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"Arbeit, Heim, Familie, Ordnung"

Von Keno Verseck *

Der Systemwechsel vom diktatorischen Staatskommunismus hin zum demokratischen Kapitalismus ist gescheitert. Jetzt ist Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orban auf dem Weg zu einem populistisch-autoritären Regime.

Vor zwei Jahrzehnten war Ungarn der Vorzeigereformstaat in Osteuropa. Trotz schwerer Schuldenkrise und hoher Arbeitslosigkeit verlief der «Systemwechsel», wie die Ungar­Innen ihre Wende nannten, so reibungslos wie kaum anderswo. Das Land wurde schnell Liebling der ausländischen InvestorInnen und zum Synonym für einen erfolgreichen Übergang von Diktatur zu Demokratie, von Plan- zur Marktwirtschaft.

Heute ist von diesem Ruf nichts mehr übrig. Derzeit steht Ungarn wegen eines restriktiven Mediengesetzes europaweit am Pranger und wegen einer sogenannten Krisensteuer, die vor allem ausländische Unternehmen trifft. «Regierung unter Dauerfeuer» titelte die oppositionelle Budapester Tageszeitung «Nepszabadsag» (Volksfreiheit) kürzlich und berichtete unter Berufung auf Insider süffisant, Ministerpräsident Viktor Orban und andere Mitglieder des Kabinetts hätten bei ihren letzten Sitzungen immer wieder «nach Luft geschnappt», so sehr habe sie die internationale Kritik getroffen.

Orban versprach bei einem Besuch des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso letzte Woche, seine Regierung werde das Mediengesetz ändern, sollten dessen Bestimmungen dem EU-Recht zuwiderlaufen. Ob er das ernst meint, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Schliesslich tönt er seit Monaten immer wieder, die EU sei «nicht Ungarns Vorgesetzte».

Säuberungswelle nach dem Sieg

Dabei enthält das kurz vor Weihnachten verabschiedete neue Mediengesetz tatsächlich eine Vielzahl von Gummiparagrafen, mit denen JournalistInnen und Redaktionen gegängelt werden können. So sind sie zu streng ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Meinungen oder Inhalte, die Religionen oder Weltanschauungen verletzen oder «ruhestörend» wirken, sind kennzeichnungspflichtig. Für Angestellte öffentlich-rechtlicher Medien hält das Gesetz einen langen Katalog von Inhalten bereit, über die sie positiv berichten müssen. Ihre journalistischen Beiträge sollen beispielsweise den nationalen Zusammenhalt fördern und die Institutionen der Ehe und der Familie respektieren. Bei Nichteinhaltung der Bestimmungen kann ein sogenannter Medienrat, der mit regierungstreuen Mitgliedern besetzt ist, hohe Geldstrafen verhängen – und zwar an der Gerichtsbarkeit vorbei. Kritische Medien können so umstandslos in den finanziellen Ruin getrieben werden.

Die Kritik der EU an Ungarn ist also durchaus berechtigt. Freilich müssen sich die PolitikerInnen in Brüssel, Berlin, Paris und anderswo fragen lassen, warum sie nicht schon längst laut geworden sind. Seit Ende April 2010, nachdem Viktor Orban und sein populistisch-nationalkonservativer «Bund Junger Demokraten» (Fidesz) bei den Parlamentswahlen eine Zweidrittelmehrheit gewonnen haben, wird Ungarn radikal umgebaut. Doch die Geschwindigkeit und Intensität überrascht selbst abgebrühte Fidesz-KritikerInnen. Jozsef Debreczeni, einer der bekanntesten Publizisten Ungarns, spricht von «Willkürherrschaft», die Philosophin Ágnes Heller konstatiert das «Ende der liberalen Demokratie in Ungarn».

