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Einfach nur noch weg

In Ungarn bilden sich staatsnahe Oligarchien, Korruption und eine reaktionäre Bildungspolitik heraus. Junge Menschen suchen ihr Glück im Ausland

Von Gábor Kerényi *

Eine schockierende Erhebung hat das ungarische Gesellschaftsforschungsinstitut TÁRKI über die Migrationsabsichten der ungarischen Bevölkerung veröffentlicht. Seit dem »Systemwechsel« von 1990 war die Zahl ungarischer Bürgerinnen und Bürger, die beabsichtigen, ihr Land zu verlassen, noch nie so hoch. Beliebteste Ziele sind Deutschland, Österreich und England.

Nach Angaben des renommierten und durchaus regierungsnahen Instituts hat die Hälfte aller ungarischen Jugendlichen zwischen 18 und 30 Jahren die Absicht, Ungarn den Rücken zu kehren. Ein Drittel der 31- bis 40jährigen möchte ebenfalls vor einer aussichtslosen Zukunft im Lande kurz- oder langfristig bzw. für immer ins Ausland flüchten. Das vielleicht verblüffendste Ergebnis der Erhebung besteht darin, daß 32 Prozent der Anhänger der ultranationalistischen rechtsradikalen Partei Jobbik ebenfalls an Emigration denken. Die Tendenz ist in allen Bevölkerungsgruppen stark steigend: In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Zahl derjenigen, die laut eigener Aussage emigrieren wollen, um die Hälfte erhöht. Das zeugt nicht nur von der dramatischen Verschlechterung des gesellschaftlichen Allgemeinbefindens, sondern auch von großer Hoffnungslosigkeit mit Blick auf die Zukunft. Jedenfalls haben in den vergangenen Jahren Hunderttausende, bei einer Bevölkerungszahl von knapp zehn Millionen Menschen, ihr Bündel in der Hoffnung geschnürt, im Ausland ein erträglicheres Leben zu finden. Diesbezügliche genauere Angaben liegen zwar von ungarischer Seite nicht vor, doch die EU-Mitgliedstaaten registrieren zur Zeit 200000 offiziell im Ausland lebende Ungarn; die Zahl der Unangemeldeten muß viel höher liegen. Dazu kommen noch Auswanderer in die klassischen Emigrationsziele wie die USA, Kanada, Australien usw. Die tagtäglichen Pendler in den Grenzregionen bilden eine weitere Gruppe. Allein aus Sopron, einer Stadt mit 60000 Einwohnern, fahren heute tagtäglich 7000 bis 8000 Menschen ins benachbarte Österreich zur Arbeit.

Das Erschreckendste ist die Tatsache, die Soziologen immer wieder betonen, daß nämlich in der Regel – so die ungarische Wochenzeitung Heti Világgazdaság (Wöchentliche Weltwirtschaft) – »die Besten, die Kreativsten, die Bestausgebildeten und die Jüngsten weggehen, und diese qualitative Erscheinung ist viel beängstigender als die bloßen Ziffern über jene, die weggehen«.

Fest in Oligarchenhand

Der seit der Fluchtwelle nach dem Aufstand von 1956 in Ungarn so nie mehr dagewesene Wille zum Verlassen des eigenen Landes hat natürlich viele Gründe. Viele der politischen Veränderungen der letzten Jahre erscheinen auch auf längere Sicht unumkehrbar. So wurde unter anderem der Rechtsstaat systematisch abgebaut, in allen wichtigen und weniger wichtigen Posten sitzen Parteileute und Vertraute des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, und zwar teilweise für Jahrzehnte bis lebenslang verfassungsmäßig einbetoniert. Die Arbeitslosigkeit steigt, und die Politik ist sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf wirtschaftlicher Ebene völlig unberechenbar geworden. Die Atmosphäre im Land erscheint vielen hoffnungslos, ja vergiftet. Eine wie auch immer geartete Zukunftsvision geht vielen Menschen schlicht ab.

