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Wirtschaftsfreunde und Menschenfeinde

Hintergrund. Seit Mai 2010 regiert in Ungarn der rechtskonservative "Bund junger Demokraten" (Fidesz) unter Ministerpräsident Victor Orbán – Eine Zwischenbilanz

Von Sándor Horváth *

Über die politischen, ideologischen und menschenrechtlichen Untaten der ungarischen Fidesz-Regierung unter der Führung des allmächtigen Parteichefs und Ministerpräsidenten Viktor Orbán wurden dem Ausland im vergangenen Jahr einige skurrile Tatsachen bekannt. Viel weniger aber weiß man über die Wirtschaftspolitik, die dem, was in den genannten Bereichen vor sich ging, an Brutalität in nichts nachsteht.

Ab der zweiten Juliwoche trat das ungarische Parlament nach einem Jahr rastloser Tätigkeit seinen wohlverdienten Urlaub an. Die Zahl der seit Mai 2010 verabschiedeten Gesetze zu Wirtschaftsfragen ist rekordverdächtig. Es ist also Zeit für eine Bilanzierung dessen, was die Orbán-Regierung unter dem von ihr auf Schritt und Tritt propagierten »Gemeininteresse« versteht.

Die oberste Priorität für den Ministerpräsidenten und seine Mannschaft – tatsächlich hat er für sein Team im ganzen Land keine einzige Frau als Ministerin finden können – heißt Schuldenabbau. In einem Interview mit der österreichischen Kronen Zeitung Anfang Juni dieses Jahres verkündete der Protestant Orbán ganz im Geiste Max Webers: »Schulden sind Sünden, das steht schon in der Bibel, und jetzt erleben wir Zeiten, in denen die Sünde bestraft wird.« Der Schuldenabbau scheint für ihn und seinen Wirtschafts- und Finanzminister György Matolcsy das Alpha und das Omega des neuen selbständigen Ungarn zu sein. Für diese Freiheit nahm die Regierung sogar einen Bruch mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in Kauf. Der nationalistische Regierungschef betrachtet auch die EU mit Argwohn. Wie in einem im Internet kursierenden Protokoll zu lesen ist, erklärte der dem Demagogischen niemals fernstehende Orbán ausgerechnet während der ungarischen EU-Präsidentschaft, am 15. März, dem ungarischen Nationalfeiertag zum Jahrestag der Revolution von 1848, in Budapest: »Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir Ungarn mehr für die Freiheit gekämpft, wir haben für sie mehr Opfer erbracht als alle anderen europäischen Nationen. (Applaus) Treu zu unserm Schwur haben wir es 1848 nicht geduldet, daß uns aus Wien diktiert wird. 1956 und 1990 haben wir nicht geduldet, daß uns aus Moskau diktiert wird. Wir lassen es auch jetzt nicht zu (beginnender Applaus), daß uns aus Brüssel oder von sonst irgendwoher diktiert wird (Ovationen).« Zum besseren Verständnis für außerungarische Wesen: «Irgendwo« bezeichnet in der Codesprache der ungarischen Rechtsradikalen die Weltverschwörung des jüdischen Finanzkapitals.

Flat Tax

Das wirtschaftspolitische, mit nationalistischer Rhetorik unterlegte Programm der Orbán-Regierung unterscheidet sich in wesentlichen Grundzügen jedoch nicht vom Wirtschaftsliberalismus vieler anderer europäischer Länder, fügt dem aber spezifische radikale ungarische Ergänzungen hinzu. Das Aufbringungen der Mittel für den Staatshaushalt wird mehr denn je auf die unteren Gesellschaftsschichten abgewälzt, die öffentliche Hand baut ihre Ausgaben fleißig ab und kürzt dabei in erster Linie die Sozialausgaben drastisch: Die Gehälter im öffentlichen Dienst werden eingefroren, die Realwerte der Pensionen vermindert, die Ausgaben für Gesundheitswesen, Bildung und Infrastruktur gedrosselt. Obendrein dienen fast alle Maßnahmen ganz bewußt dem Wohl der Reichen und richten sich gegen die Armen und Hilfsbedürftigen. Mit alledem reagiert die Regierung keineswegs auf verstärkten Druck seitens der EU oder internationaler Finanzorganisationen. Die Radikalisierung ist hausgemacht. Die Wirtschaftspolitik der Orbán-Regierung kann als die größte Umverteilung zugunsten der Reichen in der ungarischen Geschichte gewertet werden.

