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"Die Arbeitslosigkeit beschäftigt die Menschen mehr als die Politik"

Die Ungarinnen und die Demokratie. Der Historiker György Hodos im WOZ-Interview *


Immer mehr autoritäre Gesetze, immer weniger Freiheiten – doch die grosse Mehrheit der ungarischen Bevölkerung schaut nur zu. Warum ist das so? Sind die Gründe dafür in der Geschichte des Landes zu suchen? Und welche Fehler hat die Linke dabei gemacht? Antworten des Historikers György Hodos.


WOZ: Seit bald zwei Jahren baut Ungarns populistische Rechte Staat und Gesellschaft um. Machen Sie sich als linker Intellektueller da Sorgen?

György Hodos: Persönlich bereitet mir das keine Sorgen, ich pfeife auf die ungarische Entwicklung; ich bin schliesslich neunzig Jahre alt (lacht). Ausserdem ist mir das Wohlergehen meiner Frau Judit wichtiger als das Schicksal von Ungarn. Das Land hat so viele unglückliche Perioden überlebt, da wird es auch die derzeitige Entwicklung über­stehen. Und neu ist die Lage ja nicht. Sie ist fast schon eine logische Folge der ungarischen Geschichte. Ausserdem darf man nicht übersehen, dass die Demokratur, die wir derzeit erleben, nicht von allen gewünscht worden war. An den Wahlen im April 2010 haben sich längst nicht alle beteiligt. Die Wahl­enthaltung war – gemessen an westeuropäischen Massstäben – ausserordentlich hoch. Noch immer mischen sich in Ungarn viele nicht in die Politik ein.

Woran liegt das?

Das kommt zum einen von der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die aufeinander­folgenden Imperien, das türkische, das Habsburger, das deutsche, dann das russische, ...

Das ist doch schon eine Weile her!

... die lange Zeit ein unabhängiges Ungarn verhinderten, für das sich die Bevölkerung hätte mitverantwortlich fühlen können. Dazu kommt, dass der gesamte Osten Mitteleuropas von Polen bis Rumänien und Bulgarien ab dem 16. Jahrhundert rückständig und reaktionär war.

Zumindest in den letzten zwanzig Jahren hätte es aber doch genug Möglichkeiten einer demo­kratischen Teilhabe gegeben.

Das schon. Aber man darf nicht die politische Kultur vergessen, die in den 32 Jahren des Regimes von Janos Kadar [1956–1988, Anm. d. Red.] entstanden war. Ich war damals nicht im Land, aber alle meine Freunde haben mir erzählt, dass das nach Meinung vieler keine schlechte Zeit gewesen sei. Kadar hatte es ja verstanden, eine Art Abkommen mit der Bevölkerung zu treffen nach dem Motto: «Ihr überlasst der Regierung die Verantwortung für die Politik und die Wirtschaft, dafür mischen wir uns nicht in euer Leben ein». Das war eine für beide Seiten bequeme Lösung, die Ungarn zur «fröhlichsten Baracke im Osten» machte, wie es damals hiess. Man liess das Privatleben ungestört. Wer unbedingt in die Kirche wollte, durfte in die Kirche gehen. Es gab eine kleine Notiz für die Personalakte, aber niemand kümmerte sich weiter darum.

Und diese Trennung von politischer und privater Welt gibt es noch heute, 22 Jahre nach der Systemwende?

Genau. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung schert sich wenig um das, was die Regierung tut. Sie macht sich um den demokratischen Autoritarismus der Regierungspartei Fidesz und des Ministerpräsidenten Viktor Orban kaum Gedanken. Die Arbeitslosigkeit – und im Osten des Landes sogar der Hunger – kümmert sie viel mehr.

Aber die gebildete Mittelschicht läuft doch Sturm gegen die einschneidenden Veränderungen, die Maulkorb-Erlasse, das demokratiewidrige Medien­gesetz, die vielen Amtsenthebungen im kulturellen Bereich!

Die Intelligenzija ist sehr klein, sie konzentriert sich in der Hauptstadt. Das Volk hingegen hat Angst: Wenn wir den Mund aufmachen, so denken viele, könnten wir auch das Wenige verlieren, was wir heute haben. Und so halten sie sich raus.

Es interessiert also kaum jemanden, was mit den Roma in Ungarn passiert? Und dass der Antisemitismus wieder zunimmt?

