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Der Nein-Sager aus Budapest

Viktor Orbáns verzweifelter Kampf um eine nationale Wirtschaftspolitik

Von Hannes Hofbauer *

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gibt sich im eigenen Land gern als trotziger Widerständler im Kampf gegen das Diktat des Internationalen Währungsfonds (IWF). In der Praxis jedoch folgt er dessen Vorgaben - zum Schaden der Armen.

In der Markthalle in Obuda sind mittags nur wenige Käuferinnen und Käufer unterwegs. Neben der Kälte draußen dürften auch die hohen Preise in der Halle dafür verantwortlich sein. Die Lebensmittel sind fast so teuer wie in Deutschland oder Österreich. Ein Kilo Weißbrot umgerechnet 1 Euro, Kartoffeln sind für 60 Cent das Kilo zu haben, der Preis für ein Kilogramm Zwiebeln beträgt umgerechnet 1,10 Euro, während man für ein Kilo ausgelöste Schweinsschulter 5 Euro auf das Verkaufspult legen muss. Die Straßenbahn- oder Busfahrkarte kostet 1 Euro, die Monatskarte 50. Löhne und Renten liegen indes weit unter den deutschen oder österreichischen.

Kritische Botschaften auf Fidesz-Plakaten

Wer heute als junger Mensch eine Arbeitsstelle antritt, wird mit 430 Euro monatlich abgespeist, wovon nach Abzug der Sozialabgaben weniger als 300 Euro übrig bleiben. Der durchschnittliche Rentner muss mit 230 Euro im Monat auskommen, die Mindestrente beträgt nur 100 Euro. Statistisch zusammengefasst, stellt sich die Schieflage folgendermaßen dar: Während das ungarische Preisniveau je nach Produktgruppe zwischen 80 und 110 Prozent des EU-Durchschnitts ausmacht, liegen die Löhne und Pensionen bei 22 Prozent, erläuterte der grüne Abgeordnete Gábor Scheiring auf einer Tagung in Wien.

Der national-konservative Bürgerbund Fidesz hatte bereits Mitte November 2012 eine Plakataktion lanciert. Im gelben Kreis steht nur ein Wort: »Nem« - »Nein«. Dazu Losungen wie: »Wir lassen uns keine Rentenregelung vom IWF vorschreiben: Nein.« Generalstabsmäßig wurden überall im Land IWF-kritische Botschaften verkündet. Die Aktion sollte wohl auch heißen: Wir brauchen euer Geld nicht und die Bedingungen, die ihr für Kredite stellt, schon gar nicht.

Das forsche Auftreten gegenüber den internationalen Finanzorganisationen kann sich Regierungschef Viktor Orbán nur leisten, weil die kürzlich aufgelegten Staatsanleihen gut gezeichnet wurden. Von überallher drängte Kapital zu den ungarischen Papieren, sowohl jenen, die in Forint, als auch jenen, die in Euro präsentiert wurden. Das war offensichtlich eine Folge der Einführung der »Flat Tax«, der Einheitssteuer, die Einkommen jeglicher Höhe mit nur 16 Prozent - statt zuvor bis zu 32 Prozent - belegt. Die reiche Oberschicht sah sich in der Lage, Erspartes in Staatspapieren anzulegen. Dass die 16-prozentige Steuer zugleich für all jene, deren Monatseinkommen unter 800 Euro liegt, eine Schlechterstellung gebracht hat, offenbart den unsozialen Charakter der ungarischen Wirtschaftspolitik.

IWF-kritische Töne aus Regierungskreisen sind sonst in Osteuropa meist nur nach dem Abschalten von Mikrofonen und Kameras zu hören. Insofern wagt sich Viktor Orbán weit vor, wenn er dem Washingtoner Finanzinstitut, dessen Hilfe man überall zu brauchen meint, offen die Stirn bietet. Die sozialliberalen Vorgänger unter Ferenc Gyurcsány waren 2008 noch auf den Knien nach Washington gerutscht und hatten um einen Notkredit gebettelt. In der Orbán-Partei Fidesz vermutet man auch Verschwörungspraktisches hinter dem Bittgang von 2008, der bis heute schwer auf dem Staatshaushalt lastet. Mit dem IWF war nämlich vertraglich vereinbart worden, dass der Kredit erst ab 2010 zurückzuzahlen sei - nach den Wahlen in jenem Jahr. Und weil damals schon jeder wusste, dass die Sozialliberalen diese Wahlen verlieren würden, konnte man davon ausgehen, dass Fidesz die Zeche bezahlen muss.

Ob Verschwörungspraxis oder Verschwörungstheorie: Die Gegnerschaft zum IWF hat sich tief in die Fidesz-Rhetorik eingeprägt. Nur dort, in der Rhetorik, vermutet sie auch Ungarns Attac-Präsident Matyas Benyik: »Das ganze Anti-IWF- und Anti-EU-Getue ist nichts weiter als propagandistischer Sprachgebrauch, um die eigene Klientel zu beruhigen und ihr vorzugaukeln, dass etwas gegen das ausländische Kapital unternommen wird.« Fidesz sei weit davon entfernt, linke Politik zu betreiben. Allerdings räumt auch Benyik ein, dass Orbán, verglichen mit seinen Vorgängern, wirtschaftspolitisch eher links agiert.

