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Antisoziale Kontinuitäten

Trotz Gleichheitsdemagogie betreibt Ungarns Premier Orban dieselbe Kahlschlagspolitik wie seine Vorgänger. Doch Kurs des wirtschaftlichen Nationalismus führt in den Bankrott

Von Tomasz Konicz *

Die ungarische Rechtsregierung von Viktor Orban steht ökonomisch mit dem Rücken zur Wand. Rund drei Jahre nach der ersten schweren Finanzkrise von 2008, in deren Verlauf Budapest mittels eines 20 Milliarden Euro umfassenden Kreditpaketes der EU und des IFW vor dem Staatsbankrott bewahrt werden mußte, bedroht die rapide ansteigende Zinslast erneut die Zahlungsfähigkeit des Landes. Die wirtschaftlichen Aussichten in Ungarn trüben sich ebenfalls weiter ein: Die Regierung mußte ihre Wachstums­prognose für 2012 von 1,5 Prozent auf 0,5 Prozent revidieren, die OECD geht sogar von einer Rezession von 0,6 Prozent im kommenden Jahr aus. Die Arbeitslosigkeit ist zwischen August und Oktober offiziell bereits auf 10,8 Prozent angestiegen. Am 29. November entschloß sich die ungarische Zentralbank, trotz dieser miesen Wirtschaftsdaten den Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf 6,5 Prozent anzuheben, um so den Kursverfall des Forint und den Anstieg der Zinsen auf Staatsanleihen aufzuhalten. Seit August ist der Forint gegenüber dem Euro um 16 Prozent abgerutscht. Die genannte Maßnahme verpuffte an den Märkten, da die Renditen der Gläubiger zehnjähriger ungarischer Staatsanleihen kurz danach auf knapp zehn Prozent anstiegen.

Wenige Tage zuvor hatte die Abwertung der Kreditwürdigkeit Ungarns durch die Ratingagentur Moodys auf den Ramschstatus »Ba1« zur weiteren Verschärfung der Finanzlage des hoch verschuldeten Landes beigetragen. Ungarn weist die höchste Staatsverschuldung Mittelosteuropas mit 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf. Die politische Führungskaste in Budapest reagierte auf die Abstufung mit unverhohlener Empörung. Ungarns »Minister für nationale Wirtschaft«, György Matolcsy, bezeichnete sie als »völlig grundlos« und einen weiteren »Beweis für die Attacken der Finanzmärkte auf Ungarn«. Sollte noch eine weitere der großen drei Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Ungarns als schlechter bewerten, hätte dies gravierende Folge für die Republik: Dann dürften institutionelle Anleger die ungarischen Staatsanleihen nicht mehr kaufen.

Standard & Poor’s sowie Fitch kündigten hingegen an, die Gespräche zwischen Budapest und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der EU über erneute Krisenkredite abwarten zu wollen, bevor sie eine Entscheidung treffen. Ihren Kanossagang zum verhaßten IWF mußte die ungarische Rechtsregierung bereits am 18. November ankündigen. Das Land brauche einen Wachstumsplan und ein »finanzielles Sicherheitsnetz«, kündigte Wirtschaftsminister Matolcsy die Kehrtwende in Budapest an: »In der derzeitigen Lage können nur der IWF und die EU uns diese Sicherheit bieten.« Schon zu Jahresbeginn sollen entsprechende Gespräche über Krisenkredite und die obligatorischen Kürzungspakete aufgenommen werden, die im Gegenzug umgesetzt werden müßten.

Für Premier Orban kommt diese reuevolle Rückkehr zum IWF einer totalen politischen Blamage und tiefen Demütigung gleich. Er wird zukünftig dieselbe Kahlschlagspolitik betreiben müssen, die er bei seinem sozialdemokratischen Amtsvorgänger Ferenc Gyurcsány so heftig kritisiert hat. Es war gerade diese mit nationalistischen Untertönen angereicherte Rhetorik gegen das Spardiktat des IWF und die Schuldknechtschaft des »internationalen Finanzkapitals«, die der Orban-Partei Fidesz ihren historischen Sieg gegen die Sozialdemokraten ermöglichte. Kurz danach ließ Orban den IWF aus Ungarn werfen und ging auf – begrenzte – Konfrontation zum westlichen Finanzkapital, das den entsprechenden Sektor in Ungarn weitgehend kontrolliert. Die Banken wurden mit Sondersteuern zur Kasse gebeten, während die Versicherungswirtschaft die erneute Verstaatlichung der zuvor teilprivatisierten Pensionskassen beklagte – diese Mittel wurden dann dem Staatshaushalt zugeführt.

Im September schließlich erließ die Regierung Orban ein Gesetz, das eine Umwandlung der Fremdwährungskredite zu einem festen und für die Schuldner günstigen Wechselkurs ermöglicht. Die westlichen Banken müssen Verluste von rund einer halben Milliarde Euro hinnehmen. Vor Krisenausbruch haben viele Ungarn sich von ihnen Kredite in westlichen Währungen aufschwatzen lassen, die aufgrund des rapide voranschreitenden Forint-Verfalls kaum noch finanzierbar sind. Auf rund 16 Milliarden Euro sollen sich diese Fremdwährungskredite in Ungarn summieren, was in etwa 17 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes entspricht. Dennoch kommen nur diejenigen Ungarn in den Genuß dieses »Schuldenschnitts«, die ihn eigentlich nicht benötigen: Diese Verbindlichkeiten müssen zu dem vergünstigten Wechselkurs auf einmal zurückgezahlt werden. In Verzug geratene Ungarn müssen weiter in »Schuldknechtschaft« verbleiben.

Diese Maßnahme ist exemplarisch für die antisoziale Politik Orbans, die in krassen Widerspruch zur sozialen Demagogie seiner Partei gerät. Bei seinen Bemühungen zur Schaffung einer nationalen Bourgeoisie werden die Krisenlasten immer stärker auf die Lohnabhängigen und die Marginalisierten abgewälzt. Nachdem das Kabinett bereits umfassende Kürzungen im öffentlichen Dienst, die weitgehende Entmachtung der Gewerkschaften sowie ein drakonisches Zwangsarbeitsgesetz durchs Parlament peitschte, folgten Ende November weitere unsoziale Maßnahmen. So wurde der Mehrwertsteuersatz von 25 auf 27 Prozent angehoben, und die Möglichkeiten zur Frühverrentung – trotz hoher Arbeitslosigkeit – massiv beschnitten. Mehr als 300000 Frührentner sollen künftig auf ihr Altersgeld eine »Einkommenssteuer« von 16 Prozent zahlen. Diese Maßnahmen wurden von Orban im vorauseilenden Gehorsam kurz nach der Ankündigung des Kanossagangs zum IWF beschlossen – der neoliberale Sozialdemokat Gyurcsány hätte kaum anders gehandelt.

* Aus: junge Welt, 05. Dezember 2011


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