Das einzige, was im Lande blüht, ist die staatliche Korruption. Der Ausbau einer regierungsnahen Oligarchie ist längst Tatsache. In Ungarn sind seit Orbáns Machtübernahme bei fast allen staatlichen Ausschreibungen und Bewerbungen um EU-Fördergelder zwei regierungsnahe Konglomerate erfolgreich, die sich im Eigentum von Lajos Simicska und Zsolt Nyerges befinden. Simicska war einst im Studentenwohnheim Zimmerkollege von Orbán, später wurde er Wirtschaftsdirektor der heutigen Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund), und während der ersten Orbán-Regierung (1998–2002) ernannte ihn Orban zum Präsidenten der ungarischen Steuerbehörde. Zu diesem Zeitpunkt klebten schon einige äußerst dunkle Parteigeschäfte an seinem Namen: Mehrere Dutzend Fidesz-Firmen waren auf den Namen zweier Gastarbeiter umgeschrieben worden, die später unauffindbar waren, und damit war es unmöglich geworden, die enormen Schulden dieser Firmen einzutreiben. Die Affäre hatte keine Konsequenzen. Als Präsident der Steuerbehörde ließ Simicska am ersten Wochenende seiner Amtszeit die Zentrale der Behörde sperren, kein Mitarbeiter durfte hinein, und von Freitag abend bis Montag früh manipulierten seine Fachleute das Computersystem des ungarischen Finanzwesens.

Der andere Wirtschaftsbegünstigte des heutigen ungarischen Regimes, Zsolt Nyegers, ist erstens Vertrauter und Geschäftspartner von Simicska, zweitens ist sein Bruder Attila Nyerges »Oberberater für politische Angelegenheiten« der Orbán-Regierung, und zwar in Sachen Wirtschaft, und drittens ist sein bester Freund der Lebensgefährte der Schwester von Orbáns Frau. Fakt ist, wie im Vorjahr der Sprecher der kleinen grünen Parlamentspartei LMP (Eine andere Politik ist möglich) Gergely Karácsony berichtete, daß heute in allen Entscheidungsstellen für die Vergabe von öffentlichen Geldern ausnahmslos ehemalige Mitarbeiter von Simicska und Nyerges sitzen. Ungarn ist fest in der Hand einer Oligarichie, wie sie auch in so manchen großen östlichen Nachbarländern des Donaustaates zu finden ist.

Am anderen Ende der Gesellschaft stehen unter anderem die Arbeitslosen. Ungeachtet politischer Statistikkosmetik ist die Arbeitslosenquote auf über elf Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit gar auf 30. Daß der Wert nicht noch viel höher ist, liegt unter anderem daran, daß sich hinter der im europäischen Vergleich extrem niedrigen Erwerbsquote eine Menge nicht gemeldeter Arbeitslosigkeit versteckt. Warum auch sollte man sich arbeitslos melden? Die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde ohne Federlesen von neun auf ganze drei Monate reduziert. Die meisten Bezieher müssen sich der Arbeitslosenzwangsarbeit unterwerfen, die im vorigen Jahr mit einem Monatslohn von etwa 125 Euro eingeführt wurde. Im Rahmen dieser »gemeinnützigen Arbeit« werden manche zur Mitarbeit beim Bau von Privathäusern der herrschenden Politiker gezwungen.

Vielen, die noch einen Arbeitsplatz haben, scheint eine Lebensplanung nicht einmal mehr für ein oder zwei Jahre möglich, so unsicher sind die wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Verhältnisse geworden. Die ohnehin sehr niedrigen Reallöhne sinken für weite Teile der Bevölkerung ständig. Die Inflation ist die vierthöchste in der EU, nur in Bulgarien, Rumänien und Lettland liegt sie noch höher. Das Leben ist für viele unbezahlbar geworden. Die Energiepreise beispielsweise sind laut dem europäischen Statistik­amt Eurostat, gemessen an der Kaufkraft der Bevölkerung, die zweithöchsten in der Union. EU-Erhebungen zufolge sehen die Ungarn in absehbarer Zeit ihre Zukunft unter allen Mensch in der Union am düstersten.

