gestaltet, daß sie die Minderheit der Roma, die sowieso auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter steht, in aller Regel überproportional betreffen. Die Fidesz-Strategen kalkulieren dabei ganz unverhohlen, daß die Ärmsten der Armen, die völlig resigniert sind, sowieso nicht zu den Urnen gehen.

Das neue Wahlsystem

Für den Ausgang der Wahlen an diesem Wochenende von entscheidender Bedeutung ist das von der Fidesz-Zweidrittelmehrheit völlig neu gestaltete Wahlgesetz. Orbán hat sich von der ersten Stunde seit Regierungsantritt an auf die nun anstehende Verteidigung seiner Herrschaft vorbereitet. Zur Vorgeschichte dieser Politik gehört, daß er zwischen 1998 und 2002 schon einmal Ministerpräsident gewesen war und dann, entgegen aller Voraussagen der Meinungsforschungsinstitute, die Wahlen verlor. Das war für den machtbesessenen Politiker wohl der Schock seines Lebens. Als er 2010 endlich wieder Premier wurde, war er offensichtlich von Beginn an fest entschlossen, eine erneute Abstimmung mit seiner Partei zu gewinnen. Die neue Fidesz-KDNP-Regierung war noch nicht einmal vereidigt, als das Parlament an seinem ersten Arbeitstag ein Gesetz verabschiedete, das allen im Ausland lebenden Ungarn die Staatsbürgerschaft der Republik anbot. Der eigentliche Zweck war es, die in den umgebenden Staaten lebenden Auslandsungarn zu Wahlbürgern zu machen. Denn viele dieser Menschen sind aus historischen Gründen konservativ und vor allem nationalistisch eingestellt, stehen also ideologisch der derzeitigen ungarischen Regierung näher als den Sozialisten oder Liberalen. Nun können diese über eine halbe Million Wähler, von denen viele noch niemals einen Fuß auf ungarisches Territorium gesetzt haben, die dortigen Wahlen mitentscheiden.

Mit keiner anderen Angelegenheit haben sich Orbán und seine Leute so intensiv und lange beschäftigt wie mit dem Wahlgesetz. Dabei wurde ein Zickzackkurs gefahren. Ein typisches Dilemma bestand jahrelang beispielsweise darin zu entscheiden, wie schwer oder leicht es anderen Parteien und Kandidaten gemacht werden sollte, überhaupt zu den Wahlen antreten zu können. In der ersten Hälfte der Legislaturperiode glaubte Orbán, über eine bombensichere Wählermehrheit zu verfügen und wollte Überraschungen ausschließen. Deshalb erschwerte er die Bedingungen für eine Kandidatur zum Parlament erheblich, und für kleinere oder neue Parteien wurde es fast unmöglich gemacht, an der Wahl teilzunehmen. In der letzten Zeit wurde aber die rechtsradikale Partei Jobbik (»Rechtere« oder »Bessere«) immer stärker. Es ist in den Bereich des Möglichen gerückt, daß sie dem Fidesz zu viele Stimmen wegschnappt und dadurch eventuell als lachender Dritter die linksliberale Opposition den ersten Platz ergattern könnte. Die Fidesz-Wahlstrategen wechselten die Taktik: Die Opposition soll nun durch die Qual der Wahl zersplittert werden. In der heutigen Fassung des Wahlgesetzes ist demnach genau das Gegenteil festgelegt worden, was noch zur Mitte der Legislaturperiode galt: Es wurde kleinen Gruppierungen unglaublich leicht gemacht anzutreten. Die Nationale Wahlkommission verzeichnet 31 Parteien bzw. Gruppierungen, dazu kommt eine Liste von 13 Nationalitätenvertretungen. Und es geht, wie es scheint, nicht immer mit rechten Dingen zu. So wurde bekannt, daß der Fidesz in solchen Wahlbezirken, die ihm nicht sicher zufallen werden, für kleine Parteien, die die nötige Infrastruktur nicht hatten, Unterschriften gesammelt hat. Als Beispiel gilt der 1. Wahlkreis im Komitat Baranya, wo viele Linkswähler wohnen und wo nun mit der Hilfe des Fidesz sage und schreibe 44 Kandidaten antreten.

Doch die Wahlfachleute des Fidesz haben sich noch drastischere Wahlgesetzänderungen ausgedacht. Die Wahlbezirke im ganzen Land wurden neu bestimmt, und ihre Grenzen wurden so verschoben, daß aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem die Fidesz-Anhänger die Mehrheit ausmachen. Großstädten, wo eher Linkswähler wohnen, wurden außerstädtische Gebiete angeschlossen, in denen traditionell rechts gewählt wird. Oder man verfuhr umgekehrt und zerlegte bestehende Wahlkreise. In Budapest haben sie überhaupt nichts mehr mit den Bezirksgrenzen zu tun.