Umgehend nach ihrem Wahlsieg begannen Orban und seine Partei mit einer gross angelegten, im postkommunistischen Ungarn einmaligen Säuberung. Hunderte Beamte im öffentlichen Dienst sowie Beschäftigte in Kultur- und Bildungseinrichtungen wurden durch Fidesz-Gefolgsleute ersetzt. Der hoch angesehene liberal-konservative und unabhängige Staatspräsident Laszlo Solyom wurde für die Wiederwahl nicht mehr vom Fidesz unterstützt. Stattdessen liess Viktor Orban den einstigen Fecht-Olympiasieger Pal Schmitt, der ihm treu ergeben ist, Ende Juni vom Parlament ins Amt wählen.

Parallel dazu setzte Orban eine Gesetzgebungsmaschinerie in Gang, die auf Hochtouren arbeitet. Wahlgesetze und Parlamentsaufbau wurden so geändert, dass der einzig verbliebenen grossen Partei, dem Fidesz, langfristig überproportional viel Macht garantiert ist. Als das Verfassungsgericht im Herbst ein Gesetz über die Besteuerung von Abfindungen annullierte, liess Orban die Kompetenzen der Institution beschneiden. Jetzt darf das Verfassungsgericht über Gesetze, die im Zusammenhang mit dem Staatshaushalt stehen, nur noch dann urteilen, wenn Grund- und Menschenrechte bedroht sind. Auch zahlreiche Arbeits- und Gewerkschaftsrechte wurden eingeschränkt: Verwaltungsbeamte und Angestellte im öffentlichen Dienst können ohne Begründung gekündigt werden. Beschäftigte in bestimmten wichtigen öffentlichen Diensten wie etwa dem Bahnverkehr dürfen nur noch dann streiken, wenn sie vorher in Kooperation mit ihren Vorgesetzten einen ausreichenden Notdienst sichergestellt haben.

Gemeinschaft von Führer und Volk

Manche BeobachterInnen sehen auf Ungarn gar noch weit Schlimmeres zukommen: Der Schriftsteller György Konrad beispielsweise befürchtet eine Rückkehr zum autoritären, protofaschistischen Horthy-Regime der Zwischenkriegszeit. Und sein Kollege Rudolf Ungvary wirft Orban sogar vor, er orientiere sich rhetorisch an den faschistischen Pfeilkreuzlern, die 1944 in Ungarn eine mehrmonatige Schreckensherrschaft errichtet hatten.

Das ist weniger weit hergeholt, als es scheint. Bei seinen Auftritten vermischt Viktor Orban nationalistische, rechtspopulis­tische, national-sozialistische und antikapitalistische Phrasen zu einem merkwürdigen Konglomerat. Was er anstrebt, könnte man als formaldemokratisches, neokorporatis­tisches Staats- und Gesellschaftsmodell bezeichnen, in dem staatliche Institutionen, gesellschaftliche Interessenvertretungen und Kontrollinstanzen wie die Medien nur noch Handlanger einer ominösen Gemeinschaft von Führer und Volk sind. Der ungarische Regierungschef selbst nennt es die «Ordnung der nationalen Zusammenarbeit». Orban propagiert sie seit langem und verkündete noch in der Nacht seines Wahlsiegs am 25. April 2010, dass er sie nun verwirklichen werde.

Damit ist Orban seither vorangekommen. Überall in den Amtsstuben hängt eine im Juni letzten Jahres vom Parlament verabschiedete «Politische Erklärung». Darin wird das Wahlergebnis zum Votum der UngarInnen für die neue «Ordnung der nationalen Zusammenarbeit» umgedeutet. Als «Säulen einer gemeinsamen Zukunft aller Ungarn dies- und jenseits der Grenze» sind festgelegt: «Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung».

Träume von Grossungarn

In diesem Geist lässt Orban auch eine neue Verfassung ausarbeiten. Der Entwurf dafür enthält einen Verweis auf die Heilige Stephanskrone, das Symbol tausendjähriger ungarischer Staatlichkeit. Es verkörpert die Schicksalsgemeinschaft aller UngarInnen im Karpatenbecken unter dem Horthy-Regime und begründet die Territorialansprüche auf ehemalige Gebiete Grossungarns.

