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Vom Frühling direkt in den Winter?

Auch Europas Kulturhauptstadt Pécs ist im Sog des ungarischen Rechtsrucks

Von Michael Müller, Pécs *

Am kommenden Sonntag (25. April) findet in Ungarn die zweite Runde der Parlamentswahlen statt. Der rigide Rechtsruck, der sich bereits am 11. April vollzogen hat, ist nicht rückgängig zu machen. Vieles läuft darauf hinaus, dass der Bund Junger Demokraten (FIDESZ) sogar noch auf die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit kommt. Die Ungarische Sozialistische Partei (USP) wird die große Wahlverliererin bleiben. Und die rechtspopulistische, nationalistische Jobbik-Partei die Start-up-Wahlgewinnerin. Was aber wird in den Monaten und Jahren danach kommen?

Pécs präsentiert sich dieser Tage schon voll im Frühling und dazu voller Leben. Die mit 150 000 Einwohnern größte südungarische Kommune ist neben Istanbul und Essen europäische Kulturhauptstadt 2010. Von 365 Veranstaltungen mit weit über 2000 Programmpunkten schwärmt Marketingdirektorin Zsuzsanna Hegyi. Csaba Ruzsa, der als Direktor die wirtschaftlichen Geschicke lenkt, ergänzt erfolgssicher: »Wir machen hier nicht nur Kultur, sondern schieben die Zukunft einer Stadt und einer ganzen Region an.«

Von 140 Millionen Euro Investitionskosten ist die Rede, von 60 Millionen für die zu 80 Prozent eintrittsfreien Aufführungen, Ausstellungen, Animationen. »Wir wollen Impulse für die ganze Kulturzone Süd setzen«, sagt Ruzsa. Und diese Zone skizziert er von Maribor in Ostslowenien über Osijek in Nordkroatien bis nach Arad in Westrumänien. Gemäß dem Kulturhauptstadtmotto: »Pécs, die grenzenlose Stadt.« Offen für eigenes wie anderes Denken, Handeln, Fühlen, für die jeweilige Herkunft, Sprache, Geschichte.

Parlamentswahl hin, zweite Runde her - beide gehen im bunten kulturellen Treiben und emsigen Bauen in der Stadtöffentlichkeit fast unter. In der vergangenen Woche beispielsweise gab es den Bela-Bartok-Workshop, das Landestreffen der Roma-Autoren, die Mosaikenausstellung aus Ravenna begann. Hunderte Kinder kamen zu einem interaktiven Spielefestival, und zwei benachbarte Staatspräsidenten, und zwar in trauter Eintracht, kamen aus Kroatien und Serbien, um mit ihrem ungarischen Kollegen den neu gestalteten Szécheny ter, den Hauptplatz von Pécs, einzuweihen. So gehe das, versichert Marketingdirektorin Hegyi, weiter bis zum Jahresende und, so die Gelder weiter flössen, darüber hinaus. Eigentlich alles ganz normal

Doch Pécs fällt derzeit nicht nur bewundernswert aus dem ungarischen Rahmen, es ist irgendwie auch ganz normal. Wie überall im Land hat es nämlich bei den Parlamentswahlen diesen Rechtsruck gegeben. Auch in dieser Kommune mit ihren im Landesdurchschnitt erheblich weniger Arbeitslosen, ihrer prosperierenden Universität, ihren neun ethnischen Selbstverwaltungen verdrängte die rechte FIDESZ-Partei die Sozialisten (erstmals seit 1990!) von Platz eins, wurden selbst die nationalistischen Populisten der Jobbik-Partei auf Anhieb zweistellig.

Was braut sich da im schönen Frühling zusammen?

Die Jobbik-Plakate mit ihrem chauvinistischen »Ungarn den Ungarn« und dem aggressiven »Radikaler Umsturz« könnte vielleicht noch als schlichter Wahlradau abgetan werden. Doch da stößt man in der sehr zentral gelegenen Ferencesek utcája auf eine suspekte Schaufensterdekoration: Aufnäher mit dem legendären »T« und der drohenden Mahnung »Nie wieder!«, was an die territoriale Verkleinerung Ungarns als Kriegsverlierer durch den Vertrag von Trianon im Jahr 1920 erinnert. Passend dazu auf einem T-Shirt eben das verblichene Großungarn in den Grenzen von 1867, also mit der heutigen Slowakei und einem Großteil Kroatiens, der serbischen Vojvodina und einem Großteil des heutigen Rumäniens. Miklós, wie sich der junge Verkäufer in Rockerkluft vorstellt, hält das für Kult und unpolitisch. »Damit wollen doch die jungen Leute das Establishment nur ein wenig provozieren«, meint er. Räumt allerdings auch ein, dass für selbiges das »T«-Symbol und die Großungarnkarte weit weniger schockierend sei als der Rest seines martialischen Angebots.