Eine der diesbezüglichen zentralen Maßnahmen war die Einführung eines neuen Einkommenssteuersystems, nämlich einer Flat Tax von 16 Prozent für alle. Begründung: Ein solches System sei deswegen gerecht, weil »die Vielverdiener viel bezahlen und die Geringverdiener wenig«. Vor der Einführung der Flat Tax variierte der Steuersatz zwischen 17 und 32 Prozent. Zugleich wurden viele Abschreibungsmöglichkeiten und die Steuerfreiheit für Minimaleinkommensbezieher – und darunter fallen laut offizieller Statistik mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen, plus Schwarzarbeit versteht sich – gestrichen.

Ungeachtet einer fünfprozentigen Erhöhung des Mindesteinkommenssatzes haben viele Ungarinnen und Ungarn damit seit der Einführung der Reformen weniger Geld in der Tasche als davor. Im früheren System fielen sage und schreibe 90 Prozent aller Steuerpflichtigen in die 17-Prozent-Steuerklasse. Nach dem ersten Einheitssteuermonat war der Aufruhr ziemlich unüberhörbar, und die Regierung mußte zugeben, daß die dem Allgemeinwohl dienende Flat Tax doch nicht jedem etwas brachte. In der Tat profitieren netto, nach allen Abzügen und unter Berücksichtigung aller Neuregelungen, nur jene, die mehr als das 2,5- bis Dreifache des Durchschnittslohns verdienen. Zu guter Letzt hat sich die Regierung mittlerweile entschließen müssen, die Verringerung der Nettoeinkommen im öffentlichen Sektor zu kompensieren. Dies kostet den Staat etwa 20 Milliarden Forint (etwa 75 Millionen ­Euro). Die Regierung versuchte, die Privatwirtschaft mit Drohungen dazu zu bringen, ebenfalls gewisse Kompensationsmaßnahmen durchzuführen, naturgemäß mit wenig Erfolg.

Die enormen Steuergeschenke an die Reichen bedeuteten natürlich einen kaum zu kompensierenden Einnahmeausfall für den Staatshaushalt. Schon zuvor und unter anderem im Kontext der geplatzten Verhandlungen mit dem IWF im Sommer 2010 hatte die Regierung sich zu großangelegten Geldbeschaffungsmaßnahmen entschlossen.

Der erste Schritt war eine Extrasteuer für die Banken, den Telekommunikations- und Energiesektor bzw. den Groß- und Kleinhandel, die einmalig 360 Milliarden Forint (1,3 Milliarden Euro) bringen sollte. Die Unternehmer wälzten diese aus heiterem Himmel einschlagende Belastung, da sie sich nun einmal nicht als karitative Institutionen betrachten und ungeachtet der privaten Einkommenssteuergeschenke für die Besserverdienenden unter ihnen, schön unauffällig auf die Bevölkerung ab. Ursprünglich war die Extrasteuer als ein einmaliger Beitrag für 2010 geplant, doch wurde sie zuerst bis 2012, nicht viel später bis 2014 verlängert.

