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Machtlose Justiz

Ungarn: Präsident des Verfassungsgerichts hält "Privatarmee" der Regierung für illegal. Verhindern kann er sie nicht

Von Ben Mendelson *

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) hat sich von Rechtsstaatlichkeit weit entfernt. Sein Plan, die Gerichte im Land auf seine Seite zu bringen oder zu entmachten, scheint aufzugehen. Kritik an Auswüchsen des Systems Orbán kommt nur noch von Einzelpersonen – die an den Zuständen nicht viel ändern können.

Vieles hat sich in Ungarn seit 2010 geändert, als die bis dahin regierende sozialistische Partei MSZP die Wahl verlor und die nationalkonservative Fidesz zusammen mit den Christdemokraten die Macht übernahm. Seither verfügt die Koalition im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit, die ihr auch Verfassungsänderungen erlaubt. Hinzu kommt die überwiegende Unterstützung durch die rechtsextreme Jobbik, die etwa elf Prozent der Sitze im Parlament inne hat.

Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt gründete Ministerpräsident Orbán eine eigene Antiterroreinheit namens Terrorelhárítási Központ (Terrorismusabwehrzentrum). Aus Geheimdiensten, Polizei und Innenministerium zog der 50jährige etwa 200 Personen ab. Mittlerweile arbeiten 1000 Menschen in den Diensten des TEK, die inzwischen als »bestausgerüstete Militäreinheit des Landes« gilt. Das offizielle Budget beträgt 50 Millionen Euro pro Jahr. Die tatsächliche Zahl liege aber deutlich höher, meint die ungarische unabhängige Onlinezeitung Pester Lloyd (PL). Querfinanzierungen führten dazu, daß die tatsächliche Höhe »nicht mehr nachvollziehbar« sei.

Doch wem ist diese Elitetruppe unterstellt und wie agiert sie? Ursprünglich lief die Kontrolle des TEK direkt über das Parlament. Doch Orbán änderte Gesetze, erließ Dekrete und nutzte seine parlamentarische Mehrheit, um das Terrorismusabwehrzentrum unter seine Kontrolle zu bekommen. Oberster Kommandant des TEK ist zwar ein ehemaliger Fidesz-Kader und Polizeioffizier – de facto gebe aber Orbán selbst die Einsatzbefehle, so der PL. Deshalb werde oft auch »von Orbáns Privatarmee gesprochen«.

International Schlagzeilen machten die Antiterrorkämpfer, als sie 2011 in der Nähe von Budapest Waffen vom Set des Schauspielers Brad Pitt beschlagnahmten. Zwar ist die Einheit offiziell für die Abwehr terroristischer Gefahren und den Kampf gegen die organisierte Kriminalität zuständig, zumeist beschränkt sie sich laut PL jedoch auf den Personen- und Gebäudeschutz, »vor allem für den Regierungschef«. So agierten TEK-Beamte »direkt vor Orbáns Wohnhaus oder dem Präsidentenpalast«. Auch Hausräumungen gehören zum Handlungsrepertoire des TEK (jW berichtete).

Während Orbán die Aufrüstung des Terrorelhárítási Központ vorantrieb und dessen Ausrichtung maßgeblich bestimmte, ließ er zeitgleich den Einfluß unabhängiger Gerichte immer weiter einschränken. Viermal ließ er die Verfassung ändern. Dank der letzten Reform darf das Verfassungsgericht inzwischen nur noch Gesetze bewerten, die weniger als ein halbes Jahr alt sind. Das rettete in der vergangenen Woche die Existenz des TEK, denn die von der Fidesz kontrollierte Mehrheit der Verfassungsrichter wies den Antrag einer Bürgerrechtsorganisation auf Kontrolle des Antiterrorzentrums ab, weil das Gesetz zu alt sei – obwohl die Klage aus dem Sommer 2012 stammte. Lediglich der Gerichtspräsident übte Kritik. Péter Paczolay sah »mehrere Verstöße gegen Grundgesetzbestimmungen und rechtsstaatliche Grundprinzipien« vorliegen. Doch außer dieser Feststellung geschieht nichts – die Justiz ist machtlos. Ihr stehen von Fidesz eingesetzte, quasi zu allem ermächtigte Organisationen gegenüber, denen die Unterschrift eines Staatssekretärs aus dem Innenministerium reicht, um Hausdurchsuchungen und Abhöraktionen durchzuführen oder anders für »die nationale Sicherheit« zu sorgen.

In vier Monaten finden in Ungarn die nächsten Parlamentswahlen statt. Umfragen sehen Viktor Orbán erneut klar im Vorteil gegenüber der Opposition. Mehrheitlich sind Medien, Gerichte und Industrielle auf der Seite des Rechten – ebenso wie das TEK. Seine Machterhaltungstaktik scheint aufgegangen zu sein.

* Aus: junge welt, Freitag, 6. Dezember 2013


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