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Erste Opfer im ostukrainischen Slawjansk

Kiewer Innenminister befahl »Anti-Terror-Operation« gegen prorussische Besetzer von Amtsgebäuden

Von Detlef D. Pries *

Der von Kiew und der Krim in die Ostukraine verlagerte Konflikt um die Zukunft des Landes hat am Sonntag erste Menschenleben gekostet.

»Mit Gott« leitete der ukrainische Innenminister Arsen Awakow am Sonntagmorgen eine »Anti-Terror-Operation« in Slawjansk ein. In der ostukrainischen Stadt, etwa 60 Kilometer von Donezk entfernt, hatten prorussische Aktivisten in Kampfanzügen am Vorabend die Polizeizentrale und den Sitz des Geheimdienstes SBU besetzt. Auch in Kramatorsk und Krasny Liman waren Gebäude von Bewaffneten erobert worden. Dagegen mobilisierte Awakow am Sonntag nach eigenen Angaben »Kräfte aus allen Landesteilen«. Wie die russische Agentur RIA Nowosti aus ukrainischen Sicherheitskreisen erfahren haben will, stammten jedoch »alle Einheiten, die Slawjansk stürmen, aus der westlichen Ukraine«. Angehörige der Sonderpolizei im nahen Donezk hätten den Einsatz verweigert und seien am Sonnabend auf die Seite der »Anhänger einer Föderalisierung« übergewechselt.

Von »Anhängern einer Föderalisierung der Ukraine« schreiben allerdings nur russische Medien, in den ukrainischen heißen sie »Separatisten«, »Terroristen« oder »russische Sondertruppen«.

Vor Slawjansk fuhren jedenfalls am Sonntag ukrainische Schützenpanzer auf, Militärhubschrauber kreisten über der Stadt, Rauch von brennenden Reifenbarrikaden stieg in den Himmel, an Straßensperren kam es zu Schusswechseln. Innenminister Awakow hatte die 100 000 Bewohner der Stadt aufgefordert, dem Zentrum fern zu bleiben, ihre Häuser nicht zu verlassen und die Nähe der Fenster zu meiden. Wenige Stunden später informierte er von ersten Opfern. Ein Offizier des Geheimdienstes SBU sei getötet, neun weitere Personen seien verletzt worden. Die Gegenseite teilte laut RIA Nowosti mit: »Drei Menschen wurden getötet: zwei vom – wie wir sagen – ›Rechten Sektor‹, einer von uns.« Dem »Rechten Sektor« zählen die prorussischen Aktivisten alle Kräfte zu, die sich zur Kiewer Regierung bekennen. Tatsächlich hatte Dmitri Jarosch, Chef des »Rechten Sektors«, eine »allgemeine Mobilisierung« seiner rechtsextremen Truppe angeordnet, die spätestens seit dem Umsturz in Kiew bewaffnet ist.

Während am Nachmittag, wie »Nowosti Donbassa« meldete, in Slawjansk vorübergehend Ruhe einkehrte und »Phase zwei der Anti-Terror-Operation vorbereitet« wurde, liefen aus Mariupol und Jenakijewo Nachrichten über die Besetzung weiterer Behördengebäude ein.

US-Außenminister John Kerry warf Russland »abgestimmte« Aktionen in der Ostukraine vor und drohte seinem Moskauer Kollegen Sergej Lawrow telefonisch mit weiteren Konsequenzen. Lawrow seinerseits wiederholte, in der Ukraine seien weder russische Militärs aktiv noch »unsere Agenten«. Falls die Kiewer Regierung mit Gewalt gegen die Bevölkerung in der Ostukraine vorgehe, untergrabe das die Perspektiven des für Donnerstag in Genf geplanten Treffens von Vertretern Russlands, der Ukraine, der USA und der EU. Inzwischen sollen Beobachter der OSZE in Slawjansk eingetroffen sein.

* Aus: neues deutschland, Montag, 14. April 2014


Donbas im Aufstand

Behördenbesetzungen ausgeweitet. Ukrainische Machthaber versuchen Rückeroberung. Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Rußland droht mit Boykott des Genfer Treffens

Von Reinhard Lauterbach **


Über das Wochenende haben sich die Behördenbesetzungen im ostukrainischen Industriegebiet Donbas ausgeweitet. Zu den seit Tagen von bewaffneten Aufständischen gehaltenen Gebäuden in den Gebietshauptstädten Donezk und Lugansk kamen am Samstag Polizeizentralen und Stadtratsgebäude in Kramatorsk, Slowjansk und Jenakijewe hinzu und am Sonntag die des Rathauses in Mariupol an der Schwarzmeerküste. Berichte der Kiewer Machthaber vom Samstag, der Sturm in Kramatorsk sei zurückgeschlagen worden, bestätigten sich nicht. Auch am Sonntag vormittag berichteten Kiewer Medien noch, daß die Polizeizentrale von »Separatisten« besetzt sei. Versuche, Polizeiwachen in Krasnoarmijsk und Krasnij Liman zu stürmen, scheiterten offenbar am Widerstand der Besatzungen. Teilweise sollen auch Einwohner die Aufständischen zum Abzug aufgefordert haben. In Donezk verweigerte eine Gruppe von ehemaligen Angehörigen der Sonderpolizei »Berkut« den Befehl zum Einsatz gegen die Aufständischen. Aus dem Bezirk Lugansk beklagten sich in ukrainischen Medien örtliche Kiew-Treue, die Polizei schaue tatenlos zu, wie die Besetzer der Zentrale des ukrainischen Sicherheitsdienstes neue Barrikaden bauten und das von ihnen kontrollierte Gebiet erweiterten. In den weiter westlich liegenden Großstädten Dnipropetrowsk und Saporischschja organisierten die Kiewer Machthaber »Selbstverteidigungsmilizen«, um ein Einsickern von »Separatisten« zu verhindern.

