Richter entmachtet
Ungarische Regierung peitscht undemokratische Verfassungsänderungen durchs Parlament. Zur Zerschlagung der Proteste plant Fidesz eigene "Parteigarde"
Von Tomasz Konicz *
Nach Ansicht von Gábor Kubatov, dem Generalsekretär der Rechtspartei Fidesz, gibt es in Ungarn immer noch viel zu wenige paramilitärische Formationen. Fidesz müsse die Gründung einer eigenen »Parteigarde« in Angriff nehmen, erklärte Kubatov in einem Rundschreiben an Parteimitglieder. Diese aus Freiwilligen bestehende Formation solle mit der Sicherung von Parteigebäuden und dem Schutz von Parteiveranstaltungen betraut werden, so der Regierungspolitiker.
Mit dieser Initiative zur Gründung einer eigenen »Garde«, die das unüberschaubare Milieu rechter ungarischer Schlägertruppen und Milizen bereichern würde, reagiert Fidesz auf die jüngste Protestwelle in Ungarn. Am vergangenen Donnerstag hatten jugendliche Demonstranten einen friedlichen Sitzstreik vor der Fidesz-Parteizentrale in Budapest durchgeführt, um gegen die von der Regierung von Premier Viktor Orban forcierte Aushöhlung der Gewaltenteilung zu protestieren.
Die von regierungsnahen Medien als »Angriff« bezeichnete Sitzblockade war Teil der Proteste gegen abermalige Verfassungsänderungen, die nach Ansicht von Kritikern zur Entmachtung des ungarischen Verfassungsgerichts führen dürften. Künftig dürfen die Verfassungsrichter beschlossene Gesetze nur noch auf formelle Fehler überprüfen, deren konkreten Inhalt aber nicht mehr bewerten. Überdies soll die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur noch auf Grundlage der 2011 von Fidesz verabschiedeten neuen Verfassung erfolgen, die Berufung auf frühere Urteile des Verfassungsgerichts wird so unmöglich. Schließlich wird dem von der Fidesz ernannten »Präsidenten der Nationalen Gerichtskammer« das Recht eingeräumt, bestimmte Streitfälle nach eigenem Gutdünken an andere Gerichte zu transferieren. Dank ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im ungarischen Parlament konnte Fidesz die Änderungen am Montag problemlos verabschieden.
Die Verfassungsrichter hatten sich mit abermaligen Vetos gegen undemokratische Gesetzesvorhaben den Zorn der Regierung Orban zugezogen, die nun die Gelegenheit nutzte, etliche der höchstrichterlich als verfassungswidrig eingestuften Gesetze in den Rang von Verfassungsartikeln zu erheben. Unter anderem bleibt künftig Wahlwerbung in privaten Medien verboten, Obdachlose werden sich weiterhin nicht auf »öffentlichen Flächen« aufhalten dürfen, und die Meinungsfreiheit wird suspendiert werden, sobald die Regierung die »Würde der ungarischen Nation« verletzt sieht.
Parallel zu dieser fortgesetzten Aushöhlung demokratischer Mindeststandards setzt Fidesz vermehrt auf die nationale Karte, indem Konflikte um die ungarischen Auslandsminderheiten bewußt hochgekocht werden: Fidelitas, die Jungendorganisation der Fidesz, organisierte am 7. März eine Demonstration von dem Büro von Amnesty International in Budapest, um gegen die angebliche Diskriminierung von Ungarn in Serbien zu protestieren, die nach Ansicht der Demonstranten von der renommierten Menschenrechtsorganisation nicht wahrgenommen werde. Am 9. März erklärte Staatssekretär Zsolt Nemeth, Budapest werde die »Autonomiebestrebungen« der ungarischen Minderheit der Szekler in Rumänien unterstützen. Etliche regierungsnahe und rechtsextreme Gruppierungen organisierten am vergangenen Wochenende anläßlich des »Tages der Freiheit der Szekler« nationalistische und antirumänische Demonstrationen.