Renten in Gefahr

Einen zweiten, viel größeren Coup stellte jedoch die Wiederverstaatlichung des von der sozialliberalen Regierung (übrigens damals mit Unterstützung von Fidesz) eingeführten Privatpen­sionssystems per 1. Februar dieses Jahres dar. Dies brachte als Einnahmen für die Staatskasse die angehäuften Pensionsbeiträge von zehn Jahren, eine einmalige enorme Summe von 3000 Milliarden Forint (etwa 11,1 Milliarden Euro). Dies hat das Staatsbudget für dieses Jahr gerettet, und auch für das nächste Jahr bleibt noch etwas übrig. Ein Großteil dieser Rentenansparungen wird für den Schuldenabbau verwendet. Im Juni verkündete Orbán während eines Aufenthalts in Serbien stolz: »Die Schuldenquote des ungarischen Staates wird in einem Schritt von 81 auf 77 Prozent des BIP gesenkt«. Damit aber nicht genug: Ziel ist in einer ersten Etappe die Senkung der Schuldenquote auf 65 bis 70 Prozent, und dann sieht man weiter. Ein weiteres Vorhaben besteht darin, das Defizit des Staatshaushalts 2012 auf 2,5, 2013 auf 2,2 und 2014 auf unter zwei Prozent zu drosseln. Dies ist ein weit ehrgeizigeres Ziel, als es IWF oder EU von Ungarn verlangen würden. Was mit dem Staatshaushalt in späteren Jahren werden soll, wenn einmal einverleibte Riesensummen aus den ehemaligen privaten Rentenkassen nicht mehr als Einnahme geführt werden können, kümmert die Fidesz-Regierung derweil nicht. Sie rechnet nämlich, daß ihre, wie Orbán sie gerne tituliert, »nicht gewöhnliche« Wirtschaftspolitik ein Wachstum von chinesischen Ausmaßen, sprich etwa fünf bis sieben Prozent pro Jahr, bringen wird. Zwar halten ernst zu nehmende Ökonomen im In- und Ausland dies für kompletten Unsinn, doch scheint einer skrupellosen Regierung, die sich auf eine servile Zweidrittelmehrheit im Parlament verlassen kann, nichts auf dieser Welt Sorgen zu bereiten.

Unterdessen sind im ungarischen Rentensystem keineswegs die ehemaligen Einzahler in die privaten Rentenkassen Opfer der schlimmsten Ungerechtigkeiten, sondern die besonders Hilfsbedürftigen – wie könnte es anders sein unter der Herrschaft einer Partei, die Arme, Kranke und Ausgelieferte schon immer als an ihrem Elend »selbst schuld« betrachtet hat. Eine erste Reform brachte das generelle Verbot, die Pensionen um einen höheren Prozentsatz als jenen der jeweiligen Inflationsrate zu erhöhen. Dies gilt unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Tatsächlich bedeutet dies, daß der Realwert der Renten, die in Ungarn für einen großen Teil der Rentner so niedrig sind, daß sie ihnen nicht einmal das nackte Überleben sichern, auf unbestimmte Zeit eingefroren oder sogar reduziert werden soll. Tatsächlich steigen die Renten derzeit nicht einmal im Gleichschritt mit der Geldentwertung.

Zugleich liegt ein Vorschlag zu einer Verfassungsänderung vor dem Parlament, der es ermöglichen soll, schon vor Jahren staatlich zuerkannte Früh- oder Invaliditätsrenten zu »überprüfen«. Dabei soll es möglich werden, Frührenten zu verringern oder auf Sozialhilfeniveau herabzusetzen, und Invaliditätsrentnern den Bezug wieder abzuerkennen, falls dafür eingerichtete Kommissionen die Betroffenen im Zuge eines neueingeführten Überprüfungsverfahrens für arbeitsfähig erklären. Ein solcher Schritt bedarf natürlich einer rückwirkenden Gesetzgebung, die in einem Rechtsstaat eigentlich undenkbar sein sollte, doch im heutigen Ungarn der Fidesz-Regierung sind derartige Akte schon längst gang und gäbe. Ziel ist es auf jeden Fall, in diesem Jahr 93 Milliarden Forint (etwa 338 Millionen Euro), im nächsten Jahr 129 Milliarden (469 Millionen Euro) zu Lasten der Rentnerinnen und Rentner einzusparen.

