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Kein Kompromiss in Kiew

Demonstranten besetzen Europazentrum der Hauptstadt

Die ukrainische Opposition hat ein überraschendes Kompromissangebot der Staatsführung abgelehnt und stattdessen ihre Proteste in den Regionen ausgeweitet. Im Westen des Landes hielten Demonstranten in immer mehr Städten Verwaltungsgebäude besetzt. Am Samstagabend hatte die Opposition um Vitali Klitschko das Angebot einer Regierungsbeteiligung ausgeschlagen.

Bundesaußenminister Frank-Walter Stein- meier rief die Staatsführung der Ukraine auf, in dem erbitterten Machtkampf auf die Opposition zuzugehen. Eine Lösung des Konflikts sei nicht mit Gewalt zu erzwingen, sagte er in Berlin. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, (SPD), schloss Sanktionen gegen die ukrainische Regierung nicht aus. »Janukowitsch, Stopp mit der Gewalt. Und rede mit deinem Volk, das ist der bessere Weg als der Unsinn, der da jetzt veranstaltet wird«, sagte Schulz beim SPD-Sonderparteitag in Berlin.

Präsident Viktor Janukowitsch hatte seinen Kritikern zuvor in einem spektakulären Schritt Ministerposten angeboten. Der Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk solle neuer Regierungschef und Klitschko dessen Stellvertreter werden. Das hatte der Staatschef bei einem dreistündigen Krisentreffen gesagt. Klitschko lehnte das Angebot mit den Worten ab, Janukowitsch müsse mit einem Rücktritt den Weg für einen Neubeginn freimachen. Jazenjuk sprach sich für weitere Verhandlungen aus.

In der Hauptstadt Kiew besetzten Demonstranten nach schweren Zusammenstößen mit der Polizei das riesige Kongresszentrum am Europaplatz. Das Gebäude sei »ohne Blutvergießen eingenommen« worden, sagte Klitschko. Fernsehbilder zeigten starke Schäden am Gebäude. Innenminister Vitali Sachartschenko warf der Opposition Extremismus vor. »In den Büros werden Essen und heißer Tee ausgegeben, hier können sich unsere Kampfgenossen aufwärmen«, sagte eine Sprecherin der Vaterlandspartei von der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. In Kiew herrscht Frost von minus 20 Grad.

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. Januar 2014


Drei Stunden Nachdenken über ein Nein

Der ukrainische Präsident Janukowitsch bot Jazenjuk, Klitschko und Co. die höchsten Regierungsämter an

Von Manfred Schünemann **


Die Hoffnung auf Annäherung erstarrt im Kiewer Dauerfrost. Ein Angebot der Regierung läuft ins Leere. Die Ukraine versinkt im Chaos, doch die Opposition will sich nicht auf Janukowitsch einlassen.

Am Ende der dritten Verhandlungsrunde mit den Oppositionsführern zur Beendigung der Gewaltausbrüche und zur Lösung der innenpolitischen Krise überraschte Präsident Viktor Janukowitsch mit dem Angebot an Arseni Jazenjuk und Vitali Klitschko, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das Erstaunen war nach Informationen aus dem Regierungslager so groß, dass Jazenjuk den Präsidenten bat, mit der Veröffentlichung des Angebotes bis zur Rückkehr der drei Oppositionspolitiker auf den Unabhängigkeitsplatz zu warten.

Es dauerte dann über drei Stunden, bis die drei vor die Protestanhänger auf dem Maidan-Platz traten und die Vorschläge des Präsidenten zurückwiesen. Sie hatten die Zwischenzeit ganz offensichtlich gebraucht, um sich mit ihren westlichen Beratern abzustimmen und eine weitgehend einheitliche Linie zu vereinbaren. Bezeichnend ist, dass Klitschko als erster auftrat und die Linie vorgab, »die Verhandlungen werden fortgesetzt, aber auf Provokationen aller Art falle man nicht herein«. Erst danach erklärte Jazenjuk, dem Präsident Janukowitsch das Amt des Ministerpräsidenten angetragen hatte, die Opposition »scheue sich nicht davor, Regierungsverantwortung für das Schicksal des Landes zu übernehmen, aber nicht solange die Forderungen der Opposition nicht erfüllt seien«.

Mit seinen Vorschlägen hat Janukowitsch einen taktisch klugen Schachzug in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen, die unvermindert andauern, gemacht, behält er damit doch die Verhandlungsinitiative und gewinnt weitere Zeit. Außerdem beugte er sich damit auch den Überlegungen des einflussreichen Oligarchen Rinat Achmetow, der ein stärkeres Einlenken angemahnt hatte. Auch Janukowitsch war sicherlich von vornherein klar, dass die Opposition auf seine unrealistischen Vorschläge nicht eingehen wird. Zu offensichtlich war die Absicht, mit einem Bauernopfer die Opposition in die Verantwortung für die Überwindung der tiefen politischen Krise einzubinden, die latente Zwietracht zwischen den drei Oppositionsparteien zu vertiefen und die aussichtsreichsten Konkurrenten im Wahlkampf um das Präsidentenamt, Jazenjuk und Klitschko, wenn nicht auszuschalten, so aber doch in den Augen ihrer Anhänger nachhaltig zu diskreditieren.

