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Brüchige Einheitsfront

Ukraine-Konflikt: Vorschläge für Verhandlungslösung aus Frankreich und Deutschland stellen für die USA ein Katastrophenszenario dar

Von Rainer Rupp *

Verhandlungslösung in Minsk oder Waffenlieferung an Kiew: In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse um die Ukraine-Krise regelrecht überschlagen. Dabei hat sich immer deutlicher herauskristallisiert, dass trotz ständiger Beschwörung der politischen Einheit weder die NATO noch die EU an einem Strang ziehen. Die Zuspitzung des Bürgerkriegs in der Ostukraine und der immer schwerer zu verbergende wirtschaftliche und politische Bankrott der Führung in Kiew haben in den Hauptstädten der NATO- und EU-Mitgliedsländer für blanke Nerven gesorgt. Insbesondere in Washington wachsen die Sorgen, dass unter dem Druck der desolaten Versorgungslage der Bevölkerung selbst im Herrschaftsgebiet der Kiewer Regenten und wegen des wachsenden zivilen Ungehorsams – insbesondere gegen weitere Kriegsvorbereitungen – deren Regime zusammenbrechen könnte, noch bevor man es richtig gegen Russland in Stellung bringen konnte. Massive Waffenhilfe einer einheitlichen Front von USA und EU-Europa würde in dieser Situation die angeschlagene Moral der extremistischen Russenhasser und Faschisten in Kiew wieder heben.

In der Frage, ob Kriegsgerät an Kiew geliefert werden soll, stehen sich allerdings Berlin und Washington weiterhin diametral gegenüber. Daran hat auch der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei US-Präsident Barack Obama am Montag im Weißen Haus nichts geändert. Die deutsche Position hatte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in der ARD-Diskussionsrunde »Günter Jauch« am Sonntag seinem auf militärische Eskalation drängenden US-amerikanischem Gegenüber, Exbotschafter John C. Kornblum, klargemacht. In einem seltenen Moment politischer Weitsicht erklärte der SPD-Politiker, dass Deutschland, im Unterschied zu den USA, nur zwei Flugstunden vom Krieg in der Ostukraine entfernt ist und daher kein Interesse an einer Verschärfung des Konfliktes habe, zumal dieser laut wiederholter Erklärungen von Kanzlerin Merkel und anderer Regierungsmitglieder ohnehin »militärisch nicht zu lösen« sei. Zuvor hatte schon Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« Washingtons Strategie »nicht nur als riskant, sondern auch als kontraproduktiv« verurteilt.

Aber mindestens genauso wichtig ist, dass Frankreich offensichtlich zunehmend von den harten deutschen Positionen bezüglich der Krim und der Ostukraine in Richtung Russland abdriftet. So forderte als erster Staatschef in der EU François Hollande mehr Autonomie für den Donbass. Paris machte sich damit eine Kernforderung Moskaus zu eigen. Unterstützung gegen die USA bekam Hollande sogar von seinem Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy. Der erklärte auf einem Kongress seiner konservativen UMP-Partei am Samstag: »Frankreich und Russland sind Teil einer gemeinsamen Zivilisation. Die Interessen der Amerikaner mit den Russen sind nicht die Interessen Europas und Russlands. Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg zwischen Europa und Russland.«

Inoffiziellen Berichten zufolge war es denn auch der französische Staatschef, der beim Dreiertreffen mit Kanzlerin Merkel und Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreml vergangenen Samstag den russischen Sorgen am meisten entgegenkam. Obwohl Details der aktuellen Verhandlungen nicht bekannt sind, waren die Grundzüge eines Abkommens aus Pariser Sicht bereits Ende des vergangenen Jahres aus verschiedenen Äußerungen erkennbar. Demnach könnte Russland durch den Rückkauf der Krim die ohnehin völkerrechtlich zweifelhaften ukrainischen und westlichen Vorwürfe der Annexion aus der Welt schaffen. Die Ablösungssumme könnte sich nach der jährlichen Miete richten, die Russland zuvor an Kiew für seine Marinestützpunkte auf der Schwarzmeerhalbinsel gezahlt hat. Der Westen würde die neue Grenze anerkennen, denn die Krim – so die Überlegung – sei schließlich der Teil der Ukraine gewesen, in dem die Unterstützung der Bevölkerung für einen Zusammenschluss mit Russland wirklich sehr groß gewesen sei. Und Russland würde sich im Gegenzug für den Verbleib der Industrieregion des Donezkbecken in der Ukraine einsetzen – letzteres ist ohnehin ein Ziel Moskaus. Dieser Schritt würde von einer Teilautonomie der Ostukraine begleitet, schließlich sei eine Reform zugunsten stärkerer lokaler Selbstverwaltung in einem Land, das so groß wie die Ukraine ist, ohnehin längst überfällig.