Das Perverseste daran ist das erklärte Vorhaben, 90 Prozent der jeweiligen Summe (88 bzw. 117 Milliarden Forint) von den ohnehin äußerst niedrigen Invalidenrenten abzuzwacken. Es sei doch jedem klar, so heißt es, daß die Behinderten größtenteils Betrüger, sprich Rentenschmarotzer seien.

Ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Ministerialentwurf mit der Nummer 858/KIM/2011 kündigt wesentliche Elemente des Solidaritätsprinzips auf. In Zukunft soll jeder nur soviel Rente bekommen, wie er oder sie eingezahlt hat, und diese Summen sollen auf »Personenkonten« registriert werden. Dieses Individualisierungsprinzip hatte bisher nur für die nunmehr wiederverstaatlichten privatisierten Säulen des Rentensystems gegolten. Alle Früh- und Invalidenpensionen sollen zur »Einkommens­ergänzungsbeihilfe« degradiert werden. Dies hätte den schönen Nebeneffekt, daß sie mit keinerlei Mechanismus einer auch nur teilweisen Inflationsanpassung verbunden wären, damit sie mit den Jahren nicht erhöht werden müssen. Es wurde schon vor längerer Zeit klargemacht, daß die Rentenzahlungen zukünftig an die jeweils vorhandenen Geldmittel angepaßt werden, was den (noch) geltenden gesetzlichen Bestimmungen widerspricht.

Wie die Herrscher des Landes mit gesellschaftlichem Widerstand umgehen, zeigte eine Bemerkung Orbáns, nachdem er erfahren hatte, daß die Gewerkschaft der Polizisten, Feuerwehrleute etc. – Berufsgruppen also, unter denen es besonders viele Frührentner gibt – eine Petition gegen die Vorhaben im Rentensektor formulierten. Der Ministerpräsident ließ öffentlich wissen, daß diese vom »Staatssekretär für Kasperle-Angelegenheiten« entgegengenommen werde, und Parlamentspräsident László Kövér, nebenbei Taufpate eines Orbán-Kindes, legte noch eins drauf, indem er die Uniformierten wortwörtlich als »Scheiße im Gras« bezeichnete.

Massiver Sozialabbau

Den Lohnabhängigen ergeht es seit der Machtübernahme des Fidesz nicht besser als den Rentnern, sie werden systematisch und dauerhaft degradiert. Die Orbán-Regierung hat verschiedenste arbeiterfeindliche Maßnahmen durchgeführt. So müssen zum Beispiel jene 27 Prozent So­zialversicherungsbeiträge, die bei der Beschäftigung von Dienstleistern in Privathaushalten bis zu diesem Jahr die »Arbeitgeber« belasteten, von nun an von den Beschäftigten selbst entrichtet werden. Doch damit nicht genug, ab sofort haben sie zusätzlich einen »Eigenbeitrag« von 17,5 Prozent zu leisten. Allzu ungerecht ist die Orbán-Regierung dann wiederum nicht, bittet sie doch auch die »Arbeitgeber« mit einer monatlichen »Registrationsgebühr« von umgerechnet sage und schreibe 3,5 Euro zur Kasse.

Ein weiteres reichenfreundliches Gesetz war die Abschaffung der Erbschaftssteuer und der Besitzsteuer für PKW, Wasser- und Luftfahrzeuge mit großer Leistung im Spätsommer des vergangenen Jahres. Unterdessen schaffen Reformen des Arbeitsrechts eine Situation, in der die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter auf in Europa einzigartige Weise beeinträchtigt werden. »Dritte Welt«-Verhältnisse sind angesagt. Auch nur halbwegs gesicherte Arbeitsplätze gibt es praktisch nicht mehr, sogar Beamte können ohne Begründung mit einer Kündigungsfrist von zwei Monaten und unabhängig vom Dienstalter schlicht entlassen werden.

