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Die Partei mit dem anderen Weltbild

Ungarn: Erstmals in der Geschichte gelangt eine Ökopartei ins Budapester Parlament

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Ihr Einzug ins ungarische Parlament war eine Überraschung: Kaum jemand außerhalb Ungarns kannte eine Partei namens »Politik Kann Anders Sein«. Doch in der ersten Wahlrunde am 11. April erhielt sie 7,4 Prozent der Stimmen und eroberte vorerst fünf Mandate.

»Lehet Más a Politika« (LMP) -- Politik Kann Anders Sein -- heißt die neue, aufstrebende Partei im ungarischen politischen Leben. András Schiffer, Galionsfigur der LMP, definierte sich und seine Partei jüngst in einem Interview der Wochenzeitschrift »Magyar Narancs« so: »Ökopolitik ist eine typische Politikphilosophie des 21. Jahrhunderts, und sie speist sich aus allen drei großen politischen Traditionen des 19. Jahrhunderts. Wenn es um Freiheitsrechte, Menschenwürde, Rechtstaatlichkeit geht, dann sind wir liberal. Wenn es um die Freiheit zur Selbstbestimmung für die natürlichen Gemeinschaften und um den Schutz der kulturellen Überlieferung geht, dann sind wir konservativ. Und wenn es um gesellschaftliche, globale, ökologische oder auch um die Gerechtigkeit oder Solidarität zwischen den Generationen geht, dann sind wir die Erben der neuen Linken.«

Diese Definition ist nicht die einzige Äußerung der Partei, die darauf abzielt, jeder klaren politischen Einordnung entgegenzuwirken. In den Medien können Vertreterinnen und Vertreter der LMP nicht oft genug betonen, dass sie keinem Weltbild näher stehen als einem anderen. Auf die Frage, ob sie als Grüne auch eine linke Partei seien, lautet die offizielle Antwort: »In Ungarn bedeuten diese Einteilungen etwas anderes als anderswo. In diesem Land definiert sich Linkssein nicht aus einer Vision für die Zukunft Ungarns, sondern daraus, was der Betreffende über die Geschichte des 20. Jahrhunderts denkt. Im so definierten politischen Spektrum wollen wir gar keinen Platz einnehmen, und ein anders definiertes Spektrum gibt es noch nicht.«

Was aber will die neue politische Formation, deren Aufstieg zur Parlamentspartei innerhalb nur eines Jahres beispiellos ist in der Geschichte der dritten Republik? In erster Linie möchte LMP an den engen Kontakten mit der gesellschaftlichen Basis und mit ihren Sympathisanten festhalten. Sie beabsichtigt vor wichtigen Parlamentsabstimmungen die Meinung der Wähler zu erbitten und auf diese Weise den Ansichten der Staatsbürger Gehör zu verschaffen. Über Ideen in Richtung einer ständigen Abberufbarkeit der Abgeordneten will die LMP aber nicht diskutieren, weil dies mit einem demokratischen Rechtsstaat unvereinbar sei, und auch an der Immunität der Abgeordneten will sie nicht rütteln. Eine Erleichterung von Volksabstimmungen in bestimmten Themenbereichen dagegen steht auf dem Programm der Jungpartei.

So liberal die LMP in diesem Sinne ist, so strikt stellt sie sich andererseits gegen die Privatisierung des Gesundheitssystems und des öffentlichen Verkehrswesens. Hinsichtlich der Grundlagen der wirtschaftlichen Ordnung positioniert sich die LMP bestenfalls vorsichtig reformistisch: Im 21. Jahrhundert, so András Schiffer, solle eine Partei sich nicht damit beschäftigen, eine Gefühlsbeziehung zum Kapitalismus zu entwickeln. »Eine gesellschaftskritische Partei wie die LMP muss vielmehr dazu Stellung nehmen, wie die unangenehmen Nebenwirkungen des Neukapitalismus abgewehrt werden können.«

In diesem Sinne hat die LMP denn auch ein 12-Punkte-Programm gegen die im ungarischen Neukapitalismus wuchernde Korruption ausgearbeitet und will mit dem Ziel der Reparatur der zerstörten Umwelt eine grüne Wende herbeiführen. Außerdem möchte die Partei den im Neukapitalismus verarmten Gesellschaftsschichten durch Bildung und andere Programme neue Zukunftschancen geben. Im europäischen Parteienspektrum hat sich die LMP den Grünen angeschlossen.

Was ist also LMP? In der gegenwärtigen Situation ist sie eine geradezu perfekte Projektionsfläche für Ängste und Hoffnungen aller Art. Die Menschen sehen in ihr einfach alles: die heimliche oder zukünftige Satellitenpartei des Wahlsiegers FIDESZ, die »neuen Liberalen«, eine Versammlung von CIA-Agenten, ein Sammelbecken ehemaliger Sozialisten, ein gesichtsloses Mischmasch, die letzte Hoffnung für Ungarn oder gar das Schreckgespenst eines neuen Antikapitalismus. Sprechen werden die Taten.

* Aus: Neues Deutschland, 22. April 2010


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