Ungarn hat wieder einen Plan
Das umfassende Sparprogramm der Regierung und die Verarmung der Durchschnittsbürger
Von Gábor Kerényi, Budapest *
Ungarn besteht nach den Worten seines national-konservativen Regierungschefs Viktor Orbán auf
einer »unabhängigen Steuerpolitik«. Die bevorzugt allerdings eindeutig die Wohlhabenden.
Ungarns größtes Gesellschaftsforschungsinstitut, das übrigens der Regierung nicht sehr fern steht,
veröffentlichte jüngst eine Studie über die Lebenslage ungarischer Familien. Das Ergebnis: Schon
beim Verlust des Einkommens nur des Hauptverdieners kann ein Viertel der betroffenen Familien
finanziell nicht einmal einen einzigen Monat bestehen. Zwei Drittel der Gesellschaft kämen in einem
solchen Fall höchstens drei bis sechs Monate über die Runden. Dies rührt daher, dass die Hälfte der
ungarischen Bevölkerung über keinerlei Ersparnisse verfügt, weder bei Geldinstituten noch etwa in
Form von Wertgegenständen.
Zwar wird das Gesamteinkommen der Bevölkerung in diesem Jahr um eine bis 1,5 Milliarden Euro
wachsen. Doch kommt dieser Mehrbetrag fast ausschließlich Personen mit höherem Einkommen
zugute, die schon früher Finanzreserven bilden konnten und deren Situation sich aufgrund der zu
Jahresbeginn eingeführten Einheitssteuer (Flattax) weiter verbessert. Jeder Einkommensbezieher
bezahlt seither 16 Prozent Steuern. Die Einkommen der »Besserverdienenden« lagen schon bisher
um das Zweieinhalb- bis Dreifache über dem ungarischen Durchschnittseinkommen.
Weitere Steuersenkungen, und zwar für Unternehmen, sollen noch 2011 beschlossen werden und
Anfang 2012 in Kraft treten. Bezahlt wird all dies keineswegs in erster Linie durch die auch im
Ausland viel diskutierten Sondersteuern für Banken und gewisse Großbetriebe. Die Regierung hat
unlängst die Umrisse eines gewaltigen Sparprogramms vorgestellt, das eindeutig gegen die
Schwachen wirkt und alle Bereiche der Gesellschaftspolitik stärker als bisher an ökonomischen
Zielvorgaben ausrichten soll.
Dieses »Strukturreformprogramm« trägt den schönen Namen Kálmán-Széll-Plan. Benannt ist es
nach einem ungarischen Politiker, der sich vor mehr als 100 Jahren, zu Zeiten der Monarchie, für
Recht, Ordnung und die Sanierung des Staatshaushalts stark gemacht hat. Nach dem neuen Plan
soll die Staatsverschuldung von derzeit 80 Prozent des Bruttosozialprodukts bis 2014 auf 65 bis 70
Prozent gedrückt werden. Und dies obwohl laut Kálmán-Széll-Plan die genannten Krisensteuern
Ende 2012 auslaufen.
Der Plan sieht Einsparungen vor, die unter anderem die Bereiche Arbeitsmarkt, Renten und
öffentlicher Transport betreffen, im Gesundheitssystem sollen die Arzneimittelkosten erheblich
zurückgefahren werden, und schließlich werden den öffentlichen Haushalten und dem höheren
Bildungswesen schmerzhafte Schnitte zugemutet.
Was den Arbeitsmarkt betrifft, sollen zwecks »Erhöhung der Erwerbsquote« die Bezugsdauer der –
ohnehin mageren – Arbeitslosenunterstützung gekürzt und die Erwerbsquote der Behinderten
angehoben werden. Dazu soll ein groß angelegtes Programm öffentlicher Arbeiten kommen.
Arbeitslose werden verpflichtet, daran teilzunehmen. Reformen des Arbeitsrechts sollen, zum
Beispiel im Staatsdienst, Entlassungen vereinfachen und den Arbeitsmarkt »flexibler« machen. Das
Rentensystem wird insbesondere durch die bereits vollzogene Wiederverstaatlichung der bisher
privatisierten Säulen saniert. Von allgemeinen Rentenkürzungen ist bis jetzt nicht ausdrücklich die
Rede, doch die Frühverrentung soll erschwert und bestehende Frühverrentungen sollen überprüft
werden, was bedeutet, dass die Betroffenen mit Kürzungen und unter Umständen Verlust ihrer
Rente zu rechnen haben.
Die Freifahrten für Familienmitglieder der Eisenbahner werden abgeschafft, ansonsten bleibt der
Kálmán-Széll-Plan für den öffentlichen Verkehr vage. Kritisiert wird zwar, dass im Zuge der
Teilprivatisierung der Eisenbahnen ausländische Unternehmen das ungarische Streckennetz nutzen
können, ohne dafür »angemessen« zu bezahlen. Ob dies geändert werden soll, wird aber nicht
gesagt.
Das höhere Bildungswesen will man strikt an Arbeitsmarkterfordernisse anpassen. Technischnaturwissenschaftliche
Studienrichtungen sollen ausgebaut, in den letzten Jahren entstandene
»unnötige« andere Studienrichtungen abgeschafft werden. Die Absolventinnen und Absolventen will
man entsprechend umschichten. Der staatliche Einfluss und die staatliche Kontrolle über die
Hochschulbildung werden verstärkt.
Was die öffentlichen Ausgaben betrifft, so ist Zentralisierung und Straffung insbesondere auf der
Ebene der Gebietskörperschaften angesagt. Gespart werden soll unter anderem dadurch, dass die
verschiedenen Familienbeihilfen über Jahre hinweg auf dem jetzigen Wert eingefroren werden.
Öffentliche Dienstleistungen sollen »effizienter« gestaltet und für die öffentliche Hand unvorteilhafte
Auslagerungen und Teilprivatisierungen von Diensten sollen zurückgenommen werden.
Wiewohl der Kálmán-Széll-Plan vieles noch nicht konkretisiert, sondern auf eine ganze Latte in den
nächsten 12 Monaten durchzuführender Gesetzesänderungen verweist, ist die Gesamtlinie klar:
Verstärkter Staatseingriff und öffentliche Kontrolle sollen Unternehmertum und Mittelschichten
stärken und öffentliche Einnahmen unter anderem dadurch konsolidieren, dass einzelne
Privatisierungsschritte, die zu einer fortgesetzten Aussaugung der Staatsfinanzen führen, überdacht
oder relativiert werden. Diese Politik geht eine enge Bindung ein mit Sozialkürzungen für die
Schwächsten, Zwang zur Arbeit um jeden Preis für untere Schichten und Randständige, und der
unbeschränkten Unterordnung von Gesellschaftspolitik unter ökonomische Interessen.
* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2011
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