Zsigmond Perényi vom internationalen Sekretariat bei Fidesz gibt sich dagegen gar nicht so IWF-feindlich wie sein Chef: »Wir brauchen den Internationalen Währungsfonds«, meint er, »aber keinen Stand-by-Kredit mit den üblichen schwierigen Bedingungen, sondern als finanzielles Auffangnetz.« Budapest sei flüssig, also nicht akut von einem finanziellen Engpass bedroht. Als Rückversicherung wäre ein IWF-Kredit jedoch nicht schlecht, »aber sich dafür alle drei Monate überprüfen zu lassen, das haben wir nicht nötig. Wir können uns ja selber finanzieren«, strotzt Perényi vor Selbstvertrauen.

»Damals haben wir uns das anders vorgestellt«

Neues Ungemach droht allerdings spätestens mit der Verabschiedung des EU-Budgets für den Zeitraum 2014 bis 2020. Nach dem derzeit bekannten Plan werden die osteuropäischen EU-Mitglieder die Verlierer sein. Kein Land soll demnach mehr als 2,35 Prozent seiner Wirtschaftsleistung aus den Kohäsionsfonds der EU erhalten. Bisher waren das 2,5 Prozent. Stellt man aber beispielsweise für Ungarn die Tatsache in Rechnung, dass dessen Wirtschaft in den vergangenen Jahren beträchtlich eingebrochen ist, so ergibt das ein sattes Minus bei der Auszahlung. »Das neue EU-Budget ist für uns total schlecht«, warnt auch Zsigmond Perényi vor großen Verwerfungen, »wir könnten bis zu 30 Prozent aus den Kohäsionsfonds verlieren, weil die Berechnung auf der Basis des Krisenjahres 2010 erfolgt.«

Die Ökonomin Katalin Botos, einst Staatssekretärin in der Regierung József Antall (1990-93), hat errechnet, dass das Realeinkommen der ungarischen Bevölkerung 2011 nicht einmal das Niveau von 1980 erreicht hatte: »Die Wende hat unseren Lebensstandard nicht erhöht, die Kluft zwischen Arm und Reich ist allerdings enorm gewachsen. Damals haben wir uns das umgekehrt vorgestellt.«

Fidesz hat diesem strukturellen Problem nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Ein frisch geschnürtes Sparpaket enthält weitere soziale Attacken. Der nach einem Ministerpräsidenten vor dem Ersten Weltkrieg genannte Széll-Kálmán-Plan vom Mai 2011 entspricht den Vorgaben des sonst so ungeliebten Weltwährungsfonds: Das Renteneintrittsalter wurde auf 65 erhöht, die Arbeitslosenunterstützung von neun auf drei Monate gekürzt, die Arbeitszeit »flexibilisiert«, weitere Einsparungen im Gesundheits- und Erziehungswesen angeordnet und Stipendien reduziert. Sogar die Schließung von Universitäten steht auf dem Programm.

Vor allem im Bereich der Arbeitsrechte will Fidesz den Beschäftigten die eiskalte Schulter zeigen. Wochenarbeitszeiten dürfen nach Unternehmensbedarf unter gewissen Bedingungen auf 60 Stunden ausgedehnt werden. Gespart wird in erster Linie bei den Kleinverdienern, allenfalls die oft beschworene Mittelklasse oder die besser Gestellten können unter Fidesz etwas profitieren.

Für Arbeitslose, ob offiziell gemeldet oder seit Längerem aus dem Arbeitsmarkt geworfen, legte Viktor Orbán ein neues Programm auf: Mit »öffentlichen Beschäftigungen« soll jenen eine Chance gegeben werden, die im privaten Sektor keine haben. Die auf den ersten Blick groß angelegte Maßnahme zur Arbeitsplatzbeschaffung entpuppt sich bei näherer Betrachtung als zynisches Kalkül. Schlappe 48 000 Forint (175 Euro) erhalten jene pro Monat, die sich zur »öffentlichen Beschäftigung« melden. Gearbeitet wird vornehmlich in Putzkolonnen für Gemeinden oder Schulen. Auch kleine Dienstleistungen für private Unternehmen, die sich unqualifizierte Arbeitskräfte auf diesem Weg vom Staat bezahlen lassen, werden auf dieser Basis entlohnt.

Eine Chance für Chancenlose?

»Die Leute sind oft froh, wenn sie in diesem Programm einen Platz finden«, meint Fidesz-Mann Perényi. Einen Zwang dazu gebe es nicht, betont er, räumt aber auf Nachfrage ein, dass die Auszahlung von Sozialleistungen an den Nachweis der Teilnahme an diesem Programm gebunden ist.

Der Szell-Kálmán-Plan zeigt, wie sehr »das Fidesz-Regime zuallererst die Armen trifft. Sein Traum von einer einheimischen Mittelklasse dagegen«, sagt die Ökonomin Annámaria Artner, »scheitert an der Schwäche des ungarischen Kapitals.«

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Januar 2013


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