Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Das sind keine Ausrutscher, dahinter steckt Kalkül"

Antisemitismus und Rassismus sind in Ungarn zu einem Riesenproblem geworden. Ein Gespräch mit Marco Schicker *


Marco Schickerdem ist Chefredakteur der unabhängigen ungarischen Zeitung Pester Lloyd.

Am Dienstag ist in Budapest die Jahresversammlung des Jüdischen Weltkongresses (WJC) zu Ende gegangen. Vor dem Tagungsgebäude hatten zeitweise Hunderte zum Teil uniformierte Neonazis demonstriert – wie tief sind Antisemitismus und Haß auf Minderheiten in Ungarn verankert?

Verankert ist der Antisemitismus in fast allen Gesellschaften. Verglichen mit Deutschland ist er bei uns aber spür- und sichtbarer, er macht sich lauter bemerkbar. Das, was in Deutschland der »rechte Rand« ist, ist in Ungarn die Mitte der Gesellschaft. Daß es dazu gekommen ist, liegt auch daran, daß die Regierung von Viktor Orbàn in ihrer Wahltaktik bewußt rechte Positionen abdeckt. Orbàn selbst sagte, er wolle die nächsten 20 Jahre an der Macht bleiben – dafür nimmt er auch den Antisemitismus in Kauf. Der Machterhalt ist ihm wichtiger als der Frieden in der Gesellschaft.

Die Neonazis der Jobbik-Partei lassen alte Greuelmärchen über das Weltjudentum wieder aufleben und deklarieren Ungarn als neues Palästina.

In Ungarn herrscht auch eine große Abneigung gegenüber den Roma – eine Minderheit, die immerhin sieben Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Schon die sozialdemokratische Vorgängerregierung hatte diese Volksgruppe an den sozialen Rand gedrückt – das hat sich bis heute so gesteigert, daß sie vielfach als Abschaum, nicht-ungarisch und störend empfunden werden.

Welche Rolle spielen Orbàn und seine Fidesz-Partei dabei?

Fidesz geht es in erster Linie um die Macht, sie ist die führende Kraft in dem Spektrum rechts von der Mitte. Sie will die »wahren Ungarn« in eine gute Zukunft führen. Zsolt Bayer, ein enger Freund Orbàns, hat indirekt zum Mord an jüdischen Kommunisten aufgerufen und Roma als Tiere beschimpft. Orbàn hat sich nie von ihm distanziert – im Gegenteil: Er ließ Bayer dafür loben, er habe eine wichtige Diskussion angeregt. Orbàn lügt also, wenn er in seinem Grußwort an den WJC von einer »Null-Toleranz-Politik gegen Antisemitismus« spricht.

Spielen Antisemitismus und Nationalismus auch an Schulen eine Rolle?

Parlamentspräsident László Kövér hat – in seiner Funktion als Parlamentspräsident, nicht etwa als Privatperson! –den völkischen Autor Jozsef Nyirö als »Vorbild« bezeichnet. Nyirö war Politiker der Pfeilkreuzler, der ungarischen NSDAP. Blut-und-Boden-Autoren wie er sind nun wieder im Rahmenlehrplan der Schulen vorgeschrieben. Das sind keine Ausrutscher oder Fehltritte – dahinter steckt Kalkül. Fidesz kommt dem rechten Mob bewußt entgegen, um im nächsten Jahr bei Jobbik-Wählern Stimmen zu holen. Orbàn ist völlig klar, daß er links der Mitte nichts abgreifen wird.

Wie wirken sich Antisemitismus und Rassismus praktisch aus?

2006 wurde die »ungarische Garde« gegründet, eine paramilitärische Organisation, die direkt mit Jobbik verbunden ist. Sie bekam nach dem Ausbruch der Bankenkrise im Jahre 2008 enormen Zulauf und marschiert regelmäßig durch Romasiedlungen. Das tut sie weiterhin, obwohl es 2009 verboten wurde. Es gab außerdem eine Mordserie an sechs Roma. Antisemitische Schmierereien haben in den Großstädten deutlich zugenommen, es gibt auch immer mehr Angriffe auf Rabbis. Der Antisemitismus ist sichtbarer geworden, allerdings ist er in Ungarn nicht auf rechte Gruppen beschränkt: Er ist auch in Parteien verbreitet, die sich als »links« verstehen, er ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Gibt es Widerstand gegen diese Rechtsentwicklung?

Am »Marsch der Lebenden«, bei dem die Ungarn der Naziopfer gedenken, nehmen jeweils viele Tausende teil, das ist natürlich ein gutes Zeichen. Kein gutes Zeichen ist, daß sich lediglich 30 Gegendemonstranten dem anfangs geschilderten Aufmarsch von Neonazis entgegenzustellen versuchten. In Deutschland würde man Nazis den öffentlichen Raum nicht derart widerstandslos überlassen.

Das liegt vor allem daran, daß der Aufbau einer starken Zivilgesellschaft, zu der pluralistische Medien und Nichtregierungsorganisationen gehören, in den Ländern des ehemaligen Ostblocks im Zuge der EU-Erweiterung vernachlässigt wurde. Man hat nur auf die Anpassung der Märkte, den Binnenmarkt und den Kapitalfluß geachtet.

Interview: Ben Mendelson

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. Mai 2013


Zurück zur Ungarn-Seite

Zur Seite "Rassismus, Neofaschismus, Antisemitismus"

Zurück zur Homepage