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"90 Prozent der Roma sind dort erwerbslos"

Initiative will Ausgegrenzte in Ungarn ermutigen, für ihre eigenen Rechte einzutreten. Ein Gespräch mit Juliane Nagel *


Juliane Nagel ist Sprecherin der Bürgerinitiative »Leipzig Korrektiv«.


Die Initiative »Leipzig Korrektiv«, der ungarische Schriftsteller György Dalos, Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2010, und die ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky rufen auf, die Roma in Ungarn zu unterstützen. Wie ist deren Situation?

In zahlreichen Staaten Europas – nicht nur in Osteuropa, wie oft gesagt wird – werden die Roma ausgegrenzt; sie müssen auf der Straße oder an den Stadträndern in Ghettos leben. In Ungarn ist es besonders schlimm. 90 Prozent der mehreren hunderttausend dort lebenden Roma sind erwerbslos. Ihre Kinder werden als geistig zurückgeblieben klassifiziert und in sogenannte Förderschulen geschickt. Obendrein übt die Magyar Gárda (Ungarische Garde), eine paramilitärische Organisation, die der rechtsextremen Partei Jobbik angehört, offene Gewalt gegen sie aus. Jobbik ist seit 2010 die drittstärkste Partei im ungarischen Parlament. Roma sind dort an Leib und Leben bedroht.

Sie beklagen, die nationalkonservative Regierung Fidesz unter dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán benachteilige Roma grundsätzlich – in welcher Weise?

Es gibt zwar keine ausgewiesenen Sondergesetze für Roma, aber einige Gesetze betreffen eben im wesentlichen sie. Seit der Einführung der neuen Verfassung 2012 gibt es beispielsweise sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Sozialhilfebezieher müssen Zwangsarbeit leisten – die meisten von ihnen sind Roma. Das Ganze funktioniert ähnlich wie die Ein-Euro-Jobs in Deutschland: Sind Erwerbslose nicht bereit, eine Arbeit zu Dumpinglöhnen anzunehmen, wird ihre Sozialhilfe gekürzt. Zudem hatte die Fidesz eine Wählerregistrierung vorgeschlagen: Arme Menschen, die wenig Bildung genossen haben, werden durch solch bürokratische Hürde von der Wahl abgehalten. Meist betrifft das Roma. So wollte die Fidesz ihre Macht bei den Wahlen 2014 sichern; das Verfassungsgericht hat das aber verhindert.

Schützt die Regierung die Roma vor faschistischen Übergriffen?

Keineswegs. Drastisches Beispiel: Faschistische ungarische Garden der Jobbik sind 2011 ständig im Dorf Gyöngyöspata bewaffnet im Roma-Viertel patrouilliert, haben Menschen eingeschüchtert und beschimpft. Das Rote Kreuz mußte die Bewohner evakuieren. Die Polizei oder andere staatliche Organe haben nicht eingegriffen. Fidesz selber hat eine völkisch-nationalistische Tradition, die bewußt Roma ausschließt; die Kirchen machen dabei weitgehend mit. Ein Klima geduldeter Ausgrenzung und des Wegschauens bei Diskriminierungen bestimmt den Alltag der Roma. Das ist ein ständiges Bedrohungsszenario.

Wie hilft der ungarische Verein »Bürgerrechtsbewegung für die Republik«, mit dem die Initiative »Leipzig Korrektiv« kooperiert, den Roma?

Es gibt mehrere Projekte. Journalistinnen und Journalisten fahren gezielt in Orte, wo es zu Übergriffen auf Roma kommt. Sie dokumentieren die Vorkommnisse und holen Hilfsorganisationen dorthin. Weiterhin plant der Verein zusammen mit dem »Roma-Parlament«, eine auf diese Bevölkerungsgruppe ausgerichtete Grundrechtecharta zu entwerfen. Dieses Parlament ist ein Zentrum in Budapest, in dem sich ungarische Roma-Lobbyorganisationen treffen. Deren Forderungen lauten, den Roma Zugang zu Arbeit und Bildung zu gewähren. Ihr Anliegen ist, die mitunter sehr vereinzelten Roma zu ermutigen, sich zu organisieren und gemeinsam für Grundrechte einzutreten.

Wie kam der Kontakt mit den ungarischen Bürgerrechtlern zustande?

Im vergangenen Jahr stand in Leipzig das Lichtfest, das an die Tradition der Montagsdemos anknüpft, unter dem Motto »Ungarn – Grenzen überwinden«. Die Stadtverwaltung hatte dazu einen Vertreter der Fidesz eingeladen. Wir hatten sie aufgefordert, die Einladung zurückzunehmen, weil die Partei wegen ihres Umgangs mit den Roma nicht für demokratische Werte steht. So haben wir mit dem Schriftsteller György Dalos und der ungarischen Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky Kontakt bekommen. Daraus ist das Zusammenwirken entstanden.

www.not-illegal.vereine-leipzig.org

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Montag, 7. Januar 2013


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