Um Orbans neue Ordnung propagandis­tisch zu unterstützen, wurden die Medien bereits im Juni letzten Jahres per Verfassungszusatz verpflichtet, an der «Stärkung der nationalen Identität und des nationalen Zusammenhalts mitzuwirken». Dies war auch das Leitmotiv für das nachfolgende Mediengesetzpaket. Im November verabschiedete das Parlament eine «Medienverfassung» – eine Art Kurzversion des Mediengesetzes vom Dezember, in der Werte, inhaltliche Ausrichtung und Verpflichtungen der Medien festgelegt sind. Zugleich wurden die ChefInnen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks sowie der halbamtlichen Nachrichtenagentur MTI ausgetauscht und die rund 3000 Fernseh- und Radioangestellten in ein Beschäftigungsverhältnis überführt, das eine leichtere Entlassung erlaubt.

Eine starke Opposition gegen den Umbau Ungarns brauchen Orban und seine Partei nicht zu fürchten. Nacht acht Jahren an der Macht geniesst die inzwischen zur Kleinpartei geschrumpfte Sozialistische Partei wegen ihrer zahlreichen Korruptionsaffären und ihrer jahrelangen Misswirtschaft keine Glaubwürdigkeit mehr. Die Gewerkschaften sind schwach und zerstritten. Sie schafften es bisher nicht einmal, gegen die Einschränkung der Arbeitsrechte zu protestieren. Und viele aus der Generation unter 35 haben sich den RechtsextremistInnen der Jobbik-Partei zugewandt – ihnen sind selbst Orban und der Fidesz zu etabliert, sie verlangen einen noch härteren nationalistischen Kurs.

In der Bevölkerung ist die Zustimmung zu Orbans Politik gewaltig. Besonders seine antikapitalistische Kraftmeierei kommt bei vielen UngarInnen gut an. Beispiel: die im Oktober letzten Jahres verabschiedete, auf vorerst drei Jahre angelegte sogenannte Krisensteuer. Sie ist zwar formal nicht gegen AuslandsinvestorInnen gerichtet, trifft jedoch durch ihre spezifische Konstruktion fast ausschliesslich grosse westeuropäische Unternehmen aus den Sektoren Energie, Telekommunikation, Handel und Finanzdienstleistung. Zur Begründung sagte Orbán, die UngarInnen hätten genug Opfer gebracht, um die nicht von ihnen verschuldete Finanzkrise zu bewältigen. Jetzt müssten auch diejenigen einen Beitrag leisten, die bisher im Land gut verdient hätten. Gern betont Orbán auch, dass die Epoche des «zerstörerischen und spekulativen Weltkapitalismus» zu Ende und in Ungarn nun die «Zeit des Neuaufbaus und des Schaffens» angebrochen sei.

Gefährliche Apathie

In der fehlenden Opposition sieht der ungarische Schriftsteller György Dalos das grösste Problem: «Gefährlicher als die Rechte selbst ist die Apathie der Gesellschaft, gerade dadurch wird Ungarn zu einer schwachen Demokratie auf niedrigstem Niveau.»

In dieser Apathie zeigt sich auch, dass der Übergang in Ungarn – wie auch anderswo in Osteuropa – in vielerlei Hinsicht gescheitert ist. Die meisten Menschen sind zermürbt von den zwei Jahrzehnten des permanenten Wandels. Die frühere Elite hat sich nahezu nahtlos ins neue System gerettet, die zwischenzeitlich ohnehin nur schwache Mittelklasse ist in Auflösung begriffen. Alle Ansätze der letzten fünfzehn Jahre, Wirtschaft und Finanzen dauerhaft zu sanieren, waren erfolglos. Vor knapp zwei Jahren stand Ungarn gar am Rand der Staatspleite.

Viktor Orbans Antwort darauf ist seine neue «Ordnung der nationalen Zusammenarbeit». Mit ihr führt er den Nachbarn in der Region vor, wie nuanciert man die Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien und demokratischen Werten betreiben kann. Es scheint, als wäre Ungarn heute wieder ein osteuro­päisches Musterland.

