Tritt Bajnai gegen Orbán an?
Kundgebungen an Ungarns Nationalfeiertag demonstrierten die tiefe Spaltung des Landes
Von Gábor Kerényi, Budapest *
Fast schon traditionell machten die
diesjährigen Demonstrationen am
ungarischen Nationalfeiertag, dem
Jahrestag des Oktoberaufstandes
1956, die extreme Spaltung eines in
seine Bestandteile aufgelösten Landes
sichtbar.
Die politischen Lager Ungarns haben
sich lange auf diesen Tag vorbereitet.
Vorwärtsweisendes ist
nicht daraus geworden. Zuerst
versammelten sich am Dienstagnachmittag
rund 100 000 Anhänger
von Ministerpräsident Viktor
Orbán zur Kundgebung. Sie marschierten
durch die halbe Stadt,
um dann vor dem Budapester Parlament
die Rede ihres Messias zu
genießen. Eines war dabei auffällig:
Unter Orbáns Gefolgsleuten
hatten sich wieder einmal in größerer
Zahl ausländische Hilfskräfte,
in erster Linie polnische Ultranationalisten,
gemischt. Dabei besitzt
der überzeugte Nationalist
Orbán doch noch immer genug
Charisma, um viele Ungarn auf die
Straße zu holen. In seiner Rede allerdings
ließ sich der Ministerpräsident
nichts Neues oder Originelles
einfallen.
Es war die alte Leier: Wir Ungarn
werden uns von der EU nicht
vorschreiben lassen, was wir in
unserem eigenen Land tun, auch
wenn Brüssel momentan »das
ganze Land wegen der Fehler der
sozialistischen Regierungen bestraft
«. Doch es gebe auch eine gute
Nachricht: Alles was er, Orbán,
tue, sei gut und richtig. Und dann
der beim Fidesz-Führer so beliebte
Populismus: Orbán schleppte eine
100 Jahre alte Putzfrau aus dem
ehemaligen Oberungarn, heute
Slowakei, auf die Bühne, der Bratislava
angeblich die slowakische
Staatsbürgerschaft abgeknöpft
habe, weil sie die für Auslandsungarn
von Budapest angebotene
ungarische beantragte und erhielt.
Im anderen Lager, jenem der
Orbán-Hasser, erklangen nicht
weniger langweilige, schon hundert
Mal gehörte Sätze. Die Facebook-
Initiative »Milla« (Eine Million
für die ungarische Pressefreiheit),
die die Gegenkundgebung
größtenteils via Internet organisierte,
brachte etwa halb so viele
Menschen wie Orbán auf die Straße.
Redner und Plakate betonten,
dass die Regierenden eigentlich
nur eine die Macht usurpierende
Minderheit seien und diese Macht
missbrauchten. Bei den Orbán-
Anhängern handele es sich nicht
um schlechte, sondern lediglich
heimatliebende, um Ungarn besorgte,
aber irregeleitete Menschen
– die für eine »faschistoide
Regierung« demonstrierten.
Ein Mann im Lager der Regierungsgegner
zog dann aber doch
die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich: der Vorgänger von Orbán,
Gordon Bajnai, der nach der desaströsen
Regierungsarbeit von
Ferenc Gyurcsány im letzten Jahr
der sozialliberalen Koalition das
Land aus der Krise zu führen versuchte.
Der parteilose Geschäftsmann
mit liberaler Gesinnung
hatte sich als Ministerpräsident
nicht unklug verhalten. Ganz ähnlich
wie Monti in Italien stellte er
von Anfang an klar, nur bis zum
Ende der Legislaturperiode im Amt
bleiben zu wollen. Er konnte sich
aus den damaligen politischen
Schlammschlachten heraushalten,
weil er so tat, als ob die Politik ihn
nicht interessierte, sondern nur
sein neoliberales radikales Sparprogramm,
mit dem allein Ungarn
gerettet werden könne. Nun aber,
eineinhalb Jahre vor den nächsten
Wahlen, interessiert sich Bajnai,
von »Milla« hofiert, plötzlich doch
wieder für die Politik und war der
Hauptredner auf der Kundgebung.
Es könnte durchaus sein, dass er
2014 als Führungspersönlichkeit
der »Vereinigten Opposition« gegen
Orbán antritt. Zur Zeit allerdings
hält er sich in diesem Punkt
noch bedeckt.
Ganz anders die rechtsextreme
Jobbik-Partei. Die Parteiprominenz
nahm in ihren Reden kein
Blatt vor den Mund: Die Todesstrafe
müsse wieder her, Ungarn
solle austreten aus der EU, nicht
zuletzt deshalb, weil das verabschiedete
neue Bodengesetz, mit
dem Ungarn langjährigen Forderungen
der EU nachkommen will,
nur für eines tauge – dass sich die
Juden endlich die ungarische Erde
unter den Nagel reißen können.
Eine EU-Abgeordnete der Partei
idealisierte in ihrer Rede jenen
mutigen Ungarn, der sich traut,
sein Gewehr auf einen Roma-Maffioso
zu richten. Ein anderer Redner
stellte plastisch dar, wie gut es
sei, Kommunisten zu erschießen.
Anhänger der Partei wollten nach
ihren Feierlichkeiten unbedingt
die Veranstaltung der »Liberalbolschewisten
«, also der »Milla«,
stören, und zwar mit Parolen wie
»Juden, ihr werdet ermordet«. Der
Hitlergruß durfte auch nicht fehlen.
Die Polizei schaute zu und war
heilfroh, dass niemand zusammengeschlagen
wurde. Eingemischt
hat sie sich gar nicht, weil
in Ungarn rechte Kundgebungen dieser Art ganz legal sind.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. Oktober 2012
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