Blutige Krawalle in Kiew
Sitz der Regierungspartei gestürmt, Stadtverwaltung besetzt / Rechter Sektor mobilisiert
Von Klaus Joachim Herrmann *
Am Ende verkündete die Regierung ein Ultimatum. Es blieben zwei Stunden, um in Kiew die Gewalt zu stoppen. Zuvor waren die Ereignisse außer Kontrolle geraten und blutig eskaliert.
Bei den Ausschreitungen zwischen Regierungsgegnern und Sicherheitskräften in der Ukraine waren bis zur Verhängung des Ultimatums offenbar bereits mehrere Tote zu beklagen. Nach Angaben von Oppositionsärzten sollen drei Regierungsgegner an Schussverletzungen gestorben sein. Der Abgeordnete Oleg Zarew informierte über den Tod zweier Mitarbeiter beim Sturm der Parteizentrale der regierenden Partei der Regionen. Er forderte gegenüber der Agentur UNIAN die gewaltsame Räumung des Unabhängigkeitsplatzes Maidan. Verletzt wurden bis dahin mindestens 150 Demonstranten und 37 Polizisten.
Brandsätze flogen, Türen wurden eingetreten, Rauchgranaten nahmen die Sicht. Mit Knüppeln bewaffnete Angreifer stürmten zu Hunderten im Zentrum von Kiew die Zentrale der Partei des Präsidenten Viktor Janukowitsch. Das war ein trauriger Höhepunkt des Ausbruchs der brutalen Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt. Ausgerechnet am Tag nach dem Inkrafttreten des Amnestiegesetzes, der Freilassung von Demonstranten und der Räumung mehrerer Barrikaden flogen wieder Steine auf Polizisten. Die Ordnungskräfte setzten Gummigeschosse, Blendgranaten und Tränengas ein.
Einen Protest der Armeeführung und die Androhung »adäquater Maßnahmen« provozierte die Besetzung des »Hauses der Offiziere« durch radikale Demonstranten. Erneut besetzt wurde am Nachmittag das erst am Sonntag geräumte Gebäude der Kiewer Stadtverwaltung. Dort brach ein Brand aus. Vor dem Gebäude des ukrainischen Parlaments, der Obersten Rada, waren zuvor auf die absperrenden Polizisten Pflastersteine geworfen und Fahrzeuge in Brand gesetzt worden. AFP-Reporter berichteten von Angreifern, die einen Lastkraftwagen in die Absperrkette lenkten.
Abgeordnete von Oppositionsfraktionen hatten am Morgen das Parlament erst einmal lahmgelegt. Dutzende Politiker belagerten das Präsidium, weil Parlamentschef Wladimir Rybak nach ergebnislosen Verhandlungen einen Gesetzentwurf über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 nicht auf die Tagesordnung setzte. Diese Verfassung gewährte dem Präsidenten weniger, Parlament und Regierung mehr Vollmachten.
Einen angeblich »friedlichen Angriff« von Tausenden Demonstranten auf das Parlament hatten der Fraktionschef der oppositionellen Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, und der Vorsitzende der rechtsextremen Freiheitspartei, Oleg Tjagnibok, angeführt. Dieser erklärte, die »Macht« sei nicht in der Lage, die Situation in der Gesellschaft richtig einzuschätzen. Der Führer des »Rechten Sektors« paramilitärischer Extremisten, Dmitri Jarosch, habe alle Abteilungen in Kiew und den Regionen in »volle Bereitschaft«, versetzt, hieß es.
Moskau nahm den Westen für die Eskalation in Verantwortung. Was in Kiew geschehe, sei »das direkte Ergebnis einer Politik der Duldung« gegenüber »radikalen Kräften« der Opposition, hieß es in einer Erklärung. Der Westen hätte »die Augen vor den aggressiven Handlungen verschlossen« und damit zu »eskalierenden Provokationen« ermutigt«.
