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Die Zauberlehrlinge von Kiew

Machthaber wollen "Rechten Sektor" befrieden. Expolizisten festgenommen

Von Reinhard Lauterbach *

In der Ukraine hat der Sicherheitsdienst zwölf ehemalige Angehörige der Sonderpolizeitruppe »Berkut« festgenommen. Sie sollen für die tödlichen Schüsse auf Demonstranten am 20. Februar verantwortlich sein. Wie der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft am Donnerstag mitteilte, sollen die Verhafteten einer »Schwarzen Kompanie« angehört haben. Sie seien mit scharfen Waffen, darunter Scharfschützengewehre, ausgerüstet gewesen. Ihre Aufgabe habe darin bestanden, die Hauptkräfte der Polizei gegen Angriffe der Demonstranten zu decken. Damit nähert sich die offizielle Version der Ereignisse vor sechs Wochen auf Umwegen der Darstellung der Regierung Janukowitsch an, wonach die Berkut-Einheiten im allgemeinen unbewaffnet gewesen seien.

Fragwürdig an der heutigen Version bleibt die Darstellung, die Polizisten hätten vom Dach des Hotels »Ukraina« aus geschossen. Das Hotel dominiert zwar räumlich das Geschehen, es war aber seit Beginn der Demonstrationen unter der Kontrolle der Opposition. Gegner der jetzigen Kiewer Machthaber verdächtigen schon länger die militante Gruppe »Rechter Sektor«, hinter den Schüssen auf Demonstranten und Polizisten am 20. Februar zu stecken. Die Regierung Jazenjuk weigert sich zwar, diesen Verdacht untersuchen zu lassen, aber der »Rechte Sektor« wird inzwischen offenkundig auch für die Herrschenden zum Problem. Denn die Entwaffnung nichtstaatlicher Milizen ist eine der Vorbedingungen für Finanzhilfen der EU und des IWF an die neuen Machthaber.

Erster Versuch, das Problem zu entschärfen, war die Gründung einer »Nationalgarde« als neuem Truppenteil. In ihm sollten seit dem Putsch beschäftigungslose Aktivisten der »Maidan-Selbstverteidigung« und des »Rechten Sektors« aufgefangen und für die Grenzsicherung und die Bekämpfung innerer Unruhen ausgebildet werden. Auf das Angebot der »Legalisierung« sind aber nicht alle Maidan-Aktivisten eingegangen. Der »Rechte Sektor« ignorierte Ende März eine Aufforderung der Jazenjuk-Regierung, die Waffen abzugeben. Die Frist ist inzwischen sang- und klanglos um einen Monat verlängert worden – ein Zeichen für die faktische Doppelherrschaft von »Regierung« und rechten Milizen. Nach dem Putsch in Kiew haben letztere sich im ganzen Land Polizeifunktionen angemaßt. Geschäftsleute und Reisende klagten über Plünderungen und Schutzgelderpressungen durch schwarzgekleidete Vermummte. Selbst der von den neuen Machthabern eingesetzte Oberbürgermeister von Kiew äußert inzwischen dezente Kritik. Er ist bis heute noch nicht wieder Herr im seit Maidan-Tagen von rechten Aktivisten besetzten Rathaus. Unlängst sagte er, die Besetzer führten »einen Lebensstil, für den sich die Rechtsschutzorgane interessieren sollten«. Im Klartext: Die selbsternannten Freiheitskämpfer haben offenbar große Teile der Ausstattung und Büroelektronik der Stadtverwaltung gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Wie sich die Situation stabilisieren soll, ist einstweilen unklar. Einerseits kann die Jazenjuk-Regierung nicht auf Dauer auf ihr Gewaltmonopol verzichten, zumal vermutet werden muß, daß der vor allem in der Westukraine verankerte »Rechte Sektor« inzwischen erhebliche Waffenbestände kontrolliert. Angesichts eines diffus antioligarchischen Untertons in der Propaganda des »Rechten Sektors« könnte andererseits die Frage, was aus den rechten Milizen wird, noch Brisanz entwickeln, wenn die ukrainische Bevölkerung mit den realen Folgen der »Reformen« konfrontiert wird, die die westlichen Geldgeber einfordern. Allein die Gastarife für die Bevölkerung sollen im Sommer auf einen Schlag um 73 Prozent steigen. Da könnte es sich auch für Jazenjuk und Freunde noch auszahlen, wenn ein »Rechter Sektor« die Wut hierüber auf die bösen Russen ableiten kann und zur Verfügung steht, wenn sich jemand gegen die heimischen Oligarchen wenden sollte.

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. April 2014


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