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Putsch im Putsch

Ukraine: Faschisten vom "Rechten Sektor" stürmen Kiewer Parlament. Medien schüren derweil Kriegsstimmung

Von Reinhard Lauterbach *

Etwa 2000 Anhänger der Gruppierung »Rechter Sektor« haben am Donnerstag das Kiewer Parlament gestürmt. Sie forderten die Untersuchung der Todesumstände von Oleksander Muzytschko, dem Anfang der Woche von der Polizei erschossenen Anführer der Gruppe in der Westukraine. Es gibt Anzeichen dafür, daß er nicht, wie die Polizei behauptet, bei seiner Festnahme Widerstand leistete, sondern daß sein Tod die Folge einer extralegalen Hinrichtung war. Die Besetzung endete am späten Abend, als ihnen die Abgeordneten der Rada nicht nur die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zusagten, sondern auch die Aufnahme von Vertretern des »Rechten Sektors« in dieses Gremium. Damit ist der Versuch der Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk, diesen als politischen Machtfaktor auszuschalten, offenkundig gescheitert; im Gegenteil scheint die Gruppe fähig, der ukrainischen Politik die Agenda zu diktieren.

Neben der Untersuchung des Todes von Muzytschko verlangten die ins Parlament eingedrungenen Faschisten den Rücktritt der Regierung Jazenjuk. Sie warfen ihr Tatenlosigkeit gegenüber dem Anschluß der Krim an Rußland vor. In der Tat hatte das ukrainische Militär nur hinhaltenden Widerstand geleistet; wachsende Kritik hieran in der Öffentlichkeit hatte bereits den mit der nationalistischen Swoboda-Partei verbundenen Verteidigungsminister Igor Tenjuch das Amt gekostet.

Der Überfall der Faschisten auf das Parlament erfolgte am selben Tag, an dem die Abgeordneten über die erste Stufe der vom IWF geforderten und von der Regierung bereits zugesagten »Reformen« berieten. Sie sehen beispiellose soziale Einschnitte wie fünfzigprozentige Erhöhungen der Gastarife, das Einfrieren von Mindestlohn und Renten, neue Steuern auf Tabak, Alkohol und den Kauf ausländischer Währungen sowie die Entlassung jedes zehnten öffentlich Bediensteten vor. In dieser Perspektive ist die Aktion des Rechten Sektors ein klassisches Ablenkungsmanöver: es wird ein emotional besetztes Thema nationalistischen Gehalts aufgemacht, um eine Debatte über die sozialen Folgen der Maidan-Proteste zu verhindern. Das hinderte die mit der Regierung Jazenjuk verbundene »Maidan-Selbstverteidigung« nicht daran, dem »Rechten Sektor« vorzuwerfen, als Agentur Rußlands oder zumindest objektiv in dessen Sinne zu wirken.

Während die ukrainische Putschregierung im ganzen Land die aus sowjetischen Zeiten erhaltenen Luftschutzräume testen läßt, wächst in der ukrainischen, polnischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit die Kriegshysterie. Polens Ministerpräsident Donald Tusk hatte vor einigen Tagen noch Stirnrunzeln ausgelöst mit der Aussage, er wisse nicht, ob die Kinder seines Landes am 1. September in die Schule würden gehen können. Inzwischen finden sich in allen Zeitungen Karten der Ukraine mit dicken roten Pfeilen in ost-westlicher Richtung. Nach unterschiedlichen Angaben von Militärs und Geheimdiensten soll Rußland in den grenznahen Bezirken Kursk, Belgorod und Rostow zwischen 30000 und 100000 Elitesoldaten konzentriert haben. Im Internet kursieren Amateurfilme von russischen Militärtransporten, die angeblich im Hinterland der ukrainischen Grenze entstanden sind. Der Chef des polnischen Büros für Nationale Sicherheit, General Koziej, verglich die Situation in der Ostukraine mit der in Polen im September 1939. Exakt nannte er den 17. September 1939 als Vergleichspunkt, also den Tag, an dem die Rote Armee zweieinhalb Wochen nach dem deutschen Angriff in die polnischen Ostgebiete einmarschiert war. Ironischerweise unterstellt dieser Vergleich natürlich einen bereits erfolgten Angriff auf die Ukraine von Westen; das dürfte dem, was russische Strategen nicht öffentlich sagen, aber wahrscheinlich insgeheim zugrundelegen, ziemlich nahe kommen.

Westliche Militärs rechnen inzwischen offenbar ziemlich konkret die Chancen und Risiken eines russischen Angriffs auf die Ostukraine durch. In der Fachzeitschrift Foreign Affairs schrieb ein der liberalen Opposition nahestehender russischer Militärexperte, das optimale Zeitfenster für einen Angriff liege aus klimatischen, taktischen und politischen Gründen zwischen Anfang April und Mitte Mai. Die polnische Zeitung Rzeczpospolita zitiert aus einer CIA-Studie, wonach erste Angriffsziele die Städte Charkow, Donezk und Lugansk in der Ostukraine wären. Der Analysedienst Stratfor schätzte als militärisch naheliegendes Ziel einer Offensive die Dnjepr-Linie und eventuell die Besetzung der gesamten Schwarzmeerküste der Ukraine bis nach Odessa ein. Die russische Armee wäre nach diesen Ausführungen wahrscheinlich in der Lage, innerhalb von 48 Stunden die Luftüberlegenheit zu erringen und den Dnjepr im Stil eines Blitzkriegs mit Panzerverbänden zu erreichen; sie müßte allerdings, je weiter sie nach Westen vordringe, mit wachsendem Widerstand und einem eventuellen Partisanenkrieg rechnen. Außerdem sei es wahrscheinlich, daß der Westen dann seine bisherige und von Barack Obama beim Brüsseler Gipfel mit der EU bekräftigte Linie aufgeben werde, der Ukraine keinen militärischen Beistand zu leisten. Wahrscheinlich haben alle diese Analysen auch den Zweck, einen solchen Kurswechsel herbeizuschreiben.

Zweifelhaft ist jedenfalls, ob sich Rußland im Falle eines Angriffs auf die Ostukraine ähnlicher Zustimmung der Zivilbevölkerung sicher sein könnte wie im Fall der Krim. Umfragen ukrainischer und russischer Institute aus den letzten Tagen besagen, daß quer durch die Regionen, Muttersprachen, Altersstufen und Bildungsgrade zwar etwa zwei Drittel der Ukrainer weiterhin freundschaftliche oder gutnachbarliche Beziehungen zu Rußland wünschen, daß jedoch auch im Osten nur 15 bis 20 Prozent sich auf einen Beitritt ihrer Regionen zu Rußland orientieren, während der Rest weiter in einer unabhängigen Ukraine leben will.

Offenbar in Kenntnis dieser Ergebnisse hat der abgesetzte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch am Freitag in einer öffentlichen Erklärung gefordert, alle ukrainischen Regionen sollten Referenden über ihren künftigen Status veranstalten; nur so ließe sich die Integrität des Landes aufrechterhalten, sagte Janukowitsch. Daß die Volksabstimmungen entsprechend ausgehen würden, schien er vorauszusetzen. Geht man davon aus, daß Janukowitsch im russischen Exil nichts vorträgt, was nicht mit Moskau abgesprochen ist, würde dies bedeuten, daß Rußland nach wie vor eine Föderalisierung der Ukraine mit größerer Selbständigkeit der Regionen einer Eingliederung von Teilen des Landes vorzieht.

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. März 2014


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