Die Oppositionspolitiker Jazenjuk und Vitali Klitschko hatten am Montag in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Lage in der Ukraine besprochen. Sie fordern vom Westen Sanktionen gegen die Führung um Janukowitsch. Als finanzielle Unterstützung sind Kredite des IWF und europäischer Institute als »makroökonomische Hilfe« in Höhe von 610 Millionen Euro im Gespräch. Moskau hingegen kündigte eine weitere Tranche von zwei Milliarden seiner 15 Milliarden Dollar bereits für diese Woche an. Ende Dezember wurden bereits drei Milliarden Dollar gezahlt.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch 19. Februar 2014
Randale und Tote in Kiew
Nach Klitschkos Berlin-Besuch schwere Straßenkämpfe im Regierungsviertel der ukrainischen Hauptstadt. Faschistische Gruppen rufen zu Bewaffnung auf
Von Reinhard Lauterbach **
Die Entspannung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew war nur von kurzer Dauer. Im Zuge eines von der rechten Opposition angekündigten »friedlichen Angriffs« auf das ukrainische Parlament kam es am Dienstag zu schweren Straßenkämpfen im Regierungsviertel. Die Demonstranten plünderten das Büro der regierenden Partei der Regionen und legten Feuer. Dabei soll ein Wachmann ums Leben gekommen sein. Ein angeschossener Polizist starb nach offiziellen Angaben auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Sicherheitskräfte schossen mit Blend- und Tränengasgranaten zurück. Am frühen Nachmittag berichteten die Demonstranten von mindestens drei Toten auf ihrer Seite, weitere sieben Regierungsgegner lägen in lebensbedrohlichem Zustand in einem provisorischen Lazarett im besetzten »Haus des Offiziers«. Die Opposition warf der Polizei vor, sie lasse keine Krankenwagen durch; allerdings waren es die Demonstranten selbst, die die Wege versperrten, indem sie sofort wieder Barrikaden errichteten, um ihren »Geländegewinn« zu festigen. Auf ihrer Seite wurden 150 Verletzte gezählt, bei der Polizei etwa 40, davon fünf mit Schußwunden. Die Situation spitzte sich gegen Abend weiter zu. Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates stellte der Opposition ein Ultimatum bis 18 Uhr MEZ, ihre Anhänger zur Ruhe zu bringen. Die Kiewer Metro stellte mitten im abendlichen Berufsverkehr den Betrieb ein.
Am Morgen hatte der »Rechte Block«, der militante Kern der Regierungsgegner, alle Anhänger, die im Besitz von Schußwaffen sind, aufgerufen, sich auf dem Maidan zu melden. Schon in den letzten Tagen hatten sich Anzeichen dafür gemehrt, daß sich die Opposition bewaffnet. So bat eine »Erste Kiewer Hundertschaft der Organisation Ukrainischer Nationalisten« auf einem Plakat vor ihrem Zelt offen um »Munition oder Geld, um welche zu kaufen«.
Unter diesen Umständen war nicht zu erwarten, daß die Parlamentssitzung am Dienstag einen halbwegs geregelten Verlauf nehmen würde. Vom Morgen an besetzten Abgeordnete der Oppositionsfraktionen die Rednertribüne. Sie wollten so dagegen protestieren, daß das Präsidium ihre Entwürfe für eine Verfassungsreform nicht annahm. Im Laufe des Vormittags erlitt Parlamentspräsident Wladimir Rybak einen Herzanfall, später verließen die Abgeordneten der Regierungspartei den Plenarsaal. Demonstranten schlugen mit Knüppeln auf die Autos ein, mit denen sie davonfuhren. Das Gebäude wurde verrammelt, der Sicherheitsdienst brachte Feuerwehrschläuche in Stellung.
Rußland verurteilte die neue Eskalation der Gewalt in Kiew. Das Außenministerium in Moskau erklärte, die Vorgänge seien das Ergebnis von Wochen westlicher Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Die westlichen Politiker hätten systematisch die Augen vor dem Anwachsen des radikalen Flügels im Oppositionslager verschlossen. Mit den Vorgängen vom Dienstag dürfte aber auch der Versuch der Bundesregierung vom Montag, Einfluß auf eine politische Lösung der Staatskrise zu nehmen, vorerst gescheitert sein. Kanzlerin Angela Merkel hatte dazu die Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk und Witali Klitschko im Kanzleramt empfangen. Merkel unterstützte die Bestrebungen der Opposition nach einer Verfassungsänderung, lehnte es aber erneut ab, Sanktionen gegen führende Vertreter der Regierungsseite zu verhängen, wie es die Oppositionsvertreter verlangen.
** Aus: junge Welt, Mittwoch 19. Februar 2014
Krise ohne Gewalt lösen
Appell der Beauftragten für Menschenrechte ***
Für eine gewaltfreie Lösung der Krise in ihrem Land setzte sich Valeriya Lutkowska, Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, am Dienstagmorgen in Berlin vor Journalisten ein. »Menschenleben sind zu schützen und die Arbeitsfähigkeit des Staates ist zu gewährleisten«, sagte sie. »Eine politische Krise muss im Parlament gelöst werden, mit Wahlen, nicht mit Molotowcocktails und Pflastersteinen.« Im Parlament vertretene Positionen »können Unterstützung auf der Straße finden, aber Demonstrationen müssen friedlich sein«.
Das Vorgehen der »Berkut«-Sondertruppe des Innenministeriums bewertete die Beauftragte, die keiner Partei angehört und ihr Amt als strikt neutral versteht, bis Ende November als »direkten Verstoß gegen die Verfassung«. Die Anwendung von Gewalt gegen Demonstranten sei »nicht proportional« erfolgt. Danach habe sich die Lage stabilisiert, im Dezember sei von Nichtregierungsorganistionen ein Einsatz der Kräfte »im Rahmen internationaler Standards« bestätigt worden.