Der Antisemitismus reicht tief in der Geschichte zurück, und er wurde während der kommunistischen Periode nie aufgearbeitet. Er blieb ein Tabuthema. Die Partei vertrat damals die Position, dass der Holocaust nicht unsere Sache gewesen sei, sondern die der Nazis. Dabei war hier der Genozid nicht nur staatlich organisiert wie in Deutschland, er ging auch spontan vonstatten; das konzertierte Gemetzel wurde nicht nur von der Regierung verübt, sondern auch von der Bevölkerung. Und weil das im Nachhinein niemand wirklich thematisiert hat, gibt es immer noch einen latenten Antisemitismus. Ein grosses Problem ist das momentan jedoch nicht. Die jüdische Gemeinschaft ist ja auch recht klein. Ganz anders ist das mit den Roma und Sinti, die vor allem im Osten leben und dort durch die Fabrikschliessungen seit der Wende ihre Arbeit ver­loren haben. Sie sind sichtbar und werden attackiert.

Wenn ich Ihre bisherigen Ausführungen richtig verstanden habe, gibt es in Ungarn keine demo­kratische Tradition.

Das ist richtig. Das Volk hat sich selten gewehrt – von wenigen Episoden wie dem Aufstand 1956 abgesehen. Es blieb immer unterdrückt.

Auch 1848 nicht? Da gab es ja in Ungarn ebenfalls eine demokratische Revolution.

Auch damals waren die Akteure eine kleine Minderheit geblieben, die gegen die Herrschaft der Habsburger rebellierten und deren Erhebung von den russischen Truppen schnell niedergeschlagen werden konnte, die von Habsburg zuhilfe gerufen worden waren. Auch die Räterepublik von März bis August 1919 war kein wirklicher Volksaufstand und scheiterte bald.

Woher diese Unterwürfigkeit?

Es hat im Osten Mitteleuropas nie ein starkes Bürgertum gegeben. Die Ursache dafür liegt weit zurück. Während in Westeuropa, insbesondere in England und Frankreich, der Adel im 17. und 18. Jahrhundert die Krise der Feudalwirtschaft durch eine Lockerung der Herrschaftsverhältnisse zu überwinden versuchte, die Leibeigenschaft lockerte und sich vor allem der Kleinadel kommerziell zu engagieren begann, also bourgeoise Interessen entwickelte, wählte Osteuropa einen anderen Weg. Hier verschärften die Herrschaften das Feudalsystem und brutalisierten es, indem sie den zwischenzeitlich freier gewordenen Bauern eine neue Leibeigenschaft aufzwangen, die bis ins 20. Jahrhundert andauerte.

Erklärt das die historischen Unterschiede zwischen West- und Osteuropa?

Zu einem grossen Teil. Während sich im Wes­ten eine Bourgeoisie herausbildete, deren Revolutionen – 1648 in England, 1789 in Frankreich – die Gesellschaften veränderten und Bürgerrechte pos­tulierten, die teilweise auch durchgesetzt wurden, dominierte in Osteuropa das alte Agrarsystem. Es gab keine Urbanisierung, die städtische Marktwirtschaft blieb rudimentär, der Grossgrundbesitz beherrschte die arme und abhängige Landbevölkerung – und dazu kam in Ungarn die Fremdherrschaft, die jede eigenständige Entwicklung und damit auch die Entfaltung demokratischer Ideen verhinderte.

Verstehe ich das richtig? Das gesellschaftliche Desinteresse an demokratischen Verhältnissen wurzelt – überspitzt formuliert – in Entwicklungen, die im 16. Jahrhundert begannen?

Das ist nicht überspitzt for­mu­liert, genauso ist es. Nur sehr spät und nur sehr begrenzt entstand in einigen grösseren Städten eine kleine bür­ger­liche Schicht von Kaufleuten und Rechtsanwälten, und die war zum grossen Teil jüdisch. Dieses Bürgertum ver­schwand mit dem Holocaust. Dazu kam, dass es in der Zeit der Doppelmonarchie in Ungarn kaum eine Arbeiterklasse gab. Im Habsburgerreich konnte sich die Industrie mit Ausnahme der tschechischen Provinz kaum entwickeln – weil das die Herrschenden nicht wollten. Diese Kombination aus feudalen Agrar­strukturen, übermächtigen Gross­grundbesit­zern und dem enorm einflussreichen Klerus verhinderte in Ungarn das Entstehen eines Bürgertums, das hätte aufbegehren können, wie auch einer starken Arbeiterbewegung, die demokratische Rechte hätte fordern können. Die Habsburger haben Ungarn lange unterdrückt.