Die Unternehmer bekommen außerdem beinahe volle Freiheit zur Umschichtung der Arbeitszeit, sie können Urlaubszeiten nach ihrer Laune bewilligen oder verschieben und haben freie Hand bei der Entscheidung, wie sie Überstunden- und Feiertagsarbeiten zu kompensieren gedenken. Zugleich werden Steuerabschreibungs- und Steuervergütungsmöglichkeiten für Lohnabhängige in den nächsten beiden Jahren völlig abgeschafft.

Das Streikrecht wurde eingeschränkt. In jenen Sektoren der Arbeitswelt, durch die die sogenannte Grundversorgung des Landes garantiert wird, sind Streiks überhaupt illegal geworden. Der dabei zentrale Begriff der »minimalen unerläßlichen Dienstleistung« wurde dabei in keiner Weise näher definiert. Eine öffentliche Debatte darüber führte die Regierung nicht, die Institutionen der Sozialpartnerschaften waren schon bei der Machtübernahme des Fidesz für inexistent erklärt worden. »Seit die Orbán-Regierung die Macht übernommen hat, konsultiert sie sich nicht mit den Sozialpartnern. Sie hat kein einziges Mal den Interessenausgleichsrat einberufen, wie es das Gesetz vorschreibt«, berichtete Péter Fiedler von der Gewerkschaft Liga in einem Interview für Le Monde diplomatique.

»Wer nichts hat, ist genausoviel und nicht mehr wert«, erklärte der Fidesz-Fraktionsvorsitzende János Lázár öffentlich im Frühjahr 2011, als nach und nach erste Umrisse der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik bekannt wurden. Diese Aussage könnte als Leitsatz der ungarischen Sozialpolitik verstanden werden. Die Familienbeihilfe wurde, ähnlich wie unter der ersten Orbán-Regierung 1998–2002, eingefroren; Kinder sollen statt dessen durch Steuerbegünstigungen »honoriert« werden – auch dies zum Vorteil der Gutverdiener. Die brutalste Maßnahme ist jedoch ohne Zweifel die Verkürzung des neunmonatigen Arbeitslosengeldes auf drei Monate. Damit nicht genug, auch die Bezugshöhe soll während der drei Monate laufend verringert werden. Nach drei Monaten Arbeitslosengeld werden die Erwerbslosen zur gemeinnützigen Arbeit, also zu typischen Ein-Euro-Jobs (genauer gerechnet Halb-Euro-Jobs) gezwungen, wenn sie weiterhin irgendwelche Leistungen beziehen wollen. Doch auch diese zwangsarbeitsähnliche Beschäftigung darf nicht mehr als vier Stunden am Tag ausgeübt werden, denn erstens gibt es nicht genug gemeinnützige Arbeit, und zweitens soll ja mit aller Kraft reguläre Arbeit gesucht werden.

Infolge der Wirtschaftskrise, die bei den Gemeinden zu massiven Einnahmeausfällen führt, verschärft durch neue diesbezügliche Regierungsbestimmungen, gibt es außerdem sehr viel weniger gemeinnützige Arbeit im Lande als früher. Nach manchen Berechnungen ist der Umfang um die Hälfte, nach anderen Berechnungen um drei Viertel zurückgegangen. Dabei stellt dieser Typus von Arbeit in zahlreichen Dörfern praktisch die einzige Möglichkeit dar, überhaupt zu arbeiten. Seit Beginn der Amtszeit von Fidesz ist die Zahl der Erwerbslosen auf 680000 angestiegen, das entspricht einer offiziellen Arbeitslosenraten von über elf Prozent. Die tatsächliche Situation ist in Ungarn aufgrund der extremen regionalen Disparitäten noch schlimmer, als es statistisch auf den ersten Blick aussieht: Von den zwanzig ärmsten Regionen der EU befinden sich vier in Ungarn. Um eventuelle Lücken der neuen sozialen Gesetzgebung zu schließen, gilt als oberster Grundsatz, daß die Summe der Sozialleistungen ab sofort unter dem Wert des Mindestlohns liegen muß.