Als Initiator der Vorgänge im Donbas beschuldigte der ukrainische »Innenminister« Arsen Awakow abermals Rußland. Die zweite Phase der russischen Invasion mit dem Ziel einer Besetzung der gesamten ukrainischen Schwarzmeerküste habe begonnen, so Awakow am Samstag abend. Der Minister begründete seine Beschuldigung damit, daß die Aufständischen in Kramatorsk ein bestimmtes Gewehr namens AK-100 benutzten, mit dem lediglich die russische Armee ausgerüstet sei. Ein Blick ins Internet stellt allerdings diese Darstellung in Frage. Das Kürzel AK-100 bezeichnet ein Schnellfeuergeschütz der russischen Marine, an Sturmgewehren gibt der Hersteller die Serien AK-101 bis 105 an. Die Versionen dieser Waffe von 101 bis 103 gelten dabei ausdrücklich als Exportversionen, deren Kaliber sich von dem in der russischen Armee verwendeten unterscheidet.

Am Sonntag morgen begannen ukrainische Sicherheitskräfte mit einer »Antiterroraktion« in Slowjansk, um das dortige Polizeihauptquartier zurückzuerobern. Augenzeugen berichteten, es seien auch Kampfhubschrauber und Blendgranaten eingesetzt worden. »Innenminister« Awakow forderte die Bevölkerung auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und von den Fenstern fernzubleiben, da scharf geschossen werde. Bis zum Mittag »liquidierten« die Kiew-treuen Verbände nach eigenen Angaben mehrere Kontrollpunkte der Aufständischen am Stadtrand. Nach Angaben aus Kiew gab es Tote und Verletzte auf beiden Seiten.

Durch die Entwicklung des Wochenendes ist fraglich geworden, ob die für nächsten Donnerstag geplanten Genfer Gespräche zwischen den USA, der EU, Rußland und den Kiewer Machthabern über die Zukunft der Ukraine stattfinden werden. Rußland hatte angekündigt, das Treffen zu boykottieren, wenn die Kiewer Machthaber Gewalt gegen die Bevölkerung der Ostukraine anwenden sollten.

* Aus: junge Welt, Montag, 14. April 2014


Pulverfaß Ukraine

Krieg gegen die eigene Bevölkerung

Von Uli Schwemin ***


Die in Kiew regierenden Putschisten sind offenbar entschlossen, die Ukraine in den Untergang zu treiben, bevor bevor noch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden können. Was in deutschen Mainstream-Medien als »Antiterroraktion« von Slawjansk bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit der Beginn eines Krieges gegen Teile der eigenen Bevölkerung und eine ebenso gezielte wie gefährliche Provokation gegen Moskau.

Die Ukraine ist seit dem Zerfall der Sowjetunion von sich abwechselnden Vereinigungen von Wirtschaftskriminellen ausgeplündert, regiert und ruiniert worden. Zuletzt unter der Regie von Wiktor Janukowitsch. Außenpolitisch hat der den Ausgleich sowohl mit dem Westen als auch mit dem großen russischen Nachbarn gesucht. Daran ist er gescheitert.

Als immer mehr Menschen die Luft zum Atmen immer knapper wurde, begannen die Antiregierungsproteste in Kiew. Die Hegemonie über den Maidan übernahmen jedoch bald die Faschisten der »Swoboda«-Partei und solcher Trupps wie des »Rechten Sektors«. Janukowitsch ging nicht dagegen vor. Statt dessen versuchte er zu taktieren und mit dem Westen Kompromisse auszuhandeln. Das brach ihm schließlich das Genick. Keine 24 Stunden nach der u.a. gemeinsam mit BRD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dem ukrainischen Faschistenführer Oleg Tjagnibok erfolgten Unterzeichnung einer Agenta von Zugeständnissen, die zum Austausch der Regierung führen sollten, wurde er in einem Putsch hinweggefegt.

Der Umsturz erfolgte von Beginn an mit der großzügigsten Unterstützung der USA und der Europäischen Union. Der gemeinsame Nenner zwischen den westlichen Mächten und den ukrainischen Putschisten ist die Russenfeindlichkeit. Moskau ist dem Westen auch nach dem Untergang der Sowjetunion immer noch zu mächtig. Deshalb wird Putins Reich seit Jahrzehnten provoziert, ausgegrenzt, eingekreist, bedroht. Dazu ist jedes Mittel recht. Vertragsbruch, wie die Rücknahme der Zusicherung der Nichtausdehnung der NATO Richtung Osten oder Raketenstationierung in Osteuropa. Die Hilfe für russophobe ukrainische Putschisten stellt nur das neueste Glied in der Kette dar. So konnten diese eine neue Regierung einsetzen, die bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten hinauf durchsetzt ist mit Faschisten. Chef der »Nationalen Sicherheit« wurde der Mitbegründer des Vorläufers der »Swoboda«-Partei«, Andreij Parubi, sein Stellvertreter Dmitro Jarosch vom »Rechten Sektor«. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen kündigte die Putschistenregierung an, ein Gesetz zu verabschieden, das Russisch als zweite Amtssprache abschaffen soll. Die Folgen, Unruhen und massive Proteste in der Ost- und Südukraine, wo viele Menschen russischer Nationalität sind, dürften kalkuliert gewesen sein. Die Lunte wurde in Kiew gelegt und mit dem bewaffneten Angriff auf Besetzer staatlicher Gebäude am Sonntag gezündet. Das Pulverfaß steht vor der Explosion.

*** Aus: junge Welt, Montag, 14. April 2014 (Kommentar)


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