Die »westliche Wertegemeinschaft« hat bislang auf diesen Dammbruch autoritärer und chauvinistischer Tendenzen in Ungarn mit leeren Ermahnungen reagiert. EU-Komissionspräsident zeige sich »besorgt« und forderte Orban bei einem Telefongespräch auf, »in Übereinstimmung mit den demokratischen Prinzipien der EU« zu handeln. Laut dem US-amerikanischen State Department hätten die Verfassungsänderungen »größere Sorgfalt« verdient. Bezeichnend ist auch die Reaktion der Bundesregierung, die eine lauwarme Kritik des Verfassungsputsches in Budapest vom Außenministerium publizieren ließ, während Angela Merkel bei einem Treffen mittelosteuropäischer Regierungschefs in Warschau am 6. März dieses Thema aussparte. Bislang beteuerte Merkel, sie hege »keine Zweifel« daran, daß sich Ungarn auf einem demokratischen Weg befinde.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 12. März 2013
Orbán schleift Gewaltenteilung
Breites Bündnis gegen radikal autoritäre Verfassungsänderung in Ungarn
Von Silviu Mihai, Budapest **
Während Ungarns Präsident János Áder am Montag in Berlin zum Staatsbesuch eintraf, beschloss das Parlament in Budapest am Abend eine weitgehende Änderung der ungarischen Verfassung, die heftigen Protest auslöst.
»Es ist jetzt genug, wir werden das nicht mehr hinnehmen. Wir werden jeden Tag auf die Straßen gehen, bis jemand Viktor Orbán stoppt«, verspricht Ádám Paulovics. Der 21-jährige Student geht in jüngster Zeit tatsächlich fast täglich demonstrieren. Gegen die Verfassungsänderung, die am Montag im Parlament zur Abstimmung stand, hat sich ein selten breiter gesellschaftlicher Widerstand formiert - Studenten, Obdachlose, Gewerkschafter, Schwule und Lesben, Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, Rentner und Budapester Hipster demonstrieren gemeinsam.
Ungeachtet der Proteste stimmten am Montag Abend 265 Abgeordnete der Mitte-Rechts-Koalition für die Verfassungsänderungen, was für die nötige Zweidrittelmehrheit reichte. 11 Abgeordnete stimmten dagegen, 33 weitere enthielten sich der Stimme. Die Vertreter der oppositionellen Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) boykottierten das Votum.
Der neue Gesetzestext stellt bereits die vierte Änderung der Verfassung dar, die erst Anfang 2012 in Kraft trat. Und er macht fast alle Kompromisse, die Orbán auf Druck der EU oder des Verfassungsgerichts eingehen musste, mit einem Schlag rückgängig.
Die Kriminalisierung der Obdachlosigkeit, die Einschränkung der Wahlwerbung und die Verwaltungswillkür in Sachen Religionsfreiheit, die das Verfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt hatte, werden wieder möglich - indem die Parlamentsmehrheit sie einfach in die Verfassung schreibt. Der Text schränkt die Autonomie der Universitäten ein und droht Studenten, die nach dem Abschluss im Ausland arbeiten wollen, hohe rückwirkende Studiengebühren an. Selbst das Verfassungsgericht bekommt Orbáns Rache für das Mäkeln an seinen Gesetzen zu spüren: Die Richter müssen ihre einschlägigen Beschlüsse revidieren und dürfen mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderungen künftig nicht einmal mehr prüfen.
Angesichts dieser Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit radikalisiert sich der Protest der demokratischen Opposition. Die Zentrale der Orbán-Partei Fidesz in Budapest wurde am vergangenen Donnerstag mehrere Stunden lang von Protestlern besetzt. Am Sonnabend versammelten sich rund 6000 Demonstranten zur Kundgebung in der Alkotmány utca (Verfassungsstraße) und zogen durch die Stadt zum Sitz des Verfassungsgerichts.