Eine weitere gute Idee der »volksnahen« ungarischen Regierung ist die Abschaffung des sogenannten »passiven Krankengeldes«. Es war in Ungarn schon seit einiger Zeit möglich, krankgemeldeten Beschäftigten zu kündigen, diese bekamen jedoch das Krankengeld noch weiter ausbezahlt. Diese Regelung wurde jetzt ersatzlos gestrichen, das heißt für die Betroffenen, daß auf die Kündigung umstandslos das Ende des Geldbezugs folgt. Das Krankengeld beträgt übrigens seit dem oben erwähnten Nationalfeiertag am 15. März nur mehr die Hälfte der bisherigen Leistungen. Gesetzlich erlaubt wurde es dagegen, sich einen besseren Platz auf den Wartelisten für ärztliche Behandlung käuflich zu erwerben.

Spaltung der Gesellschaft

Ergänzt wird all das durch ein wirklich widerwärtiges taktisches Instrument der Orbán-Regierung. Wann immer sie Leistungen streicht und Geld wegnimmt, verbindet sie dies mit Drohungen und Kriminalisierung. Als die Renten wiederverstaatlicht wurden, hat Orbán die Rentenversicherungen als Hasardeure bezeichnet, die die Gelder der Bevölkerung im Roulette verspielen.

Arbeitslose und Kranke werden als »Arbeitsscheue« und »Krankengeldbetrüger« dargestellt, denen man schon noch auf die Schliche kommen und dann den Prozeß machen werde. Neben diesen taktischen Schmutzkampagnen gehört zur Kommunikation Orbáns auch, daß er immer wieder betont, daß seine wirtschaftspolitischen »Reformen« überhaupt keine Sparmaßnahmen seien, denn letztere gehörten ausschließlich zum das Volk schindenden Repertoire der Politik der früheren sozialistischen Regierung. Beinahe wöchentlich verkündet der Regierungschef, so etwa am »Tag der Arbeit«, dem 1. Mai 2011, im Fernsehen: »Es kommen keine Einschränkungsmaßnahmen, weil diese zu nichts führen«.

Kann aber diese extreme Wirtschaftspolitik allein mit dem fast manischen Drang zum Schuldenabbau erklärt werden? Ein zweites Ziel dieser Regierung ist laut ihrer eigenen Aussagen die Schaffung einer starken und lebensfähigen Mittelschicht. Realiter wird, wenn überhaupt, eine schmale gehobene Mittelschicht geschaffen oder stabilisiert. Der frühere ungarische EU-Kommissar László Kovács bezeichnete Orbán’s Umverteilungsmaßnahmen als die Politik eines verkehrten Robin Hood, der von den Armen raubt, um den Reichen zu geben. Ungarn ist unaufhaltsam und immer stärker in zwei Gesellschaften gespalten. Die extrem verwässerten arbeitsrechtlichen und arbeitsmarktpolitischen Bestimmungen nehmen jenen, die von normaler Erwerbsarbeit leben, alle Rechte und jedes Sicherheitsgefühl. Das neue ungarische Grundgesetz verhilft einem weitreichenden Subsidiaritätsprinzip, nach dem zuallererst Angehörige für bedürftige Angehörige sorgen müssen, zu Verfassungsrang, während es über die soziale Verantwortung des Staates den Mantel des Schweigens breitet. Den Reichen und Superreichen fliegen dagegen immer mehr Geld und Privilegien ohne jedes weitere Zutun zu, und sie sind froh, daß sie mit den gegen den Absturz Kämpfenden gar nicht mehr in Berührung kommen müssen, weil die Zweiteilung der Gesellschaft vollendete Tatsache ist.