Zugleich wird deutlich, dass Janukowitsch zu weitgehenden Kompromissen bereit ist, wenn seine Machtstellung bis zur Präsidentenwahl unangetastet bleibt und Änderungen des politischen Kurses, der Reformgesetze und der Verfassung nur mit seiner Zustimmung erfolgen. Es wird aber auch immer klarer, dass sich darauf die Oppositionsparteien nicht einlassen werden.

Somit bleibt als einzig reale Möglichkeit die Fortsetzung der Verhandlungen über die Hauptforderungen der Opposition: Freilassung der Festgenommenen; Amnestiegesetz; Änderungen im Wahlgesetz; Rückkehr zu den Verfassungsregeln von 2004/05 zur Einschränkung der Macht des Präsidenten und Stärkung der Rolle des Parlaments.

Am Ende dieser Verhandlungen könnte dann als weiteres Zugeständnis von Seiten des Präsidenten die Zustimmung zu vorgezogenen Präsidentenwahlen stehen. Ob solche einvernehmlichen Regelungen zustande kommen, hängt aber auch davon ab, ob es den Oppositionspolitikern gelingt, die radikalen Kräfte in der Protestbewegung unter Kontrolle zu halten und Gewaltaktionen gegen staatliche Einrichtungen und Verwaltungsstrukturen zu verhindern.

** Aus: neues deutschland, Montag, 27. Januar 2014


Staatsmacht bröckelt

Ukraine: Demonstranten besetzen weitere öffentliche Gebäude in Kiew. Oppositionsführer weisen Angebote Janukowitschs zurück

Von Reinhard Lauterbach ***


In Kiew haben die militanten rechten Demonstranten ihre Kontrolle über das Stadtzentrum ausgeweitet. Mit der Drohung, das Gebäude anzuzünden, erzwangen sie am Wochenende, daß etwa 200 Sicherheitskräfte das Kongreßzentrum »Ukrainisches Haus« räumten. Die Soldaten des Innenministeriums waren am Samstag in das Gebäude eingerückt, das im Rücken der Barrikaden liegt, an denen sich rechte Demonstranten seit etwa einer Woche blutige Kämpfe mit der Polizei liefern. Ein erster Versuch, das Gebäude zu stürmen, war am Widerstand der Soldaten gescheitert. Als Demonstranten durch die eingeschlagenen Fenster Autoreifen in die Halle warfen und die Gefahr einer Brandstiftung drohte, schaltete sich Oppositionsführer Witali Klitschko ein und handelte den kampflosen Abzug der Soldaten aus.

In den Regionen der Ukraine haben Regierungsgegner inzwischen in elf von 26 Gebieten die Regionalverwaltungen besetzt und die Gouverneure zum Rücktritt gezwungen. Unter der Kontrolle der Opposition sind bis auf das Transkarpatengebiet im äußersten Südwesten alle Regionalhauptstädte der Westukraine sowie die von Tschernigow und Sumy im Norden. Erstmals kam es zu einem Angriff in der süd­ukrainischen Industriestadt Zaporoschje. Dort versuchten Demonstranten aus einer Menge von mehreren tausend Teilnehmern heraus, die Gebietsverwaltung zu stürmen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Der überwiegend russischsprachige Süden der Ukraine galt neben dem Donbass bisher als Hochburg der regierenden Partei der Regionen.

Die Führer der parlamentarischen Opposition wiesen am Samstag den Vorschlag von Präsident Janukowitsch zu einer Art »großer Koalition« zurück. Der Staatschef hatte dem Führer der Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, das Amt des Regierungschefs angeboten. Witali Klitschko sollte stellvertretender Ministerpräsident für das Ressort Kultur und Bildung werden. Zudem hatte Janukowitsch Straffreiheit für alle festgenommenen Demonstranten und die Rücknahme der umstrittenen neuen Versammlungsgesetze angeboten. Doch die Opposition geht jetzt aufs Ganze. Sie erneuerte ihre Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen und nach einer Rückkehr zur vor 2004 geltenden Verfassung. Diese stärkt das Parlament gegenüber dem Präsidenten und war seinerzeit als Folge der »orangen Revolution« in einer ähnlichen Pattsituation wie heute zugunsten des damaligen Oppositionsführers Wiktor Juschtschenko geändert worden.

Janukowitschs neue Kompromißbereitschaft hat mehrere Gründe. Zum einen kann er nicht ignorieren, daß er de facto nur noch das halbe Land regiert – zwar die reichere und bevölkerungsstärkere Hälfte, aber die Hauptstadt Kiew etwa nur noch zum Teil. Eine Staatsmacht, die 500 Meter vom Präsidentenpalast entfernt endet, hat ein Problem, auch wenn Korrespondenten berichten, daß außerhalb des von der Opposition besetzten Bereichs im Zentrum das Leben in der Stadt normal verläuft. Vor allem aber bröckelt offenbar Janukowitschs Rückhalt in der Oligarchie. So ließ sein bisheriger Mentor und Chef des »Donezker Clans«, Rinat Achmetow, auf Firmenpapier eine Erklärung verbreiten, in der vor einer gewaltsamen Lösung des Konflikts gewarnt wird. Und der mit der Opposition sympathisierende Unternehmer Petro Poroschenko traf sich mit dem Stahlbaron und Oberhaupt des »Dnepropetrowsker Clans«, Boris Pintschuk. Es dürfte um die Fortsetzung der gedeihlichen Geschäfte gegangen sein.

*** Aus: junge welt, Montag, 27. Januar 2014


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