Ist der heutige Nationalismus eine Reaktion auf diese lange Fremdbestimmtheit? Die Präambel der neuen Verfassung trägt den Titel «Nationales Glaubensbekenntnis».

Der jetzt wieder starke Nationalismus ist keine neue Erfindung; er entstand schon nach dem Ers­ten Weltkrieg. Aber er ist genauso reaktionär und dominant wie damals. Insofern sind sich ja auch die Regime von Miklos Horthy in der Zwischenkriegszeit und von Orban heute sehr ähnlich. Da gibt es nicht viele Unterschiede.

Orban ist also eine Art Wiedergänger von Horthy?

Hinsichtlich ihrer nationalistischen und autoritären Politik gibt es grosse Gemeinsamkeiten. Horthy, der die linke Räterepublik niederkartätschen liess, profitierte vom Trauma, das die Zerstückelung Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte. Ungarn verlor damals einen grossen Teil seines Territoriums an Rumänien, Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei. Ungarisch besiedelte Landstriche gehörten plötzlich zu anderen Staaten, Familien wurden auseinandergerissen. Der Vertrag von Trianon 1920, in dem sich England und Frankreich durchgesetzt hatten, war – langfristig betrachtet – keine sehr kluge Sache. Das erklärt die Popularität von Horthys Nationalismus. Der heutige Nationalismus, vom Fidesz sehr geschickt mit Slogans und Symbolen inszeniert, spielt auf die damaligen Ereignisse an.

Gilt diese Ähnlichkeit auch hinsichtlich faschis­tischer und antisemitischer Tendenzen?

Das Horthy-Regime kann man nicht als faschistisch bezeichnen, das Gleiche gilt für den Fidesz. Reichsverweser Horthy kontrollierte ein autoritär geführtes Land, in dem der Antisemitismus kulturell stark war; er hat hatte schon sehr früh anti­jüdische Gesetze erlassen. Je stärker jedoch die faschistischen Umtriebe wurden, desto stärker wurde auch der Antifaschismus.

Aber gab es nicht auch die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler?

Ja, aber sie spielten erst ab Ende der dreissiger Jahre eine Rolle. In Sachen Antisemitismus war Ungarn zwar Vorreiter, Horthy hingegen hat noch während der letzten Jahre seiner Herrschaft [1920–1944, Anm. d. Red.] versucht, die Faschisten vom Nutzen der wohlhabenderen Juden zu überzeugen. Man brauche die Goldbergers und die Weissens, argumentierte er, die dienten als Händler und Fabrikanten dem Land, das seien gute Ungarn. Na ja, die galizischen Juden hingegen sollten raus aus dem Land ... Für Horthy war das eine Klassen-, keine Rassenfrage.

Gilt das auch für das Orban-Regime?

Absolut. Es hantiert mit Begriffen wie «Heimat», «Gott», «Religion», «Nation» und hat damit einen grossen Teil der Bevölkerung für sich eingenommen. Aber antisemitisch ist es nicht. Orban setzt zwar auf einen starken Staat und hat sich mit seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament auch die Grundlage für eine lange Herrschaft geschaffen, aber antisemitisch ist er nicht.

Und Jobbik, die Partei der Rechtsextremen?

Die schon. Aber auch bei denen steht der Antisemitismus nicht ganz vorne im Programm. Sie können mit ihren zwölf Prozent im Parlament gegen die erdrückende Fidesz-Mehrheit nur wenig ausrichten. Ausserdem ist Jobbik vor allem in Ostungarn stark, wo es sich eher lohnt, sich mit den 800  000 Roma zu beschäftigen als mit den Überresten der jüdischen Bourgeoisie. Solange der Fidesz seinen autoritär-nationalistischen Kurs beibehält, spielt Jobbik keine grosse Rolle.

Spielt die linke Opposition gar keine Rolle?

Die gibt es nicht. Das sozialistische Lager ist zerfallen und zerstritten; es gibt auch keine Liberalen mehr. Und die Gewerkschaften sind politisch eher konservativ eingestellt. Sicher, es gibt noch gute Linke und einen intelligenten Journalismus, beispielsweise in der Tageszeitung «Nepszava». Im Internet machen sich auch oppositionelle Jugendliche über die Regierung lustig. Aber von einer linken Massenbewegung kann keine Rede sein.

Hat das mit den Erfahrungen seit dem Systemwechsel 1989 zu tun?

