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Im Trend

Bereits am 1. Januar leitete die neue ungarische Medienbehörde ein Verfahren ein. Einschränkung der Pressefreiheit ist in der EU aber der Normalfall

Von Arnold Schölzel *

Laut ungarischen Quellen hat die Medienbehörde des Landes (NMHH) die Erweiterung ihrer Befugnisse genutzt, um ein Verfahren gegen den Budapester Privatsender Tilos Radio einzuleiten. Der hatte am 2. September 2010 den Song "It's on" des US-Rappers Ice-T aus dem Jahr 1993 gesendet. Die NMHH, die u.a. darauf zu achten hat, daß der Anteil von Meldungen über Kriminalfälle nicht mehr als 20 Prozent der Berichterstattung eines Mediums überschreitet, erklärte, der Raptext enthalte eine "anstößige Sprache" und sei jugendgefährdend. Tilos Radio machte geltend, daß der US-Slang im Song ohnehin nicht verstanden werde. Rapper Ice-T, der sich in dem Song als Gangster im Kampf gegen "wahre" Gangster wie CIA und FBI stilisiert, reagierte im Internetdienst Twitter ironisch mit: "Die Welt hat immer noch Angst vor mir."

Nach dem am 1. Januar in Kraft getretenen Mediengesetz kontrolliert NMHH alle ungarischen Medien. Bei Verstößen gegen die vage gehaltenen Vorschriften drohen hohe Geldstrafen. Die Behörde wird von Gefolgsleuten der rechtskonservativen Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán geleitet, der am 1. Januar für ein halbes Jahr auch die EU-Ratspräsidentschaft übernahm.

Er hatte das Mediengesetz mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit seiner Partei am 21. Dezember durch das Parlament gebracht. Als deutlich wurde, daß von anderen EU-Regierungen und der Brüsseler Kommission nur symbolische Kritik zu erwarten war, unterzeichnete Staatspräsident Pál Schmitt das Gesetz am 30. Dezember. Orbáns Regierung kann sich darauf berufen, daß in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und in der EU-Grundrechtecharta von 2000 festgehalten ist, daß die Pressefreiheit aus Gründen "nationaler Sicherheit" oder "zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" eingeschränkt werden kann.

Diese juristischen Hintertüren nutzen die EU-Regierungen fleißig. Zugleich wird journalistische Tätigkeit durch den Konzentrationsprozeß in der Medienindustrie eingeschränkt. Die Wochenzeitung Die Zeit weist z.B. aktuell darauf hin, daß Orbán selbst den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi als sein Vorbild nannte. Der Milliardär, so das Blatt, habe einfach "die wichtigsten Medien seines Landes gekauft, um sie zu beherrschen". Orbán brauche dafür (immerhin) ein Gesetz. Ein weiteres Vorbild dürfte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy sein, der regelmäßig kritische Journalisten öffentlich bedroht und seine guten Beziehungen zu den Besitzern großer französischer Tageszeitungen - zumeist Milliardären, die auch in Rüstungsindustrie und Waffenhandel aktiv sind - nutzt, um mißliebige Personen aus Redaktionen zu entfernen. 2010 wurde zudem bekannt, daß Dutzende Computer französischer Journalisten in einer offensichtlich geheimdienstlich gesteuerten Aktion gestohlen wurden. Und Vorbild Bundesrepublik: Dort verhinderte 2009 der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) offensichtlich im Auftrag der Bundeskanzlerin, daß der Vertrag von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender verlängert wurde.

Weitere Beispiele ließen sich in jedem EU-Land finden. Hier sei noch Polen angeführt, wo kürzlich nachgewiesen werden konnte, daß der Geheimdienst Journalisten zwischen 2005 und 2007 abhörte. Am 22. Dezember 2010 erfuhr nun der stellvertretende Direktor des vierten Kanals des staatlichen polnischen Rundfunks, Mateusz Piskorski, durch Mitteilung auf einer Internetseite des Senders, daß er wegen Bruchs der "Standards eines unparteiischen Journalismus" entlassen worden war. Sein Delikt: Als Vertreter einer polnischen Nichtregierungsorganisation war er am 18. und 19. Dezember zur Beobachtung der Präsidentschaftswahlen in Belarus und hatte in einem Interview des dortigen Fernsehens erklärt, in den Wahllokalen, in denen er gewesen war, "keine ernsten Verletzungen des Wahlrechts" festgestellt zu haben (siehe unten). Zu diesem Zeitpunkt hatten sich aber die Autoritäten Polens schon festgelegt: Die Wahlen in Belarus waren illegitim.