Bildungspolitik wie vor 80 Jahren

Die statistisch weitaus größte Gruppe der Auswanderungswilligen bilden die Jugendlichen. Viele Gymnasiasten geben schon in ihren letzten beiden Gymnasialjahren klar und deutlich an, wohin in der weiten Welt sie – entweder als Hochschulstudenten oder als Arbeitskräfte – nach ihrem Abitur wollen. Dávid Nagy, Vorsitzender der Konferenz der Studentenselbstverwaltungen HÖOK, begründet dieses Phänomen unter anderem so: »Für die Jugendlichen gibt es in Ungarn keine Perspektive, die Situation ist völlig aussichtslos, es gibt keine sicheren Bezugspunkte, nur Versprechungen gibt es, aber diese sind leer, und so gut wie keine von ihnen erfüllt sich.«

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Aussichtslosigkeit am Arbeitsmarkt sind aber nicht die alleinigen Beweggründe zur Emigration. Bei ihrer Entscheidung, in das Ausland übersiedeln zu wollen, spielt unter Jugendlichen ein Extrafaktor eine Rolle: Die durch und durch ideologisierten Horrorreformen der Hochschul- und Allgemeinbildung, die 2012 in Kraft getreten sind und im laufenden Jahr erheblich verschärft werden. Hinter diesen Reformen steht Rózsa Hoffmann, Staatssekretärin der erzkonservativen Christdemokratischen Volkspartei (KDNP), der Satellitenpartei des alleinherrschenden Fidesz.

Als Vorbild nahm sich Hoffmann die Bildungspolitik des ungarischen Ständestaates in den 1920 und 1930er Jahren, angepaßt an die heutige neoliberale Zeit. Den zentralistischen und ideologischen Bestrebungen der ständestaatlichen Epoche fühlt sich die heutige klerikal-nationalistische Regierung eng verbunden. Die schulische und universitäre Autonomie wurden so gut wie abgeschafft. Alle von der öffentlichen Hand finanzierten Schulen werden in diesem Jahr unter engmaschige staatliche Aufsicht gestellt bzw. konkret der Führung eines neu eingerichteten Zentralamtes unterstellt. Die Rektoren der nicht privaten Universitäten müssen mit einem vom Ministerium zugewiesenen Wirtschaftsinspektor zusammenarbeiten und im Falle von Meinungsverschiedenheiten dessen Weisungen folgen. Die Ernennung von Schul- und Gymnasialdirektoren gehört ab sofort zum Wirkungsbereich des Ministeriums. Die 1985, also zu staatsozialistischen Zeiten, abgeschaffte Schulinspektion, eine Art staatliche Kontrolle der Lehrkräfte, wurde wieder eingeführt.

Der genaue Aufgabenbereich und ihre Rechtsstellung sind bezeichnenderweise – wie in fast allen Gesetzen unter dem Fidesz-Bürgerbund, der seit seinem Regierungsantritt Rechte ausschließlich dem Staat und nicht den Bürgern zuspricht – nicht genauer definiert. Eine neu eingeführte polizeiliche Maßnahme macht das Bild des neuen schulischen Konzepts der konservativen Regierung noch bunter: Seit dem vergangenen Herbst dürfen Polizisten Schüler, die während der Unterrichtszeit auf der Straße aufgegriffen werden, anhalten und dem Schuldirektor vorführen. Die Verwendung von Fesseln betrachtet der Gesetzgeber, nachdem es in der Bevölkerung zu einer gewissen Aufregung gekommen war, nun zwar nicht mehr für notwendig, ausdrücklich verboten ist sie aber nach wie vor nicht.

