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Der Chef der Tafelrunde

Wolfgang Ischinger moderiert den Runden Tisch in der Ukraine

Von René Heilig *

Angeblich ist König Artus der Erfinder des Runden Tisches. Alle Beteiligten sollten gleichberechtigt teilhaben an der Lösung von Probleme. Nun ist Wolfgang Ischinger Chef der Ukraine-»Tafelrunde«.

Ischinger? Klar, der wird’s schon richten. Ischinger ist ein Top-Mann, klug, erfahren, korrekt. Er steckt in einem riesigen Netzwerk, kennt Hinz und Kunz auf dem politischen Parkett und weiß Hintergründe von Krisen und Konflikten zu analysieren. Ischinger kann zuhören, wirkt verbindlich, geradezu kollegial auch gegenüber Leuten, die das nicht verdienen. Der Mann umschifft elegant Klippen, die andere noch gar nicht gesehen haben. Er will gestalten, ist beharrlich und bleibt – wenn nötig – hart in der Sache.

Wolfgang Ischinger, der deutsche Spitzendiplomat, der mit seinen 68 Jahren zwar nicht mehr im Staatsdienst, doch keinesfalls außer Dienst ist, wurde von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entsandt, um der Übergangsregierung in Kiew und den Separatisten in der Ostukraine Kompromisse abzuringen.

Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Das Gremium, das alljährlich in der bayrischen Landeshauptstadt maßgebende Politiker und Militärs versammelt, ist eher NATO-nah. Die OSZE war bislang nicht so die Welt von Ischinger. Wie auch, sie wurde ja bislang vor allem von dieser NATO und der EU ins Abseits des politischen Geschehens verwiesen. Sehr zu Unrecht, wie man jetzt merkt.

Nun soll die OSZE, deren mangelnde Autorität Ischinger irgendwie überspielen muss, einen drohenden Bürgerkrieg oder einen noch schlimmeren Waffengang im Osten Europas abwenden und politische Strukturen eines respektvollen Nebeneinander ermöglichen.

Wolfgang Ischinger wurde im baden-württembergischen Beuren geboren, studierte Jura und Völkerrecht in Bonn, Genf und Harvard, arbeitete zwischen 1973 bis 1975 in New York für den damaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim. In den 80er Jahren war er Büroleiter von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Was Diplomatie können muss, wenn Waffen sprechen, lernte er aber vermutlich erst so richtig Mitte der 90er Jahre. 1995 handelte Ischinger gemeinsam mit dem US-Krisenmanager Richard Holbrooke das sogenannte Dayton-Abkommen aus. Damit wurde der bosnische Bürgerkrieg beendet. Vier Jahre später war Außenstaatssekretär Ischinger dabei, als der von der NATO angezettelte Kosovo-Krieg gestoppt wurde. Das klappte nur, weil man es verstand, Russland ins Boot zu holen. Doch damals war das ein anderes Russland. Ischinger wird das bedauern, sieht er doch, dass Putins Land heute weitaus kräftiger dasteht.

Ob seiner Erfolge bei der Beilegung der Balkan-Streitigkeiten schickte die rot-grüne Bundesregierung Ischinger als Botschafter in die USA. Amerika zog ihn schon als Austauschschüler und Student an. Doch nun sollte er erneut eine Krise entschärfen und das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA gerade rücken. Dieses geriet in Schieflage, als Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zumindest offiziell dem US-Präsidenten George W. Bush die Gefolgschaft im Irak-Krieg verweigerte. Doch Ischingers Mission war noch komplizierter als ohnehin gedacht. Sein erster Arbeitstag in Washington war der 11. September 2001 – der Tag, an dem fanatische Angreifer nicht nur die USA, sondern die ganze Welt veränderten. »Ich bin dann... mutig, wahrscheinlich naiv und eher sinnlos, in meinen Dienstwagen gestiegen und habe gesagt, wir fahren da jetzt mal hin.« Er sei bis auf 400 Meter an das Pentagon herangekommen und habe »mit eigenen Augen dieses Flammenmeer gesehen, diesen schwarzen Qualm, der einen immer größeren Teil des Horizonts einnahm«, erzählte der Botschafter in der ARD. Es war das einzige Mal, dass der Diplomat körperlich so dicht an einem internationalen Brandherd dran war.

Nach den Attacken in New York und Washington rief Bush den noch immer andauernden weltweiten Krieg gegen den Terror aus. Schröder versicherte »uneingeschränkte Solidarität«, und in deren Namen hat Ischinger gewiss viele Momente erlebt, in denen diplomatische Vernunft keinen Penny wert war. 2006 übernahm er dann den Botschafterposten in London, seit 2008 hat er den »Schonplatz« in München.