Dazu kamen unzählige kleinere Machenschaften zu Lasten der Opposition. So wurde u.a. beschlossen, daß die Bezeichnung der antretenden Parteien auf dem Wahlzettel in einer Größe von nicht mehr als 20 mal 40 Millimeter gedruckt werden muß. Diese Bestimmung ist eindeutig gegen den sozialliberalen sogenannten »Linken Zusammenschluß« gerichtet, denn gemäß dieser Vorschrift werden die fünf darin enthaltenen Namen kaum leserlich klein geschrieben werden müssen. Aber damit nicht genug: Vor einem Monat mußte diese Wahlkoalition auch ihren Namen ändern. Eine völlig unbekannte Partei eines rechtsradikalen Bürgermeisters heißt nämlich ebenfalls Zusammenschluß (Összefogás), und dieser Bürgermeister klagte wegen »Verwechslungsgefahr«. Die von Orbán ernannte Richterschaft ließ sich lange Zeit mit dem Urteil. Einen Monat vor den Wahlen wurde es der vereinigten sozialliberalen Opposition schließlich verboten, ihren seit Jahren benutzten Namen »Zusammenschluß« offiziell zu verwenden. Und weil fast der gesamte Werbebranche in Händen regierungsnaher Unternehmen ist, sieht man im ganzen Land fast ausschließlich Fidesz-Plakate.

Note »Ungenügend«

Ein faires Wahlgesetz sollte, folgt man dem Politikwissenschaftler Dieter Nohlen, insbesondere fünf Anforderungen genügen. Dabei handelt es sich darum, das richtige Maß an Konzentration, also eine beschränkte Zahl von Parlamentsparteien, zu erreichen, um die Bildung einer stabilen Regierung zu ermöglichen. Außerdem geht es um Partizipation, also die Möglichkeit, nicht nur Parteien, sondern auch Personen zu wählen. Ferner um Repräsentation, das heißt, die abgegebenen Stimmen sollen sich entsprechend proportional in Abgeordnetenmandaten niederschlagen. Wichtig sind auch Transparenz oder Einfachheit – die Wähler sollen das System verstehen. Schließlich ist Legitimität notwendig, das Wahlsystem soll also allgemein akzeptiert werden.

Das heutige ungarische Wahlgesetz erfüllt selbst bei wohlwollender Betrachtung bestenfalls eineinhalb dieser Kriterien. Das Prinzip der Konzentration ist voll, ja, überdimensional umgesetzt. Der Fidesz darf sich nämlich sicher sein, daß er als stärkste Partei aus den Abstimmungen hervorgeht, und er hat deshalb das Wahlgesetz so umgestaltet, daß der Sieger überproportional an Mandaten gewinnt. Dies geht so weit, daß der Fidesz, sollte er gut 30 Prozent der Stimmen erhalten, im Parlament unter Umständen mit einer absoluten Mehrheit rechnen kann. Und sollte er um die 43 bis 45 Prozent bekommen, darf er erneut mit einer Zweidrittelmehrheit rechnen. Die zweite Forderung, die nach der Partizipation, ist nur halbwegs erfüllt, weil die nicht in Ungarn lebenden Wahlberechtigten nur für Parteien, nicht aber für Personen ihre Stimmen abgeben dürfen. Das verstößt zwar auch gegen das Gleichheitsprinzip, aber solche Kleinigkeiten stören die ungarische Legislative heutzutage nicht. In allen anderen Punkten entspricht das Gesetz keinesfalls den von Nohlen genannten Anforderungen. Wegen der unglaublichen Begünstigung der stimmenstärksten Partei wird sich der Wählerwille in der Mandatsverteilung keineswegs widerspiegeln. Die diversen Veränderungen des Wahlrechts in der nun ablaufenden Legislaturperiode hat der Fidesz jedes Mal im Alleingang durchgepeitscht. Eine gesellschaftliche Diskussion gab es darüber nicht, von gesellschaftlicher Legitimität kann keine Rede sein. Was schließlich die Einfachheit betrifft, ist das Gesetz nicht zuletzt wegen verschiedener darin versteckter Raffinessen, die darauf abzielen, den Fidesz zu begünstigen, nicht nur höchst kompliziert, sondern sogar für Fachleute völlig undurchschaubar.