Der Nationale Zentrallehrplan

Es wurde auch ein zentraler Lehrplan ausgearbeitet, der den Lehrkräften nahezu Stunde für Stunde vorschreibt, was sie zu unterrichten haben. Jede individuelle Förderung wird damit unmöglich. Nachdem die Orbán-Regierung schon 2011 die verpflichtende Schulbesuchsdauer von zwölf auf zehn Jahre gesenkt hatte, wurde nun der neue Nationale Grundlehrplan mit so viel überflüssigem Lehrstoff vollgestopft, daß die praktizierenden Pädagogen davon ausgehen, daß sie nur einen Bruchteil davon tatsächlich vermitteln können. Die vorgeschriebenen anzueignenden Kenntnisse seien, so ein Gutachten der größten ungarischen Universität ELTE, zum Teil völlig abstrakt und »übersteigen bei weitem das Niveau der durchschnittlichen Gymnasiasten«. In den Augen des Präsidenten der Vereinigung der Ungarischlehrer László Arató »bleibt keine Zeit für die Entwicklung der Fähigkeiten der Schüler, nur für Frontalunterricht«. Am schärfsten kritisierte den neuen Zentrallehrplan die Ungarische Akademie der Wissenschaften, obwohl sie unter der Leitung von József Pálinkás, einem Vertrauten Orbáns, steht. Der Plan sei dem wissenschaftlichen Denken völlig fremd. »Wir brauchen einen realen Rahmen für die einzelnen Fächer, innerhalb dessen dann tatsächlich lehrbare Lehrstoffe« vermittelt werden können.

Fachliche Inkompetenz paart sich im Zentrallehrplan mit der höchsten Wertschätzung ideologischer Erziehung. Die ungarischen Schüler werden ab Herbst 2013 mehr Zeit mit dem nun verpflichtend eingeführten Ethikunterricht verbringen als mit Biologie oder Geographie. In Folge der ideologischen Umgestaltung des Unterrichtswesens wurden Fremdsprachen und Informatik in den ersten vier Jahren der Grundschule gänzlich abgeschafft, und in den Gymnasien wird es nun 60 bis 80 Prozent weniger Informatikunterricht geben als bisher. Der ideologische Wahn zeigt sich prächtig im vorgeschriebenen Geschichtslehrplan. Hier wird die erzkonservativ-feudale Horthy-Ära der Zwischenkriegszeit idealisiert, während Freiheitsrechte und soziale Fragen so gut wie gar nicht erwähnt werden. Das allgemeine Wahlrecht wird ein einziges Mal behandelt und dabei ist zu betonen, daß die Wahlrechtserweiterung in vielen Ländern »die Stärkung der sozialen Demagogie« und dadurch »die Machtergreifung extremistischer Elemente« nach sich zog.

Und natürlich läßt es sich der Zentrallehrplan nicht nehmen, sein vollkommen realitätsfremdes Gesamtkonzept für die Erziehung ausgiebig zu definieren. Die jungen Menschen müssen zu »verantwortungsvollen Bürger des Vaterlandes« mit einer ausgeprägten »Gefühlswelt zum Patriotismus« erzogen werden. Sie sollen über eine »feste moralische Urteilskraft« verfügen, ihren festen Platz in der Familie, der Gesellschaft und der Welt der Arbeit finden, nach »inhaltsvollen und dauerhaften Beziehungen« streben und so weiter …

Welche Schulbücher zum Unterricht verwendet werden dürfen, kann von nun an ebenfalls der Staat vorschreiben. Falls der Minister in einem Fach für einen Jahrgang ein Lehrbuch für den Unterricht ausgewählt hat, dürfen die Schulen nur dieses eine bestellen, auch wenn am Markt noch weitere existieren. Schlußendlich soll auch noch eine verpflichtende »Gemeinschaftsarbeit« eingeführt werden. Wenn es diese erst einmal gibt, dann wird das Abitur nur jenen Schülern zuerkannt, die mindestens 50 Stunde »freiwillige« Arbeit nachweisen können – die alten Stalin-Zeiten lassen grüßen.