Kennt Ischinger die Ukraine genügend, um verfeindete Lager zusammenzuführen? Im Februar hat der Botschafter bei seiner diesjährigen Münchner Konferenz Boxweltmeister Wladimir Klitschko als einen Guru der Opposition sowie Leonid Koschara, den Außenminister des inzwischen gestürzten Staatschefs Viktor Janukowitsch, auf dem Podium begrüßt. Was nicht einen Hauch zur Lösung des ukrainischen Problems beitrug. Im Gegenteil. Wie dramatisch sich die Lage in der Ukraine entwickeln würde, hat auch Ischinger nicht geahnt. Russland holte sich die Krim, die Regionen im Osten revoltierten, Kiew schickte Truppen und rechtsextreme Brandstifter aus.

Als im März auf der Krim Fakten geschaffen waren, versuchte Ischinger, den Weg der Mäßigung zu propagieren. Der Westen dürfe nicht nur Sanktionen verhängen, sondern müsse »den Russen auch einen Weg zeigen, wie sie aus ihrer Schmoll- und Trotzecke mittelfristig wieder herauskommen«. Der Diplomat gab früher als andere zu, dass auf »westlicher Seite Fehler gemacht worden« seien. Doch allein Russland habe das Völkerrecht gebrochen.

Viel wird bei Ischingers aktueller Mission davon abhängen, wie sehr die deutsche Regierung ihm den Rücken frei hält und die USA zur Mäßigung anhalten kann. Denn Washingtons Kraftmeierei gegenüber Russland ist Wasser auf die Mühlen der Kiewer Nationalisten, die die Einladungen zum Runden Tisch vergeben.

Eine Garantie dafür, dass Ischinger alles richtet, gibt es nicht. Unklar ist auch, wie lange Tübinger Studenten noch auf die nächste Vorlesung ihres Honorarprofessors warten müssen. Vorlesungen lassen sich leicht nachholen, verpasste Chancen sind dahin.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014


Schmidt warnt vor Abgrund

OSZE: Schwere Verletzung von Menschenrechten

Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) hat die Ukraine-Krise mit den Spannungen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verglichen. »Die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag«, sagte Schmidt der »Bild«-Zeitung. Auf die Frage, ob er Europa wie damals am Abgrund sehe, sagte er: »Die Situation scheint mir zunehmend vergleichbar.«

Prorussische Aktivisten haben sich laut der Organisation Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Dazu gehörten Mord, Folter, Misshandlung und das Verschwindenlassen politischer Gegner, heißt es in einem Expertenbericht. Auf der Krim herrsche eine »Atmosphäre der Einschüchterung«. Ähnlich äußerte sich UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay. Russland warf den UN Parteilichkeit vor.

Aus dem ostukrainischen Donezk meldete das rechtsextreme Bataillon »Donbass« die Zerschlagung einer »Terroristen-Einheit«. Der prorussische Gouverneur der »Volksrepublik Donezk« hatte am Vorabend den Ausnahmezustand ausgerufen.



Barrikade gegen Faschisten

Klaus Joachim Herrmann über rechte Siegesmeldungen aus der Ostukraine **

Im Zentrum von Donezk steht laut dem ukrainischen Internetportal bigmir.net seit Freitag eine Barrikade genau an jenen Straßen, die nach dem legendären Kommandeur der Roten Armee Nikolai Schtschors und nach Rosa Luxemburg benannt sind. Die Betonquader und der Posten mit der Maschinenpistole sind Symbol einer Eskalation des ukrainischen Konfliktes zwischen der Zentralmacht und dem Osten.

Ein Donezker Rayon sei »befreit«, frohlockte der Kommandeur des Bataillons »Donbass«, eine Gruppe »Terroristen« zerschlagen, die Ordnung wieder hergestellt. Solche Siegesmeldungen können allzu viele Bürger der Region nur als brutale Provokation empfinden. Sie sind Russland so nahe und waren ihm bis auf den Tod im Krieg gegen den Faschismus verbündet. »Donbass« nennt sich »Bataillon der freiwilligen territorialen Selbstverteidigung«, ist aber die Kampftruppe des Rechten Sektors. Der bewährte sich auf dem Maidan und beim Sturz von Präsident und Regierung. Nun führen die Rechtsextremen im Bunde mit der regulären Armee der neuen Chefs in Kiew ihre Angriffe im Donbass.

Ob nun Runder Tisch in Kiew, Donezk oder Charkow – der »nationale Dialog« im Osten wird ganz im Sinne Julia Timoschenkos – Bombe drauf! – geführt. Mit Ignoranz, Provokation und Gewalt.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014 (Kommentar)


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