Für die USA wäre eine pragmatische Verhandlungslösung entlang der französischen Vorstellungen katastrophal, denn dadurch würde das geostrategische Hauptziel ihres Ukraine-Abenteuers wieder in unerreichbare Ferne rücken: die Verhinderung eines Zusammengehens des technologiestarken »Kerneuropas«, also Deutschland, Frankreich, Italien, die Beneluxstaaten und Spanien, mit dem rohstoffreichen Russland mit seinem riesigen Nachfragebedarf für Anlage- und Konsumgüter. Daher ist zu erwarten, dass Washington alles tun wird, um über seine Marionetten in Kiew ein solches Ergebnis zu torpedieren. Allerdings steht die ukrainische Führung wirtschaftlich am Abgrund, und in dieser Situation könnten auch die größten russenfeindlichen Fanatiker empfänglicher für gute Ratschläge aus Paris und Berlin sein.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. Februar 2015

Hintergrund: Kiew ohne Kanonenfutter

Auch nach ihrer jüngsten Offensive in der Ostukraine werden die Truppen Kiews an allen Fronten durch hochmotivierte Soldaten der Selbstverteidigungskräfte, die ihre Städte und Dörfer schützen, zurückgeworfen. Zugleich werden die Reihen der regulären Armee durch die Desertion Tausender junger Soldaten ausgedünnt. Deshalb hat das ukrainische Parlament den Forderungen des Generalstabs der Armee nachgegeben und ein Gesetz erlassen, das es lokalen Kommandeuren erlaubt, Deserteure auf der Stelle zu erschießen. Laut ukrainischem Nachrichtenportal korrespondent.net vom 28. Januar folgen nur sechs Prozent der Wehrpflichtigen dem Einberufungsbefehl aus Kiew. Deshalb sind die Rekrutierungsoffiziere dazu übergegangen, von Tür zu Tür zu gehen, wobei sie sich mit immer mehr wütenden Dorfbewohnern konfrontiert sehen oder in sogenannten Geisterstädten vergeblich nach jungen Männern suchen. In der Region Transkarpatien im Westen der Ukraine sind sogar ganze Dörfer verlassen. Die Bewohner haben sich den Angaben zufolge nach Russland abgesetzt.

Zugleich hat Russland jungen Ukrainern die Möglichkeit eines dauerhaften Aufenthalts und der beruflichen oder akademischen Ausbildung angeboten. Zunehmend machen davon auch junge Deserteure Gebrauch, die zu den Selbstverteidigungskräften überlaufen. Es hat sich nämlich herumgesprochen, dass sie dort anständig behandelt werden und auf Wunsch weiter über die Grenze nach Russland ausreisen können. Die Motivation zur Desertion ist groß, nicht nur, weil man nicht gegen die ukrainischen Brüder kämpfen will, sondern da inzwischen bekannt ist, dass die Kiewer Führung in immer neuen, abenteuerlichen Offensiven die kaum ausgebildeten Wehrpflichtigen zu Tausenden in der Ostukraine verheizt. Laut Medienberichten schätzen deutsche nachrichtendienstliche Kreise die bisherigen Opferzahlen auf ukrainischer Seite auf etwa 50.000. Nach heftigen Gefechten würden oft einstellige Opferzahlen gemeldet, obwohl es in Wirklichkeit Dutzende Tote gegeben haben müsse. Die ukrainische Regierung geht von 1.200 getöteten Soldaten und 5.400 Zivilisten aus, die Vereinten Nationen von etwa 5.360 Toten. Kiew erwägt nicht nur ein Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter, sondern will jetzt auch Frauen über 20 in den Militärdienst zwingen. (rwr)




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