Sie sei »froh, dass die Regierung keine gewaltsame Lösung des Konfliktes angestrebt« habe, betonte Valeriya Lutkowska. Sonntags befänden sich viele Menschen mit Kindern auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. So seien viele Opfer unter der Zivilbevölkerung zu befürchten gewesen. Die Beauftragte für Menschenrechte erinnerte an den Kompromiss, dass beide Konfliktparteien faktisch auf ihre Positionen zurückkehren. Verwaltungsgebäude und Straßen seien bis zum 17. Februar zu räumen gewesen, der Staat hatte Akten der Strafverfolgung schließen sollen. Auf dem Maidan könne friedlicher Protest fortgesetzt werden.
Erstmals sei die Ukraine auch mit einem »Informationskrieg« konfrontiert, sagte Lutkowska. Viele Informationen würden »nicht immer der Wahrheit entsprechen«. Hier bemühe sie sich mit Hilfe der Zivilgesellschaft um Klarheit. Journalisten seien Opfer beider Konfliktparteien geworden. Sie müssten klar trennen zwischen journalistischer Tätigkeit und zivilgesellschaftlichem Engagement. khe
*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 19. Februar 2014
Tote einkalkuliert
Gewalttaten in Kiew
Von Arnold Schölzel ****
Am Montag empfing die deutsche Kanzlerin ihren Mann in Kiew, Witali Klitschko. Der brachte Arseni Jazenjuk mit, den die US-Administration laut der »Fuck the EU«-Diplomatin Victoria Nuland als Statthalter in der Ukraine entschieden vorzieht. Der Faschistenführer Oleg Tjagnibok, der dritte im Kiewer Oppositionsbündnis und dessen tatkräftigster Anführer, durfte nicht in die deutsche Hauptstadt reisen. Wer Bürgerkrieg in der Ukraine schürt, will zusammen mit erklärten Nazis – Neonazis wäre eine Verharmlosung – ungern auf einem Bild gesehen werden. Das war beim Besuch des damaligen deutschen Außenministers Guido Westerwelle im Dezember 2013 in Kiew nicht anders. Kein Foto mit Tjagnibok.
In Berlin forderten unsere Delegierten aus bzw. in der Ukraine EU-Sanktionen und eine Verfassungsänderung – nach außen nichts Neues. Am Tag darauf gingen die von ihnen eingestimmten »friedlichen Demonstranten« (ARD) in Kiew mit Lastwagen voller Pflastersteine, mit Knüppeln, Granaten und Schußwaffen gegen Wachpersonal und Polizei vor. Die Toten, die es gab, sind in den westlichen Hauptstädten und Medienzentralen einkalkuliert – in manchen erwünscht. Nicht erst seit Syrien läuft das so.
Seit Beginn der Proteste im November 2013 stehen an der Spitze der Bewegung Gruppen, die erklärtermaßen zu jeder Gewaltanwendung bereit sind. Sie stellen sich in die Tradition der faschistischen Ukrainischen Armee der Aufständischen (UPA), die im und nach dem Zweiten Weltkrieg für Zehntausende Morde an Polen, Juden und sowjetischen Soldaten verantwortlich war. Sie und die sogenannte Zivilgesellschaft ehren seit Jahren in der Westukraine Bandenchef Stepan Bandera durch Denkmäler und Namensverleihungen. Sie bekennen sich zu jedem rassistischem Dreck – den Westen und seine Propagandaführer ficht das nicht an, im Gegenteil. So hielt es z.B. am Montag FAZ-Redakteur Konrad Schuller für notierenswert, daß »die letzte dokumentierte judenfeindliche Äußerung« Tjagniboks aus dem Jahr 2004 stamme. Und überhaupt sei Nationalismus in der Ukraine nicht automatisch zugleich Antisemitismus. Da kann man froh sein und ergänzen: Jetzt schlagen sie ohne Antisemititsmus tot, also fast korrekt.
Bilder werden nicht mehr retuschiert, man läßt »falsche« nicht verbreiten. Faschisten, Mörder und Totschläger werden nicht als das benannt, was sind, sondern mutieren zu »friedlichen Demonstranten«, schlimmstenfalls »Nationalisten«. Was sie tun, ist Teil des Kalküls. Das schließt Tote ein. Es waren noch nicht genug, als Frau Nuland sich über die »Scheiß-EU«, sprich: Bundesrepublik, ausließ. Die sorgte nach US-Geschmack zuwenig für Eskalation. Am Dienstag erhielten beide – Washington und Berlin – aus Kiew neue Erfolgsmeldungen. Wer Nazis päppelt, macht sich um Leichen keine Sorgen. Der Westen spielt sein übliches, kriegerisches Spiel.
**** Aus: junge Welt, Mittwoch 19. Februar 2014
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