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Ein Aufbruch und ein Abbruch

Herbst 1956 in Ungarn – als ein Reformversuch im Staatssozialismus gewaltsam niedergeschlagen wurde

Von Karl-Heinz Gräfe *

Oft kommen die in gesellschaftlichen Krisen sich zu deren Lösung formierenden politischen Kräfte nicht zum Zuge - entweder vereitelt durch Zerstrittenheit der Akteure selbst oder aber auch durch gravierende Einwirkungen von außen. So geschehen im Herbst vor 55 Jahren in Ungarn.

Tauwetter

Die ungarischen Reformkommunisten unter Imre Nagy hatten schon in der mit Stalins Tod 1953 ausgebrochenen Krise der staatssozialistischen Gesellschaft sowjetischen Typs einen hoffnungsvollen Versuch in Richtung eines demokratischen Sozialismus gestartet, der aber bereits nach zwei Jahren von der Moskauer Hegemonialmacht unter Nikita S. Chruschtschow abgebrochen wurde. Durch diese rigide Interruption entwickelte sich das Land der Magyaren in der kurzen »Tauwetter«-Periode nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zum Epizentrum einer antistalinistischen Bewegung.

Das außerhalb des restaurierten stalinistischen Regimes unter Rákosi, Gerö und Hegedüs noch bestehende reformsozialistische Potenzial unter Intellektuellen wie Arbeitern wurde nun erneut politisch aktiv. 5000 Studenten und Lehrkräfte der Technischen Universität Budapest und Arbeiter aus Betrieben beschlossen nach elfstündiger Debatte am 22. 0ktober 1956 ein demokratisches, nationales Alternativprogramm. Dessen Forderungen lauteten: Abzug der sowjetischen Truppen und Wiedereinführung ungarischer Nationalsymbole, Rückkehr von Nagy in das Regierungsamt, Versammlungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit, freie Wahlen und Wirtschaftsreformen. Dafür demonstrierten am darauf folgenden Tag 200 000 Budapester; 4000 von ihnen verlangten vor der Rundfunkstation die Verbreitung dieser Forderungen über den Äther. Als ihnen dies verweigert wurde, stürmten sie schließlich das Gebäude. Es gab Tote und Verletzte. Ähnliches trug sich in Debrecen zu.

Der in Bedrängnis geratene Parteichef Ernö Gerö setzte sich mit dem KPdSU-Parteipräsidium in Verbindung, das bereits eine Militärintervention entschieden hatte. Noch am 23. Oktober, gegen 23 Uhr, setzte er eine Außerordentliche ZK-Tagung an, auf der einflussreiche Reformkommunisten in die Führung aufgenommen wurden, unter ihnen auch Nagy. Der populäre Politiker wurde zum Ministerpräsidenten berufen. Ihm sollte jedoch keine Zeit vergönnt sein, seine Vorstellungen und den Willen des Volkes umzusetzen.

In den frühen Morgenstunden des 24. Oktober nahmen das in Ungarn stationierte Besondere Korps sowie aus Rumänien und aus der Ukrainischen SSR einfallende sowjetische Divisionen, insgesamt 32 000 Mann, das »Bruderland« unter militärische Besetzung. In der ungarischen Hauptstadt leisteten ihnen 2000 Aufständische Widerstand; es kam zu Gewaltorgien und in nicht wenigen Fällen zu Lynchjustiz gegen Kommunisten.

Wortbruch

Nagy verkündete in dieser schwierigen Situation mutig sein Reformprogramm, handelte mit den Aufständischen einen Waffenstillstand aus und organisierte eine nationale Koalitionsregierung aus Reformkommunisten, Sozialdemokraten, der Partei der Kleinen Landwirte und der Nationalen Bauernpartei. Da Moskau ihm zusicherte, die sowjetischen Truppen würden sich nicht nur aus Budapest, sondern aus ganz Ungarn zurückziehen, durfte er für einen Moment guter Hoffnung sein. Eine Lösung der Krise schien greifbar. In den ersten Verhandlungen am 3. November stellte der sowjetische Armeegeneral Malinin den Truppenabzug für den 13. Januar 1957 in Aussicht. Doch bereits gegen Mitternacht verhaftete KGB-General Serow die ungarische Verhandlungsdelegation in Moskau.

Chruschtschow hatte sich im Zusammenhang mit der von Frankreich und Großbritannien gedeckten Besetzung der Suezhalbinsel durch Israel, einem eindeutigen Aggressionsakt gegen Ägypten, zu einer zweiten Militärintervention in Ungarn entschieden, um die demokratische, auf breiten nationalen Konsens ausgerichtete Nagy-Regierung wieder durch ein eindeutig prosowjetisches Regime zu ersetzen. Es gelang dem Kreml, den engsten Mitstreiter von Nagy und Stalin-Opfer Janos Kádár hierfür zu gewinnen. Das, was Kádár noch kurz zuvor der Moskauer Führung für den Fall einer erneuten Intervention warnend prophezeit hatte, trat nun ein: Mit dem Einmarsch der 60 000 Mann starken Interventionsarmee sank der Einfluss der Kommunisten »gegen Null«, der nationale Widerstand wurde zunehmend antikommunistisch.

Die Interventen verhängten den Ausnahmezustand und schlugen den Volksaufstand nieder. 229 Revolutionäre wurden hingerichtet, 27 000 inhaftiert, 194 000 Ungarn verließen das Land, darunter 8000 Studenten. Imre Nagy, Symbol der sozialistischen Erneuerung, wurde 1957 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt.

Die gewaltsame Niederschlagung der ungarischen Revolution endete jedoch nicht in einer Restauration des vorherigen Stalinismus. Nagys Nachfolger Kádár gestaltete in den nachfolgenden Jahrzehnten einen Staatssozialismus, der ökonomisch effizienter wie auch demokratischer war als anderswo in Osteuropa.

Diskreditierung

Nachdem Ungarn nach 1989 in den Herrschaftsbereich des Kapitalismus zurückgekehrt ist, wird das reformsozialistische Erbe von 1956 in gleicher Weise verfälscht wie zuvor von den Stalinisten. Der Versuch, einen Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus zu finden, wird von den heute in Ungarn regierenden rechtsnationalistischen Orbán-Populisten und der neofaschistischen Jobbik diffamiert und diskreditiert.

Am diesjährigen Staatsfeiertag am 23. Oktober demonstrierten jedoch Zehntausende Ungarn gegen die seit 2010 herrschende Orbán-Einheitspartei Fidesz, die kräftig dabei ist, Demokratie, Pressefreiheit und Rechtstaat in Ungarn abzuschaffen.

* Aus: neues deutschland, 5. November 2011


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