Am 6. April werden also zahlreiche politische Formationen antreten. Nennenswerte Positionen scheinen zur Zeit nur vier von ihnen erreichen zu können. Der Fidesz-KDNP geht als Favorit ins Rennen. Die sozialliberale Koalition kann vielleicht weiter ihren zweiten Platz behaupten, doch die rechtsradikale Jobbik-Partei, die ihren Ton vor den Wahlen etwas gemäßigt hat, holte Woche für Woche auf. Sie steht zur Zeit bei 20 Prozent, doch aufgrund der traditionellen Unaufrichtigkeit der Anhänger rechtsradikaler Parteien bei Vorwahlumfragen meinen einige Politikwissenschaftler, daß die Jobbik leicht mehr erreichen könnte. Einige schließen nicht einmal aus, daß es auch 25 oder gar 30 Prozent werden könnten. Die vierte Partei, die grüne LMP (Lehet Más a ­Politika – »Politik kann anders sein«), die es vor vier Jahren mit sensationellen 7,5 Prozent ins Parlament geschafft hatte, kämpft nach einer Spaltung im vorigen Jahr nun um ihr Überleben.

Am auffälligsten in den letzten Wochen war, daß sich so gut wie kein nennenswerter Wahlkampf im klassischen Sinne abspielte. Es schaut ganz so aus, als hätten sich alle Parteien in das Unabänderliche gefügt. Von Programmen hörte man so gut wie nichts. Die von den Machthabern besetzten Medien posaunen ununterbrochen Regierungspropaganda heraus. Einem übermächtigen und mehr als selbstbewußten Fidesz stehen mehr oder weniger gelähmte kleinere Parteien gegenüber.

Nationalismus geschürt

Doch was gefällt eigentlich den Ungarn an Orbán? Da wären zunächst einmal verschiedene wahlstrategische Coups des Fidesz zu erwähnen. Schon im vorigen Jahr wurden beispielsweise die Gaspreise per Gesetz um zehn Prozent gesenkt, später dann auch die Strompreise. Der Schritt kostete den Staat nichts, weil diesen Preisnachlaß gänzlich der vollprivatisierte Energiesektor verdauen mußte. Gleichzeitig mußten dessen Firmen auf jeder Rechnung in einem knallroten Feld ausweisen, auf wieviel Forint Ersparnis der Verbraucher sich im jeweiligen Monat und projiziert auf das gesamte Jahr freuen kann – sie wurden also gezwungen, Regierungspropaganda zu betreiben. Vor einem Monat hat der Fidesz weitere Betriebskostensenkungen versprochen. Parallel dazu startete Orbán eine Befragung, um zu erkunden, ob die Bevölkerung damit einverstanden ist, niedrigere Gas- und Stromrechnung en zu bekommen. Der Populismus des Ministerpräsidenten kennt eben keine Grenzen.

Die größte »Stärke« des Regimes Orbán ist aber unzweifelhaft seine Fähigkeit, den Nationalismus zu schüren, Feindbilder zu schaffen und sich ihrer weidlich zu bedienen. Als Widersacher wird dabei die EU genau so gern gegeißelt wie von einer behaupteten »internationalen Judenverschwörung« schwadroniert wird. Es muß dabei festgehalten werden, daß von Orbán selbst praktisch kein antisemitischer Satz zu hören ist, umso mehr aber von seinen Parteifreunden: Anscheinend herrscht hier eine sehr wohl durchdachte widerliche »Arbeitsteilung« im Dienste der Wählerstimmenmaximierung. Diese Strategie des 50jährigen paart sich mit seinem ausgeprägten taktischen Gefühl. EU-Vertreter echauffieren sich seit vier Jahren über ihn, und es wurden auch unzählige Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Doch am Ende gewann irgendwie so gut wie immer Orbán – was natürlich auch über die EU Bände spricht. Jedenfalls nutzt er den ewigen Streit mit Brüssel immer wieder geschickt dazu, das nationale Bewußtsein und die Selbstachtung der Nation zu beschwören. Umfragen zufolge ist weltweit kaum eine Gesellschaft so pessimistisch eingestellt wie die ungarische. Die stark verbreitete Verunsicherung begünstigt die Affintät zu autoritären Führertypen. Aber obwohl beinahe die Hälfte der Wahlberechtigten angekündigt hat, ihre Stimme dem Fidesz zu geben, wollen gleichzeitig über 60 Prozent der Bevölkerung einen Regierungswechsel. Echte Alternativen sieht offensichtlich kaum jemand.

Wird der Begriff der parlamentarischen Demokratie eng gefaßt, so müssen die ungarischen Wahlen 2014 zur Nationalversammlung trotz allem als rechtsstaatlich bezeichnet werden. Denn schließlich werden sie nach den Vorschriften von Gesetzen ablaufen, die eine legitim gewählte Parlamentsmehrheit verabschiedet hat. Doch diese Abstimmung hat mit echter Demokratie und mit Fairneß nichts mehr zu tun. Deshalb hat zum Beispiel der bekannte ungarische Philosoph ­Miklós Gáspár Tamás in einem ausführlichen Zeitschriftenartikel empfohlen, diesmal nicht zu den Wahlurnen zu gehen. Eine Beteiligung würde nur die Macht Orbáns legitimieren.

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. April 2014


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