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Ein halbes Jahr Misstrauen

Ungarische EU-Ratspräsidentschaft: Brüssel und Budapest sind froh über das Ende

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Der ungarische Vorsitz der Europäischen Union stand unter keinem guten Stern. Geprägt war er vom Streit um das Mediengesetz, die Verfassung und Attacken des ungarischen Premiers gegen Brüssel. Selbst positive Entwicklungen wurden von der Politik Budapests belastet.

Nachdem Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli an Polen übergeben hat, präsentierte am vergangenen Dienstag Ministerpräsident Viktor Orbán vor dem Europäischen Parlament sein Resummee der Dinge. Erwartungsgemäß meinte er, dass die ungarische Ratspräsidentschaft ein voller Erfolg gewesen sei, alle Ziele seien Wirklichkeit geworden, und Europa sei heute, nach der ungarischen Führung, stärker als es vorher war – auch wenn es die Bürger nicht so empfinden. Ebenso erwartungsgemäß haben EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso, Parlamentspräsident Jerzy Buzek und die übrigen Würdenträger der europäischen Institutionen die Leistung Ungarns gewürdigt.

Die Erwiderungen Orbáns auf kritische Bemerkungen von Sozialisten, Liberalen und Grünen, die ihm nicht passten, fielen dagegen wenig einfallsreich aus. Auch die am selben Tag mit einfacher Mehrheit angenommene Entscheidung des Europäischen Parlamentes, die abermals eine Abänderung der neuen ungarischen Verfassung verlangt, prallte am ungarischen Premier ab. Ein regierungsnaher Kommentator im ungarischen Fernsehen verglich die Wichtigkeit dieser Entscheidung mit dem Akt der Vertretungskörperschaft eines beliebigen US-amerikanischen Bundesstaates. Orbán selbst qualifiziert Kritik an seiner Politik immer wieder als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns ab, gern auch als »internationale Attacken der Linken«. Wie ernst Orbán auf der europäischen Bühne genommen wird, zeigte sich auch daran, dass die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten und die Parlamentsdebatte gerade ein Zehntel aller europäischen Abgeordneten interessierte.

Wie aber hat sich die ungarische Ratspräsidentschaft tatsächlich gestaltet, die schon am Anfang mit einem Fiaskoauftritt Orbáns vor dem Europäischen Parlament begonnen hatte und wegen verschiedener Ereignisse rund um die Rolle Ungarns in der europäischen Gemeinschaft, milde ausgedrückt, immer wieder für Unverständnis gesorgt hat? Die Störfaktoren sind bekannt: Das Mediengesetz, die neue erzkonservative Verfassung und nicht zuletzt eine Rede Orbáns in Budapest, in der er als europäischer Ratspräsident vor jubelndem Publikum verkündete, dass sich Ungarn von Brüssel genauso wenig diktieren lasse, was es zu tun und zu lassen habe, wie seinerzeit von Moskau. Nicht ausschließlich unter Bezug auf diese Peinlichkeiten hieß es in internationalen Medien, dass bis jetzt kein einziges Land ein so schlechtes Image seiner Ratspräsidentschaft hinterlassen habe wie Ungarn.

Laut allgemeiner Beurteilung sowohl in Brüssel wie auch in Budapest haben allerdings die ungarischen Fachlaute gute Arbeit geleistet, was über die Politiker nicht behauptet werden kann. Vor allem Orbán drückte seinen Stempel der ganzen Ratspräsidentschaft auf. Der EU-Skeptiker konnte sich von Anfang an nicht entscheiden, ob er in der EU eine Verbündete oder die Erzfeindin sehen soll. Dies ging so weit, dass er wenige Monate vor der Übernahme des Vorsitzes bei einer Botschafterkonferenz die bevorstehende Ratspräsidentschaft mit keinem einzigen Wort erwähnte.

Ein typischer und ständiger orbánscher Reflex bestand darin, dass er jedes Mal, wenn er kritisiert wurde, so reagierte, als müsse er Ungarn vor einem Frontalangriff der EU verteidigen – was für einen Ratspräsidenten mehr als eigenartig war. Irgendwie stand ihm als überzeugtem Nationalisten die Rolle des Führers einer Staatengemeinschaft die ganzen sechs Monate über schlecht. Ein zweites Problem war, dass Orbán in Ungarn, als er an die Macht kam, den ungarischen Staatsapparat komplett umorganisierte. Die Tatsache, dass dabei Riesenministerien entstanden sind, in denen Dutzende Ressorts unter einem Dach zusammengespannt wurden, führte im letzten halben Jahr sehr oft zu Kompetenzproblemen auch in EU-Angelegenheiten, die nicht geklärt werden konnten.

Doch auf drei Gebieten, auf denen die ungarische Politik ein wenig mitgespielt hat, erntete Budapest eindeutige Anerkennung. Eines davon waren die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, die von einem ehemaligen ungarischen Botschafter in Kroatien geleitet wurden, der sich bestens auskannte. Ein anderes Feld war die Strategie für den Donauraum, ein Entwicklungsprogramm für die Regionen und Länder, die zum Einzugsgebiet des Flusses gehören. Der Plan soll zur nachhaltigen Entwicklung der Donau-Makroregion sowie zum Schutz der Naturgebiete und landschaftlicher wie kultureller Werte beitragen. Nach der Ostsee-Strategie der EU, die während des Vorsitzes Schwedens in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 angenommen wurde, ist dies die zweite großflächige grenzüberschreitende Entwicklungsstrategie der Gemeinschaft.

Auch die von der ungarischen Roma-Abgeordneten Lívia Járóka entwickelte EU-Roma-Strategie zur Integration dieser Bevölkerungsgruppe fand eine klar positive Beurteilung. Einen Schatten auf diesen Erfolg warf jedoch die Tatsache, dass kurz nach Vorlage des Entwurfs im EU-Parlament in Ungarn wieder einmal brutale Aktionen zur Einschüchterung der Roma-Bevölkerung begannen. Der ungarische Staat sah diesen Aktionen der Nachfolgearmee der verbotenen ungarischen Garde wochenlang tatenlos zu.

Falls jemand ein Resümee der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft in einem Satz ziehen mag, so könnte am besten der ehemalige ungarische Außenminister Péter Balázs zitiert werden, der ein solches während eines Seminars formulierte: In Budapest sowie in Brüssel hat man aufgeatmet, als diese Präsidentschaft endlich vorbei war. Die ungarische Regierung, weil sie es »überlebt« hat, Brüssel, weil es ein Land »nicht ohne Probleme« doch geschafft hat.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Juli 2011


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