Ihre einzige realistische Chance sieht Ungarns Zivilgesellschaft allerdings in einem Machtwort aus Brüssel. Die EU könnte auf die faktische Abschaffung der Gewaltenteilung mit außerordentlichen Maßnahmen reagieren. »Wir hoffen auf Europas Hilfe. Bis dahin bleibt uns nur der permanente Protest«, sagt Ádám Paulovics.
** Aus: neues deutschland, Dienstag, 12. März 2013
Brüsseler Heuchelei
Ungarn auf Weg in Postdemokratie
Von Werner Pirker ***
Ungarn tanzt aus der EU-Reihe. Zum Ärger der Verwalter der »europäischen Werte« wollen seine Eliten schneller als der europäische Mainstream postmoderne Zustände herstellen. Die regierende Fidesz-Partei von Viktor Orbán reagiert offen ablehnend auf den von Brüssel vorgegebenen liberalen Zeitgeist, was man ihr nicht unbedingt zum Vorwurf machen sollte. Wohl aber ihre Bestrebungen, sich als strukturelle Mehrheitspartei dauerhaft zu etablieren. Eine neue Verfassung, in der sich die Gewaltenteilung als wichtigste Voraussetzung bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit praktisch aufgehoben sieht, bereitet den Weg in ein Regime, in dem unter formaler Beibehaltung der parlamentarischen Demokratie die Machtverhältnisse weitgehend festgeschrieben sind.
Nach dem Willen der Gesetzgeber entzieht sich Ungarns neue Verfassung – und das ist ein Novum in der Geschichte bürgerlich-demokratisch verfaßter Gesellschaften – der Kontrolle durch das Verfassungsgericht. Dieses soll Änderungen des Grundgesetzes künftig nur noch auf ihre formale, nicht auf ihre inhaltliche Rechtmäßigkeit überprüfen dürfen. Außerdem können sich die Verfassungsrichter nicht mehr auf Entscheidungen berufen, die vor Inkrafttreten der neuen Verfassung im Januar 2012 gefällt wurden. Die oberste Gerichtsbarkeit ist damit weitgehend entmachtet worden. Gesetze, die vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurden, sollen im neuen Grundgesetz verankert und damit verfassungskonform gemacht werden.
Orbán und die Seinen wollen auch die 1989 erfolgte antikommunistische Revanche für mehr als vier Jahrzehnte staatsozialistischer Entwicklung unumkehrbar machen. Nicht nur die frühere Sozialistische Arbeiterpartei, auch die Sozialistische Partei als ihre Nachfolgerin sollen für alle Zeiten für die »Verbrechen des Kommunismus« verantwortlich gemacht werden, was einer Verbotsdrohung gleichkommt. Ein Treppenwitz der Geschichte, war es doch die marktwirtschaftlich gewendete frühere Staatspartei und nicht Orbáns (damals noch) lustige Truppe, die den kapitalistischen Umsturz organisierte.
Was die EU-Granden naturgemäß am meisten schmerzt, ist die Verfassungsbestimmung, welche die Ungarische Nationalbank den Einflüssen der Europäischen Zentralbank entzieht. Und überhaupt scheint sich Orbán nicht unbedingt Merkels »marktkonforme Demokratie« zum Vorbild zu nehmen. Was man ihm, wie schon gesagt, nicht zum Vorwurf machen sollte. Überhaupt ist die Sorge um die Demokratie in Ungarn reinste Heuchelei, wenn sie von Leuten geäußert wird, die die Vorherrschaft der Märkte über die Demokratie, das Durchregieren gegen Mehrheitsinteressen und die Aufhebung nationaler Souveränitätsrechte zu verantworten haben. Mag schon sein, daß man im Land an Donau und Theiß auf dem Weg in die Postdemokratie schon weiter ist als im übrigen EU-Bereich. Aber der folgenschwerste Angriff auf die Demokratie erfolgt aus Berlin und Brüssel.
*** Aus: junge Welt, Dienstag, 12. März 2013 (Kommentar)
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