* Aus: junge Welt, 3. Januar 2011


Ungarn und EU

Konzerne fordern Sanktionen **

In den vergangenen zwei Wochen befaßte sich die veröffentlichte Meinung Westeuropas mehr oder weniger aufgeregt mit dem am 21. Dezember verabschiedeten Mediengesetz Ungarns. Am Sonntag berichtete nun das Internetportal Welt online, daß hinter den Kulissen schwerwiegendere Konflikte zwischen der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán (Foto) und der EU drohen: Demnach haben dreizehn europäische Konzernchefs in einem fünfseitigen vertraulichen Brief vom 15. Dezember an EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und seine Stellvertreter, der der Welt am Sonntag vorliegt, Sanktionen gegen die Regierung in Budapest gefordert. Grund seien Sondersteuern und andere Maßnahmen, die Orbán großen ausländischen Firmen auferlegt habe - ungarische Unternehmen seien in der Praxis ausgenommen. Gegen diese Auflagen, die z.B. die Supermarktketten Penny, Lidl, die englische Tesco und die Metro-Gruppe mit ihren Saturn- und Media-Markt-Filialen trafen, hatten Anfang November 2010 bereits mehrere europäische Handelskonzerne bei der EU-Kommission und beim deutschen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) Beschwerde eingelegt. Nun forderten die Chefs von Allianz, Deutsche Telekom, E.on, Rewe, RWE und andere europäische Konzernführer die EU-Kommission auf, "die ungarische Regierung von der Bedeutung stabiler legaler Bedingungen für Investoren zu überzeugen" und Budapest "dazu zu bringen, die ungerechten Bürden zurückzuziehen". Sie verlangen, gegen Ungarn ein Verfahren wegen der Verletzung von EU-Recht einzuleiten. Allerdings habe der Konflikt, heißt es bei Welt online, nicht alle Branchen erfaßt. So herrsche in der Autoindustrie "ungetrübte Harmonie".

Orbán differenziert - ähnlich wie seinerzeit die faschistische soziale Demagogie zwischen "schaffendem" und "raffendem" Kapital - zwischen "produktivem" und "schädlichem" Kapital: Die Sondersteuern richten sich daher gegen ausländische Banken, Rentenfonds und Versicherungen und andere Trusts, die in den letzten Jahren in Ungarn märchenhafte Renditen erzielten. Unpopulär sind diese Maßnahmen in der Bevölkerung nicht.

(asc)

** Aus: junge Welt, 3. Januar 2011


Konzernmächtige

Vor EU-Sanktionen gegen Ungarn?

Von Werner Pirker ***


Ungarn, das Land, das den "Eisernen Vorhang" geöffnet und damit jenen Domino-Effekt ausgelöst hat, der zum Untergang der sozialistischen Staatengemeinschaft führte, hat sich der europäischen Wertegemeinschaft weitgehend entfremdet. Das muß nicht unbedingt gegen Ungarn sprechen. Obwohl die Veränderungen am politischen System, die ein von der rechtskonservativen Fidesz-Partei dominiertes Parlament bisher durchgewinkt hat, eine bedenkliche Entwicklung markieren, die - geht es in dieser Tonart und diesem Tempo weiter - zu schlechter Letzt zur (Selbst-)Entmachtung des Parlaments führen könnte.

Ministerpräsident Orban und seine Leute lassen wenig Zweifel daran, daß sie die bürgerliche Rechtsstaatlichkeit als Hindernis für die Umsetzung ihrer "Erneuerungs"pläne betrachten. So wurde das Verfassungsgericht, das es gewagt hatte, ein durch das Parlament gedrücktes Gesetz zu kassieren, noch am gleichen Tag teilentmachtet. Eine staatliche Zensurbehörde hat über die Einhaltung des Sitten- und Moralkodexes zu wachen, die die "Regierung der nationalen Angelegenheiten" - so die nunmehr offizielle Bezeichnung für das ungarische Kabinett- im Rahmen des "Systems der nationalen Zusammenarbeit", dem eine "Erklärung zur nationalen Zusammenarbeit" zugrunde liegt, den Medien auferlegt hat.

Es geht also sehr national zu in Ungarn. Nach dem Geschmack der "Antinationalen" von Brüssel viel zu national. Daß es ein Land an der europäischen Peripherie ist, das mit Nachdruck seine "nationalen Angelegenheiten" betont, wird als besonders anstößig empfunden. Zwergenaufstände haben tunlichst zu unterbleiben. Die EU-Einmischung in Fragen des ungarischen Mediengesetzes dient in erster Linie der politischen Disziplinierung. In Wahrheit aber ist es nicht die von Budapest verfolgte Medienpolitik, die den EU-Kommissaren so völlig gegen den Strich geht, sondern die von ihnen als "sozialpopulistisch" und "nationalistisch" empfundene Wirtschaftspoltik der Regierung Orban. Die Sondersteuern, die ausländischen Firmen in Ungarn unlängst auferlegt wurden, hat die Großkonzerne in Rage gebracht. Zum Start des ungarischen Ratsvorsitzes in der EU forderten dreizehn bekannte europäische Unternehmensführer Sanktionen gegen die Regierung in Budapest, sollte diese nicht "von der Bedeutung stabiler legaler Bedingungen für Investoren" überzeugt werden können.

Die große Mehrheit der ungarischen Bevölkerung unterstützt die Fidesz-Politik, auch weil sie sich positiv von der mit technokratischer Kaltschnäuzigkeit durchgesetzten neoliberalen "Reform"politik der "sozialistischen" Vorgängerregierung unterscheidet. Im EU-Rahmen dürfte der Spielraum für eine sozial verträgliche Wirtschaftspolitik indes äußerst gering sein. Umso größer aber ist der politische Spielraum, den die Fidesz erobert hat, was sich auf lange Sicht wohl eher nicht zum Vorteil der Unterprivilegierten auswirken dürfte.

*** Aus: junge Welt, 3. Januar 2011 (Kommentar)


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