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Sozialdemokraten chancenlos

Ungarn: Einzug der Neofaschisten ins Parlament erwartet. Weiterer Sozialabbau nach der Wahl absehbar

Von Stefan Inführ *

Zwei Monate vor den Parlamentswahlen in Ungarn (11. und 25. April) sagen alle Umfragen einen politischen Machtwechsel im Land der Magyaren voraus.Vermutlich werden nur drei Parteien den Einzug ins Parlament schaffen: Die konservative FIDESZ, die bisher die Mehrheit haltende sozialdemokratische MSzP sowie die rechtsextreme Jobbik-Partei. Ein Wiedereinzug der Liberalen gilt als unwahrscheinlich, ebenso, daß die Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei die Fünf-Prozent-Hürde schafft.

Viktor Orban, Kandidat der konservativ-christdemokratischen FIDESZ, gilt als klarer Favorit. 58 Prozent der entschlossenen Wähler wollen ihre Stimme den Konservativen geben, während die MSzP mit knapp 22 Prozent klar abgeschlagen liegt. Jeder Zehnte bekennt sich offen zu Jobbik, was aber unter deren tatsächlichem Potential liegen dürften. Die Neofaschisten erhielt bei den EU-Parlamentswahlen letztes Jahr 14,8 Prozent der Stimmen. Mit 430000 Wählern kamen sie fast an die MSzP heran und haben seither drei Abgeordnete in Strasbourg. Eine aktuelle Studie spricht davon, daß 21 Prozent der Ungarn offen für rechtsextreme Werte seien.

Das wichtigste Feindbild der Jobbik sind die rund 600000 Roma Ungarns. Durch gezielte Schürung einer Stimmung gegen die angebliche »Zigeunerkriminalität« konnten die Neofaschisten breite Teile der Bevölkerung gewinnen. Ein anderes Betätigungsfeld Jobbiks ist der Kampf gegen die Reste des sozialistischen Erbes. Vehement forderte Vizechef Elod Novak auf einer Pressekonferenz letzten Donnerstag den Abriß des einzig verbleibenden sowjetischen Kriegsdenkmals in der Hauptstadt Budapest. Jobbik kann sich dabei auf die bürgerliche Gesetzeslage berufen, die jegliche Symbole des »Autoritarismus« verbietet. Zeichen der Arbeiterbewegung sind somit dem Hakenkreuz gleichgestellt. Der einzige Grund, weshalb das Denkmal noch an seinem Platz steht, ist die Tatsache, daß Soldaten unterhalb der Gedenkstätte begraben sind.

Derzeit gelten noch 40 Prozent der Wahlberechtigten als unentschlossen, die meisten davon sind ehemalige Unterstützer der Sozialdemokraten. Die drastischen Sparmaßnahmen der im April 2009 durch die Sozialdemokraten eingesetzten »Expertenregierung« unter Gordon Bajani hatten schon die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni zum Debakel für die MSzP werden lassen. Unter dem Motto »Es wird wehtun« hatte Premier Bajnai in den letzten Monaten empfindliche Streichungen sozialer Leistungen angeordnet: Pensionisten und Staatsbediensteten wurde das 13. Monatsgehalt bzw. die 13. Rentenzahlung gestrichen, die Ausgaben für Gesundheit eingefroren. Gleichzeitig wurden die Einkommenssteuersätze für Besserverdienende gesenkt. Das führte zwar zu überschwenglichem Lob des Internationalen Währungsfonds IWF, vergraulte aber scharenweise die so­zialdemokratischen Wähler.

Ankündigungen von konkreten Kürzungen für eine mögliche Regierungszeit hat der konservative Kandidat Orban bisher bewußt vermieden. Dabei gelten diese als ausgemacht. 2009 war Ungarn das einzige osteuropäische Land, das die Maastricht-Kritierien hinsichtlich der Gesamtverschuldung nicht erfüllte. Und trotz der vergleichsweise geringen Steuerquote haben viele internationale Konzerne die Streichung Tausender Arbeitsplätze in Ungarn angekündigt, womit die Steuereinnahmen weiter sinken dürften.

Bisher wies FIDESZ-Chef Orban Gerüchte über eine mögliche parlamentarische Zusammenarbeit mit den Neofaschisten zurück – schloß aber ebenfalls eine Kooperation mit den Sozialdemoraten aus. Aus derzeitigem Stand scheint es jedoch unwahrscheinlich, daß Orban sein erklärtes Ziel von zwei Dritteln der Parlamentssitze erreichen kann. Damit wird FIDESZ für Änderungen von Gesetzen im Verfassungsrang wahrscheinlich zur Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten oder Neofaschisten gezwungen sein. Eine zumindest zeitweilige Einbindung der Rechtsradikalen in den Gesetzgebungsprozeß erscheint somit als ernsthafte Gefahr.

* junge Welt, 13. Februar 2010


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