Aber es gibt auch Erleichterungen: Ganz im Sinne eines verblödeten Nationalismus sind die ungarischen Jugendlichen ab sofort nicht mehr verpflichtet, mindestens zwei Fremdsprachen zu lernen, es genügt nun auch eine einzige. Und dies geschieht in jenem europäischen Land, in dem nach allen Erhebungen die Menschen die wenigsten Fremdsprachen beherrschen. Laut Eurobarometer können sich zwei Drittel der Ungarn nicht einmal in einer einzigen Fremdsprache irgendwie ausdrücken, geschweige denn, diese einigermaßen sprechen. Und die Tendenz ist noch erschreckender: Die Zahl derer, die sich wenigstens eine einzige Fremdsprache angeeignet haben, sank unter den – massenweise ins Ausland strebenden – Ungarn seit 2005 um sieben Prozent, die Zahl derer, die zwei Fremdsprachen sprechen sogar mit 14 Prozent. Für zweisprachige Schulen, die von ausländischen Staaten oder Organisationen erhalten werden, ist ab sofort vorgeschrieben, daß bestimmte Fächer nur mehr auf Ungarisch unterrichtet werden dürfen, so z.B. Geschichte. Die Begründung überrascht kaum mehr: Eine »patriotische Erziehung« könne in diesem und anderen Fächern in einer Fremdsprache nicht erzielt werden.

Selbstfinanzierung und Verhöre

Die Hochschulreform ist nicht minder dramatisch. Nachdem sie in der Schule nationalistisch gedrillt wurden, sollen sich die jungen Menschen in der Hochschule den Marktgesetzen unterwerfen. Als Oppositionspolitiker hatte Orbán noch die Absicht seines Vorgänger Ferenc Gyurcsány, der für die Ungarische Sozialistische Partei (MSzP) regierte, eine Light-Variante der Studiengebühren von zirka 100 bis 150 Euro pro Semester einzuführen, mit äußerst scharfen Worten kritisiert: »Wenn es seinerzeit schon Studiengebühren gegeben hätte, dann würde ich heute nicht hier stehen. (…) Wir sollen Klartext reden: Die Studiengebühr sperrt unsereinen aus den Universitäten aus.« Zwei Jahre später vertrat Orbán als Ministerpräsident die diametral entgegengesetzte Auffassung. Nun verkündete er, daß die Hochschulen in »selbsterhaltende« Betriebe umzuwandeln seien. Der erste Schritt war die Einführung von Studiengebühren im vorigen Jahr, mit Hilfe derer einerseits die Studierenden in die richtigen Studienzweige gelenkt und andererseits die einzelnen Studienzweige nach ihrem Marktwert eingestuft werden.

Jura und Wirtschaft kann man fast ausschließlich nur noch gegen Bezahlung einer kostendeckenden Studiengebühr studieren, und das kostenlose Studium wurde auch für andere Fächer mehr oder weniger beschränkt. Nun soll das neue System weiter ausgebaut werden. Laut neuesten Nachrichten soll es im ganzen Land nur 10000 kostenlose Studienplätze für Studienanfänger geben, bei einer Gesamthörerzahl von rund 360000. Für 16 Fächer wird es ab Herbst keinen einzigen staatlich finanzierten Studienplatz für Studienanfänger geben.

Noch dazu sind bei den komplett kostendeckend selbst zu finanzierenden Studienplätzen für ungarische Verhältnisse Unsummen zu bezahlen: Ein Semester kann je nach Fach zwischen 250 bis mehrere tausend Euro pro Semester Kosten, und das bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 470 Euro. Auf Kunstuniversitäten wird die Gebühr horrende Höhen erreichen: Laut der offiziellen »Informationsliste« muß ein Instrumentalist auf der Budapester Franz-Liszt-Musikuniversität etwa 2750 Euro pro Semester bezahlen, also das Halbjahreseinkommen eines Durchschnittslohnbeziehers.

