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Countdown mit Hoffnungszeichen

Kompromiss über Umgang mit Amnestie möglich / Westen will für Geldspritzen eine Übergangsregierung

Von Klaus Joachim Herrmann *

In der Ukraine tickt das Amnestiegesetz für regierungskritische Demonstranten als Ultimatum herunter. Aber im Gespräch sind auch ein Kompromiss und Finanzhilfe.

Mehr als 100 Demonstranten könnten bis Freitag aus der Haft entlassen und dafür die von Regierungsgegnern besetzte Stadtverwaltung in Kiew sowie die Barrikaden auf der Gruschewski-Straße geräumt werden. Unter Hinweis auf Oppositionsvertreter wurde diese Nachricht am Nachmittag unter Berufung auf örtliche ukrainische Medien verbreitet.

Mit dieser eher guten Nachricht begannen jene zwei Wochen, in denen Regierungsgegner Straßen, Plätze und Gebäude wieder freigeben sollen. Mit seiner Veröffentlichung am Sonntag war das Amnestiegesetz in Kraft getreten. Wirksam wird es aber erst bei einem Abzug der inhaftierten Demonstranten von Straßen und aus besetzten Gebäuden. Diese Bedingung stieß bislang auf erbitterten Widerstand der Opposition.

Dementierte Parlamentschef Wladimir Rybak auch energisch Pläne für einen Ausnahmezustand, bleiben doch mehr als genug Probleme. So verhandelte in Moskau der amtierende ukrainische Vizepremier Juri Bojko mit Gasprom-Chef Alexej Miller über die Begleichung von Schulden für russische Lieferungen aus dem Vorjahr. Diese würden einschließlich Januar 2014 bei 3,35 Milliarden Dollar betragen, hieß es.

Um Geld dürfte es an diesem Dienstag auch in Kiew gehen. Hier wird die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton einmal mehr zu Gesprächen erwartet. Zuvor teilte sie dem »Wall Street Journal« mit, die Europäische Union und die USA arbeiteten an einem Plan für erhebliche kurzfristige Finanzhilfen für die Ukraine. Prompt kam eine Art »Marshall-Plan« ins Gespräch.

Damit dürfte aber keine Entlastung der Regierung unter Präsident Viktor Janukowitsch, der nach einer Erkrankung seine Arbeit wieder aufnahm, beabsichtigt sein. Im Blick ist hingegen eine Übergangsregierung. Das ließ auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erkennen. Er verwies laut dpa auf »ein bisschen Bewegung in der scheinbar festgefahrenen Situation«. Nun müssten Änderungen der verfassungsrechtlichen Lage kommen. Eine politische Lösung sei möglich, und danach brauche die Ukraine auch eine wirtschaftliche Perspektive.

Für eine solche Übergangsregierung könnte nach anfänglichen Weigerungen nun vielleicht doch die Opposition bereit stehen. Die habe bisher nur ein Modell diskutiert – »dass die Opposition die ganze Verantwortung übernimmt«, sagte Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk, Fraktionsvorsitzender der Timoschenko-Partei »Vaterland«, in einer Fernsehsendung. Das bedeute, dass wir »das Land aus dem Loch ziehen, in das es die Regierung und der Präsident gezogen haben«.

Janukowitsch selbst hat noch keinen Kandidaten für das Amt des Premierministers präsentiert. Der dürfte auch nicht leicht zu finden sein. Der Präsident dürfte aber erfreut zur Kenntnis genommen haben, dass ihm die Agentur Soziopolis im Falle einer Neuwahl im Januar 2014 den Sieg zusprach. Allerdings müsste er mit seinen 18,4 Prozent in einer Stichwahl gegen Vitali Klitschko mit 17,6 Prozent antreten.

Der nach eigenen Angaben gefolterte ukrainische Oppositionelle Dmitro Bulatow traf noch Sonntagabend in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein. Ein AFP-Reporter berichtete, er sei zu einer Klinik gefahren worden. Ermittelt werde wegen einer Straftat im Umfeld der Geschäftstätigkeit Bulatows, Geiselnahme oder einer Provokation zur Auslösung von Massenunruhen, hieß es aus Kiew.