»Solche Läden mag es auch anderswo in Europa geben«, meint Dr. Anna Bodacz, die politische Bildung an der Uni Pécs lehrt. »Doch dort wie hier bei uns erwächst daraus kaum rechtspopulistisches Wählerverhalten. Dort wie hier bei uns kommt das aus der Mitte der Gesellschaft«, ist sie sicher. Und auch an eben diese Mitte wendet sich beispielsweise der designierte FIDESZ-Premier Viktor Orbán (also nicht etwa Jobbik-Chef Gábor Vona!), wenn er öffentlich fabuliert: »Statt eines dualen Kraftfeldes, das durch dauernde Wertedebatten die Gesellschaft teilende, kleinliche Folgen generiert, kommt durch uns eine dauerhafte, große Regierungspartei zustande. Ein zentrales Kraftfeld, das fähig ist, sich der nationalen Sache anzunehmen.« Der Budapester Schriftsteller Rudolf Ungváry schrieb kürzlich, dass solches Gedankengut »die 1945 eingefrorenen nationalistischen und autoritären Einstellungen resozialisiert«.

Besagte gesellschaftliche Mitte war in Pécs bisher wahlstatistisch sozialistisch, also links. Doch auch hier nun die Wende nach rechts. Ja, mehr noch. Gerade in Pécs hatte sie sich exemplarisch fürs Land bereits vor einem Jahr abgezeichnet. Im Mai 2009 bei den vorgezogene Wahlen fürs Bürgermeisteramt, das seit 1990 in den Händen der Sozialisten gelegen hatte. Der frische FIDESZ-Kandidat Zsolt Pava hatte auf Anhieb fast doppelt so viele Stimmen wie seine prominente sozialistische USP-Rivalin Katalin Szili erhalten, die immerhin auch ungarische Parlamentspräsidentin war.

Solche Sozialisten sind überflüssig

Die Sozialisten sind (auch) in Ungarn nicht Teil des Problems, sondern das Problem selbst. Einerseits seit Jahren neoliberal gewendet, andererseits staatszentral verschlampert. Mitte 2008 drohte der Staatsbankrott. Fünf Milliarden Euro mussten bei der Europäischen Zentralbank als Kredit aufgenommen werden, einen 20 Milliarden-Dollar-Kreditrahmen bewilligte der IWF. Dem sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsany entzog das Parlament Ende März 2009 das Vertrauen, und seine Partei ersetzte ihn durch den Manager Gordon Bajnai. Der war zwar parteilos, doch quasi im Namen der USP erhöhte er das Rentenalter und die Mehrwertsteuer, senkte Elternzeit und Sozialausgaben um umgerechnet 1,6 Milliarden Euro. »Politik ist die Wahl zwischen Schmerzlichem und Unerträglichem«, referierte er gern, »und wir müssen uns für Schmerzen entscheiden, um das Unerträgliche zu vermeiden.«

Diese flotten Parolen in seiner nur einjährigen Amtszeit gaben der USP den Rest. »Wozu sollen wir solche Sozialisten, die den Namen nicht verdienen, weiter wählen«, zitiert die Zeitung »Magyar Nemzet« in der vergangenen Woche einen arbeitslosen Technologen aus dem nordostungarischen Ózd. Die meisten der dort vor 1990 rund 50 000 Einwohner verdienten ihr Geld in der Schwerindustrie. Die wurde hernach von neuen, ausländischen Eigentümern bis fast zur Unauffindbarkeit wegrationalisiert. Hier oder auch in der nahen Stadt Kazincbarcika mit der gleichen Wende-Erblast hat die Jobbik-Partei bei den Wahlen sogar die Chance, die rechte FIDESZ noch rechts zu überholen.

So weit ist es in Pécs noch nicht. Hier ist dieser Tage noch Perspektive sicht- und greifbar. Hier gilt noch »grenzenlose Stadt« statt mystischer Fiktionen des ehemaligen Bürgerrechtlers und künftigen Premiers Viktor Orbán über mythisches ungarisches Volkswesen. Heute trennen also das südwestliche Pécs vom nordöstlichen Ózd fast noch Welten. Doch was, wenn in Pécs ab 2011 der Kulturhauptstadtgeldhahn stetig zugedreht wird?

* Aus: Neues Deutschland, 21. April 2010


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