Um ihren Weg zum Heil bis zum bitteren Ende beschreiten zu können, bedient sich die Fidesz-Regierung einer mehr als gefährlichen politischen Praxis. Mit der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit und einer autoritär organisierten Parteistruktur und Abgeordnetenwahlmaschine hat sie alle Schranken des in Demokratien üblichen Gesetzgebungsprozesses weggefegt und eine verfassungswidrige, ja sogar rückwirkende Gesetzgebung zum Alltag gemacht. Das macht aber nichts, denn die Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes sind schon längst beschnitten, in Wirtschaftsangelegenheiten darf er gar keine Entscheidungen mehr treffen. In den Aufsichtsrat der Nationalbank, in den Rechnungshof und an die Spitze der staatlichen Finanzaufsichtsbehörde wurden ausnahmslos Vertrauenspersonen Orbáns bestellt. Sowohl im Währungsrat als auch im Budgetrat sitzen mehrheitlich regierungstreue Kader. Ein Finanzministerium existiert nicht mehr, Alleinherrscher in der Wirtschafts-, Finanz-, Beschäftigungs- und Einkommenspolitik ist György Matolcsy, der als Superminister und im Einklang mit dem Fidesz-Chef ohne jegliches Gegengewicht über die Geschicke der ungarischen Bevölkerung entscheidet. Er bestimmt auch über Fragen, die in einer gewöhnlichen Staatsstruktur unzweifelhaft in der Kompetenz anderer Ressorts liegen würden, so zum Beispiel über die Herabsetzung des Schulpflichtalters vom 18. auf das 16. Lebensjahr, über die Degradierung von Frührenten zur Sozialversorgung oder die Beschränkung der Zahl der Studienplätze von 53000 auf 30000. All dies schafft eine Atmosphäre, wo weder Eigentum noch menschliche Existenz weiterhin sicher erscheinen.

Ziel: Mehr Armut

Einige der oben genannten Maßnahmen sollen auch dazu dienen, das dritte Ziel der ungarischen Wirtschaftspolitik neben Schuldenabbau und Schaffung der sogenannten breiten Mittelschicht zu erreichen. Dieses Ziel ist das wettbewerbsfähige Ungarn. Dazu scheint den neuen ungarischen Machthabern der Abbau gesetzlicher Garantien, die die Beschäftigten schützen, ebenso notwendig wie die geplante Senkung der Unternehmenssteuer. Die Regierung scheint sich da mit dem ungarischen Milliardär Sándor Demján ganz einig zu sein. Dieser äußerte sich bei einem Treffen mit chinesischen Geschäftsleuten im Budapester Hotel Hilton im April ohne Hehl und Scham folgendermaßen: Der Motor der Vorwärtsentwicklung sei auch in China die Armut gewesen. Armut sei die beste Motivation, und diese Bedingung könne auch in Ungarn geschaffen werden.

Die Zukunft Ungarns entscheidet sich, was die inneren Voraussetzungen betrifft, daran, ob sich in den Köpfen und der Psyche der ungarischen Bevölkerung Vernunft und Selbsterhaltungstrieb oder der für das Land jahrhundertelang charakteristische Konservativismus, selbstzerstörerischer und ausgrenzender Nationalismus als stärker erweisen wird. Das allerdings müßte sich eher schnell herausstellen, erklärte doch Viktor Orbán in seinem eingangs erwähnten Interview wortwörtlich: »Ich werde den Kreis der Zweidrittelgesetze nur in einem Punkt erweitern: dem Bereich der Wirtschaftsgesetze. Und ich mache auch kein Geheimnis daraus, daß ich diesbezüglich die Hände der nächsten Regierung binden möchte. Und nicht nur der nächsten, sondern der nächsten zehn Regierungen!«

* Sándor Horváth ist freier Journalist und Musiker. Er lebt in Budapest und Berlin.

Aus: junge Welt, 22. Juli 2011



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