Die ukrainische Polizei warf ihrerseits Demonstranten vor, einen Polizisten in Kiew verschleppt und gefoltert zu haben. Er befinde sich laut dem Innenministerium in Kiew derzeit mit Kopfverletzungen und einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4, Februar 2014


Im Abseits

Ukraine: Anführer der Randale in die EU geflüchtet. Früherer Regierungschef Asarow angeblich auch

Von Reinhard Lauterbach **


Hier auf dem Maidan steht die reale Staatsmacht der Ukraine«, behauptete am Sonntag in Kiew der Oppositionspolitiker Arseni Jazeniuk. Einige tausend Demonstranten kommentierten diese phantasievolle Äußerung mit begeistertem Beifall. Die Realität sieht etwas anders aus. Das zeigt der Umstand, daß mehrere Anführer der militanten Proteste sich vorsichtshalber ins EU-Ausland abgesetzt haben. Dazu gehört der Organisator der Gruppe »Gemeinsame Sache«, die in der letzten Woche das Justizministerium gestürmt und einen halben Tag lang besetzt hatte; er ließ wissen, er sei zu Fuß über die grüne Grenze gegangen und befinde sich jetzt in London, von wo er seine Widerstandstätigkeit fortsetzen werde. An Geld, um in einer der teuersten Städte der Welt ein neues Leben anzufangen, scheint es ihm nicht zu fehlen.

Zur medizinischen Behandlung nach Lettland ausgereist ist dagegen Dmitri Bulatow, der Anführer des sogenannten »Automaidan«. Er war in der vorletzten Woche verschwunden und am Freitag wieder aufgetaucht – mit Spuren schwerer Mißhandlungen. Er berichtete, seine maskierten Entführer hätten ihn nicht nur am ganzen Körper verprügelt, sondern sogar gekreuzigt, bevor sie ihn in einem Waldgelände auf freien Fuß gesetzt hätten. Die Opposition beschuldigt den Geheimdienst, Bulatow entführt zu haben; das ukrainische Innenministerium äußerte den Verdacht, es könne sich um eine Inszenierung gehandelt haben. Nicht bestätigt wurden bisher österreichische Presseberichte, wonach Exregierungschef Nikolai Asarow direkt nach seinem Rücktritt zu seinem in Wien Geschäften nachgehenden Sohn ausgereist sei.

Auf der politischen Ebene versuchen die drei Oppositionsparteien, wieder ins parlamentarische Spiel zu kommen. Sie setzen ihre Hoffnung, wie sie offen sagen, in eine intensive »Bearbeitung« einzelner parteiloser Abgeordneter, die die regierende Partei der Regionen unterstützen. Solche »Überzeugungsarbeit« zum Seitenwechsel geschieht in der Ukraine in der Regel mit Hilfe von Bargeld. Am heutigen Dienstag will die Opposition ihren Gesetzentwurf für eine bedingungslose Amnestie erneut zur Abstimmung stellen. In der letzten Woche hatte sie die Abstimmung im Parlament boykottiert, weil sie keine Mehrheit zusammenbekommen hatte. Erst übers Wochenende scheint Klitschko und Co. klar geworden zu sein, daß sie damit ein Eigentor geschossen hatten; denn so konnte Präsident Wiktor Janukowitsch am Freitag sein Gesetz einer Amnestie unter der Vorbedingung, daß alle besetzten öffentlichen Gebäude und der Unabhängigkeitsplatz von den Demonstranten geräumt werden, von der Regierungspartei beschließen lassen und es am Wochenende unterzeichnen. Da die Demonstranten keine Anstalten machen, diese Bedingung zu erfüllen, tritt die Amnestie einstweilen nicht in Kraft; die Polizei scheint jetzt gezielt Anführer der Proteste zu verhaften. Der Maidan veröffentlichte eine Liste von 36 »Vermißten«. Daß sie ganz überwiegend aus Kiew stammen, wirft ein Licht auf die fortdauernde regionale Konzentration der Proteste in der Hauptstadt. Gleichwohl haben in den letzten Tagen auch in größeren Städten der russischsprachigen Süd- und Ostukraine »Euromaidan«-Demonstrationen stattgefunden. In Odessa etwa liefen rund 1500 Leute unter Fahnen der EU und dem rot-schwarzen Wimpel der faschistischen Ukrainischen Aufstandsarmee UPA durch die Stadt. Es kam zu Rangeleien mit örtlichen Linken, die den Marsch mit der Parole »Das ist nicht unser Krieg« begleiteten.

Die US-Marine hat unterdessen zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer geschickt. Wie die russische Agentur Interfax am Montag mittag berichtete, handelt es sich um einen Zerstörer und das Kommandoschiff der US-Mittelmeerflotte; sie hätten etwa 600 Mann Marineinfanterie an Bord. Die Schiffe nähmen Kurs auf die ukrainische Küste, berichtete die Agentur weiter. Zuvor hatten die USA Rußland »Unterstützung« bei der Bekämpfung von Terroranschlägen auf die bevorstehenden Winterspiele in Sotschi angedroht.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 4, Februar 2014


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