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Orbáns Kampf gegen die EU trägt Früchte

In Ungarn ist das Lager der Skeptiker erstmals größer als das der Befürworter einer Mitgliedschaft

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Das Gesellschaftsforschungsinstitut Tárki hat diesen Sommer an seinem Eurobarometer geklopft. Das Resultat hat das politische Ungarn überrascht: Erstmals seit dem EU-Beitritt 2004 sind in der ungarischen Bevölkerung die EU-Skeptiker in der Mehrheit.

Bis zum Amtsantritt Viktor Orbáns als Ministerpräsident 2010 wurden bei Befragungen stets solide Mehrheiten für die EU gemessen. Jeweils zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für die EU-Mitgliedschaft Ungarns aus, nur jeder zehnte Befragte war dagegen. Die Zahl derer, die Ungarns EU-Mitgliedschaft als Hemmschuh betrachten, begann indes steil anzusteigen, das Lager der Unentschiedenen wurde kleiner. Jetzt manifestiert sich dieser Trend in einem handfesten Gesinnungswandel: 42 Prozent der Ungarn halten die Mitgliedschaft für schlecht, das Lager der Befürworter ist erstmals in die Minderheit geraten.

Die Ursachen sind mehrschichtig. Die neuen Zahlen können zum einen als Früchte dreijähriger intensiver Staatspropaganda gegen die EU durch Orbán und seine Gefolgschaft betrachtet werden. Auf kritische Äußerungen aus der EU gegenüber dem ungarischen Kurs, die eingeleiteten EU-Verfahren und sonstige Maßnahmen der Union reagierten die ungarische Regierung und ihre Partei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) von Anfang an mit einer einfachen, aber offenbar wirkungsvollen Taktik: Die Europäische Union wurde als Feind, später gar als Erzfeind Ungarns dargestellt, der nichts anderes im Sinn habe, als die freiheitsliebenden Magyaren ihrer Souveränität zu berauben. Natürlich wurde der Kreis der Feinde, wie das bei Populisten wie Orbán allerorts üblich ist, elastisch und flexibel gehalten. Das Banner EU konnte und musste also auch herhalten, wenn beispielsweise aus Deutschland wenig schmeichelhafte Worte an Orbán gerichtet wurden. Ganz im Sinne des von den ungarischen Rechten geschürten Antisemitismus konnten auch das internationale Finanzkapital oder gleich das »Weltfinanzjudentum« mit der EU vermengt werden. Das habe nämlich die Absicht, Ungarn einfach aufzukaufen.

Insbesondere im vergangenen Jahr scheint es bei Fidesz zur Parteirichtlinie geworden zu sein, die EU unaufhörlich zu schelten. Es gibt nämlich kaum mehr eine Wortmeldung von Fidesz-Politikern, in der die EU nicht pflichtgemäß beschimpft wird, und zwar völlig unabhängig von der eigentlichen Thematik, also auch, wenn es um ganz andere Dinge geht.

Zum anderen konnte Fidesz vor einigen Wochen lautstark verkünden, dass man die Kredite der internationalen Finanzinstitute aus eigener Kraft vorzeitig zurückgezahlt und sich damit aus deren erdrückenden Fängen befreit habe.

Die Befragung von Tárki zeigt außerdem extreme schichtabhängige Unterschiede in der Einstellung zur EU. Parallel nicht nur zum Bildungsniveau, sondern vor allem zum Wohlstand nimmt die Zustimmung zur EU zu. Während unter den Menschen, die Monat für Monat mit materiellen Problemen zu kämpfen haben, weniger als ein Viertel die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache hält, sehen 61 Prozent der sorgenfrei lebenden Wohlhabenden die EU in günstigem Licht.

Das zeigt erneut ein gewaltiges Verteilungsproblem. Ungarn hat aus Brüsseler Töpfen beträchtliche Fördermittel erhalten. Im Durchschnitt berappte die EU dabei 90 Prozent der Kosten, die ungarischen Eigenmittel betrugen nur 10 Prozent. Im statistischen Durchschnitt erhielt jeder Staatsbürger bisher 2500 bis 2600 Euro aus der EU-Kasse, was einer Nettoauszahlung von 25 bis 26 Milliarden Euro an Ungarn gleichkommt. Doch in den vergangenen neun Jahren – davon die ersten sechs unter sozialistisch-liberaler Regierung – flossen EU-Gelder vorwiegend in Infrastrukturprojekte und kamen insgesamt Organisationen und Vorhaben zugute, von denen in erster Linie die Betuchten, Akademiker und Manager profitierten. Echte Sozialprojekte gibt es nicht, die Beschäftigungseffekte für die Masse der Bevölkerung sind minimal.

Für den Erfolg Orbánscher Demagogie spricht auch die von der Tárki-Erhebung belegte Tatsache, dass sich EU-Befürworter größtenteils unter den politisch Interessierten finden. Politikverdrossene oder politisch Inaktive lehnen die Mitgliedschaft in überdurchschnittlichem Maß als schlechte Entscheidung ab.

Wie dem auch sei, momentan scheint es, als hätte Orbán seinen Kampf gegen die EU – jedenfalls in Ungarn – schon gewonnen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. September 2013


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