Viele Erwartungen wurden enttäuscht, das ist richtig. Die Menschen hofften auf ein Wunder. Im Westen, so dachten sie, sind alle reich und alles ist erlaubt. Die Arbeitslosigkeit im Westen und die Schwierigkeiten des Kapitalismus haben niemanden interessiert. Und als das Paradies nicht kam, entstand zwar eine Nostalgie, eine emotionale Hinwendung zur Kadar-Zeit, aber keine kapitalismuskritische Opposition. Wie hätte sie auch entstehen sollen? Immerhin waren ja von 1994 bis 1998 und von 2002 bis 2009 die Sozialisten an der Regierung. Oppositionell war nur der Fidesz.

Kann man sagen, dass die Politik der regierenden Sozialisten mit dazu beigetragen hat, dass die Linke derzeit so schlecht angesehen ist?

Das kann man nicht nur so sagen, das muss man so sagen. Die sozialistische Partei trägt eine schwere Verantwortung für Orbans Zweidrittelmehrheit. Sie hat schon bald den Kontakt zu den Wählern verloren und vieles abgenickt, was aus dem Westen kam – inklusive der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zudem war die Partei von Anfang an von einer korrupten Gruppe dominiert, die sich aus der Kadar-Zeit hatte herüberretten können. Und so ging alles schief. Nichts wurde zu Ende gebracht, auch die guten Programme nicht. Die alten Kader schauten nur darauf, dass sie viel Geld machen und ihre Positionen sichern konnten.

Das tut doch der Fidesz auch.

Das schon. Den Machterhalt verfolgt er vielleicht sogar noch zielstrebiger als die alte Garde. Im Kulturbereich ersetzt die Regierung von einem Tag auf den anderen Leute, die ihr nicht passen, durch willenlose und unfähige Parteigänger. Und sie muss das nicht einmal erklären. Auch im Medienbereich kam sie trotz aller Kritik aus Brüssel weitgehend ungeschoren davon. Laut Mediengesetz, das seit Juli gilt, sollen alle Journalisten «an der Stärkung der nationalen Identität arbeiten», was immer das auch heisst. Und gemäss Paragraf 17 ist es verboten, «Minderheiten oder Mehrheiten offen oder geheim zu beleidigen oder auszugrenzen». Mit dieser Gummivorschrift hat Orban die Medien völlig fidesziert. Die grösste überregionale Tageszeitung «Nepszabadsag» [sie gehört dem Ringier-Verlag, Anm. d. Red.] ist mit ihrer Kritik schon viel vorsichtiger geworden.

Keine Opposition vonseiten des Bürgertums?

Orban versucht, die nationale Bourgeoisie zu stärken. Dass er dem IWF-Einfluss Grenzen setzen will, kommt gut an. Andererseits kann er die ausländischen Investoren natürlich nicht her­ausfordern und will das auch nicht. Seine verbal­radikale Politik des Wir-lassen-uns-von-aussen-nicht-Dreinreden ist jedoch populär, auch beim Bürgertum. Die OTB-Bank, das gröss­te Finanzinstitut des Landes, hat sich von der Krise erholt. Sie macht, was der Fidesz will. Auch die meisten anderen ungarischen Firmen unterstützen die Regierung.

Orban kann offenbar noch lange regieren.

Es sieht so aus. Zwar wird er sein Versprechen, allen einen guten Arbeitsplatz zu beschaffen, nicht einhalten können. Es kann auch gut sein, dass der Fidesz bei der nächsten Wahl weniger Stimmen erhält. Aber er wird die nächsten zwei, vielleicht sogar drei Legislaturperioden überstehen. Derzeit ist er jedenfalls für viele der Gott. Niemand macht den Mund auf, bevor sich Orban nicht geäussert hat.

Das dachte man in Italien auch. Auch da war Silvio Berlusconi lange Zeit unangefochten ...

Eine tröstliche Perspektive. Andererseits ist Orban im Unterschied zu Berlusconi nicht korrupt. Bestechlichkeit haben ihm selbst seine grössten Gegner bisher nicht vorwerfen können. Ausserdem darf man nicht vergessen: Was Berlusconi sagte, bekam alle Welt mit; er galt bald überall nur noch als Clown. Was Orban von sich gibt, steht jedoch selten in den ausländischen Medien. Vor einiger Zeit hat er an einer Konferenz europäische Politiker mit allen möglichen Schimpfworten bedacht – und niemand schrieb darüber. Weil in Europa kaum jemand Ungarisch versteht. Dieses Desinteresse macht uns ebenfalls zu schaffen.

Interview: Pit Wuhrer, Budapest

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 15. Dezember 2011


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