Dabei zeigen OECD-Statistiken für Ungarn schon jetzt eine starke Verschiebung der Hochschulbesuchsquoten zugunsten der Wohlhabenden: Nur 17 Prozent der Studierenden kommen aus Familien mit niedrigen Einkommen, obwohl diese Familien die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Die soziale Polarisierung in der Hochschulbildung wird sich nun weiter dramatisch verschärfen. Kinder aus den unteren Sozialschichten werden kaum eine Studienchancen haben, gewisse Fächer sind ihnen so gut wie verschlossen. Dabei hat auch jetzt nur ein jämmerliches Fünftel der ungarischen Bevölkerung einen Hochschulabschluß, und dieser Anteil wird nun weiter sinken.

Seit Dezember kommt es in Ungarn immer wieder zu Studentendemonstrationen. Die Regierung faßt unterdessen alle nicht ihrer Linie entsprechenden Diskussionsbeiträge als »politische Attacke« auf. Es ist so weit gekommen, daß »auf Wunsch« der Schulaufsichtsbehörden Protokolle über die Ansichten der Gymnasialschüler verfertigt wurden. Schüler wurden einzeln ins Direktorenbüro gerufen und dort darüber ausgefragt, ob sie untereinander über Streik oder die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze gesprochen haben, ob diese Fragen auch Thema im Gespräch mit Lehrkräften gewesen seien, und wenn ja, welche Meinungen diese vertreten hätten. Die Protokolle wurden den Behörden ausgehändigt.

In welcher Situation sich ein Jugendlicher befindet, der im vergangenen Jahr sein Abitur abgelegt hat, beschreibt der Universitätsstudent Máté Matusz in der ungarischen Ausgabe von Le Monde diplomatique folgendermaßen: »Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor dem Abitur in einem Gymnasium. Nun wird diesem Gymnasiasten einige Wochen vor der Aufnahmeprüfung für die Universität mitgeteilt, daß in seinem Fach 95 Prozent der staatlich finanzierten Studienplätze gestrichen wurden. Das erfährt er ein oder zwei Monate vor dem Abitur, obwohl er sich schon seit Jahren auf diese Aufnahmeprüfung vorbereitet und sein Gymnasium mit Blick auf dieses ­Studium ausgesucht hatte, damit er mit größerer Wahrscheinlichkeit seine Traumausbildung beginnen kann. Nun kommt eine Phase der Neuplanung. Entweder gibt er seine diesbezüglichen Träume auf und wählt ein anderes Studienfach oder er nimmt Kredite auf oder geht ins Ausland. Oder er unterschreibt ein Formular, mit dem er sich dazu verpflichtet, nach dem Uniabschluß jahrzehntelang nicht ins Ausland zu gehen, sondern in Ungarn zu arbeiten. Im Gegenzug bekommt er dafür doch einen staatlich unterstützten Studienplatz an einer ungarischen Uni. Unter diesen Umständen sehen viele ein ­Auslandsstudium als die einzige zukunftsträchtige Alternative und reichen, obwohl sie eigentlich in Ungarn leben möchten, ihre Bewerbungen zur Aufnahme bei ausländischen Hochschulen ein. Er wird aufgenommen, und nun bekommt er, wie jeder Abiturient, einen Brief von Rózsa Hoffmann, in welchem der folgende Satz steht: Dieser Brief ›soll Euch zur Treue zum Vaterland ermutigen, auch dann, wenn es nicht leicht ist, hier zu leben, und die Versuchung groß ist, dieses wegen materieller Güter und einer unbehinderten Karriere zu verlassen!‹ Ich stelle die Frage: Wie würden Sie sich an der Stelle unseres Protagonisten fühlen, nachdem sie diesen Satz gelesen haben?«

* Aus: junge Welt, Dienstag, 12. Februar 2013


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