Der Fidesz: Von der Kleinstpartei zur Übermacht

Ungarns derzeit regierende populistische, christlich-nationalkonservative Partei «Bund Junger Demokraten – Ungarischer Bürgerbund» (Fidesz) wurde im März 1988 als basisdemokratische Vereinigung antikommunis­tischer Studentinnen und Jungakademiker gegründet. Einer der Mitbegründer war der 1963 geborene, aus einfachen Verhältnissen stammende Jura-Absolvent Viktor Orban. Im Juni 1989 hielt Orban in Budapest eine vielbeachtete Rede, in der er den Abzug der sowjetischen Soldaten aus Ungarn forderte. Diese Rede machte ihn schlagartig auch über Ungarn hinaus berühmt. 1990 zog der Fidesz als zweitkleinste Partei mit 21 Abgeordneten ins erste postkommunistische Parlament Ungarns ein. Nach längeren innerparteilichen Machtkämpfen gelang es Orban 1993, den basisdemokratischen, liberalen Flügel der Partei zu entmachten und den Fidesz auf eine christlich-nationalkonservative Linie einzuschwören. 1998 gewann der Fidesz die Wahlen, Viktor Orban wurde zum ersten Mal Ministerpräsident. 2002 wurden er und seine Partei jedoch abgewählt. Die damalige Wahlniederlage kommentierte Orban mit den berühmt gewordenen Worten: «Wir sind nicht in der Opposition, wir regieren nur nicht. Das Vaterland kann niemals in der Opposition sein.»



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 13. Januar 2011


Nachtrag vom 20.01.2011 **

Es sei die Apathie der Gesellschaft, die Ungarn «zu einer schwachen Demokratie auf niedrigstem Niveau» mache, äusserte sich letzte Woche in der WOZ der ungarische Schriftsteller Györgi Dalos besorgt über den Zustand der Zivilgesellschaft seines Heimatlandes. Während das restriktive Mediengesetz, das die aktuelle, nationalkonservative ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban beschlossen hat, europaweit Kritik auslöste, blieb es in Ungarn selbst weitgehend ruhig.

In den letzten Tagen waren nun doch ers­te oppositionelle, zivilgesellschaftliche Le­bens­zei­chen zu spüren. Am vergangenen Frei­tag­abend protestierten in Budapest rund 15 000 Men­schen gegen das Medienge­setz. Viele TeilnehmerInnen – vor allem die jun­gen – wur­den über die Facebook-Seite «Eine Mil­lion für die ungarische Pressefreiheit» mobili­siert, die mitt­­ler­weile fast 75 000 SympathisantIn­nen zählt. Die Seite fordert ein Medien­gesetz, das «Menschen- und Konstitutionsrechte» respektiert.

Auch die Kulturszene meldete sich zu Wort. Der Pianist Andras Schiff und der Dirigent Adam Fischer riefen letzte Woche in einem offenen Brief alle KünstlerInnen in Europa und der ganzen Welt auf, nach Ungarn zu blicken und die moralischen Grundwerte Europas zu verteidigen. Und in ihrem Heimatland wünschten sie sich mehr mutige Stimmen. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: Der unverhohlen rassistische Publizist Zsolt Bayer veröffentlichte in der regierungsnahen Zeitung «Magyar Hirlap» eine Hassschrift auf die beiden international renommierten Musiker. Ein grüner Oppositionspolitiker zeigte Bayer daraufhin bei der neuen Medienbehörde an, deren Mitglieder allesamt von der Regierungspartei Fidesz nominiert worden sind: bisher ohne Ergebnis.

Kritischen Zeitungen wie der linksliberalen Tageszeitung «Nepszabadsag» macht derzeit offenbar der stille Werbeboykott von staatlichen und staatsnahen Institutionen und Unternehmen mehr zu schaffen als die mögliche Zensur durch die Medienbehörde. So soll allein «Nepszabadsag» im zweiten Halbjahr 2010 über 200 000 Euro an Werbeeinnahmen aus diesem Bereich verloren haben.

Von Jan Jirát

** Aus WOZ (online), 20. Januar 2011; www.woz.ch


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