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Granatbeschuss zu Ostern

Der Waffenstillstand im Donbass wird immer brüchiger. Großbrand in Donezk. Gedenken an Befreiung in Odessa

Von Reinhard Lauterbach *

Die im Februar vereinbarte Waffenruhe im Donbass wird immer häufiger gebrochen. Das berichten übereinstimmend Medien beider Seiten sowie die OSZE-Beobachtermission im Donbass. Beide Kriegsparteien beschuldigen sich dabei gegenseitig, mit dem Beschuss begonnen zu haben.

Die OSZE-Beobachter beschränken sich darauf, zu notieren, wo sie Schusslärm gehört hätten. Daraus geht hervor, dass entgegen der Kiewer Darstellung auch ukrainische Truppen die Waffenruhe brechen. Die »Volksrepublik Donezk« erklärte ihrerseits, entlang der ganzen Front gebe es täglich mehrere Dutzend Schusswechsel. Die »Volkswehr« schieße allenfalls zurück.

Vor dem vergangenen Wochenende, das im orthodoxen Kalender als Ostern begangen wurde, verstärkte sich insbesondere der Beschuss der Stadt Donezk. Am Freitag und Samstag seien Feuerwehr und Krankenwagen in pausenlosem Einsatz gewesen, teilte die Stadtverwaltung mit. In der Nacht zum Sonntag brach – angeblich nach einer Explosion – in einem Stadtviertel mit Chemiefabriken ein Großbrand aus, den die Feuerwehr auch nach Stunden nicht löschen konnte. Ob er mit ukrainischem Beschuss in Zusammenhang stand, war zunächst unklar.

Befürchtungen, die aktiven Kampfhandlungen könnten wieder beginnen, sind in den vergangenen Tagen stärker geworden. Auf ukrainischer Seite wurde damit begonnen, rund um die Stadt Charkiw Panzergräben auszuheben. Ein Militärsprecher räumte ein, dass sie einen eventuellen russischen Angriff allenfalls verzögern könnten. Die Militärführung der Volksrepublik Donezk berichtete, die ukrainische Seite verlege Panzer in Richtung der Frontlinie – entgegen den Vereinbarungen von Minsk II, die den Abzug schwerer Waffen vorsahen, aber nur unvollständig erfüllt wurden. Andererseits hieß es, die ukrainischen Truppen westlich von Donezk hätten sich eingegraben, was nicht unbedingt als Vorbereitung eines Angriffs gewertet werden kann.

Unterdessen ist der ukrainische Geheimdienst offenbar dabei, in den als prorussisch verdächtigten Städten Charkiw und Odessa Linke und Sympathisanten der »Volksrepubliken« festzunehmen. Allein in Odessa wurden nach unterschiedlichen Quellen zwischen 30 und 40 Aktivisten festgenommen. Einer von ihnen wurde nach Angaben seiner Frau von maskierten Geheimdienstlern beim Verhör so heftig geschlagen, dass er das Bewusstsein verlor und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Im Auto des Mannes waren nach Darstellung der Behörden zwei Handgranaten gefunden worden. Der Verdächtige erklärte, sie seien ihm untergeschoben worden.

Am Samstag fanden in Odessa zwei Demonstrationen zur Erinnerung an den 71. Jahrestag der Befreiung der Stadt im Jahre 1944 statt: die eine unter ukrainischen Fahnen, die andere unter sowjetischer Symbolik. Die Polizei beschränkte sich darauf, beide Demonstrationen zu trennen. Gegen die gezeigten roten Fahnen ging sie zunächst nicht vor.

Am Donnerstag hatte das ukrainische Parlament alle Formen sowjetischer Symbolik, von roten Fahnen und fünfzackigen Sternen über die Hymne bis zu Hammer und Sichel, verboten. Oppositionelle Blogger spotten bereits, damit verbaue sich die Ukraine auch die dringend erwünschten Investitionen aus China.

In der ukrainischen Gesellschaft wächst derweil die Enttäuschung über die neuen Machthaber. Vor der Präsidialkanzlei in Kiew demonstrierten einige hundert Kleinhändler unter der Parole »Haben wir dafür auf dem Maidan gestanden?«. Hintergrund ist die Entscheidung der Stadtverwaltung, die Pachtverträge für ihre Kioske in den Durchgängen der U-Bahn-Stationen nicht zu verlängern, angeblich aus Gründen der Brandgefahr. Die Demonstranten vermuten jedoch, dass die Mannschaft des Bürgermeisters Witali Klitschko die Flächen lukrativ an Sponsoren der Partei UDAR vergeben wolle.

Aus der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk berichtete die OSZE über eine Kundgebung des »Rechten Sektors« am vergangenen Donnerstag vor dem örtlichen Gericht. Die Demonstranten hätten den Gerichtsvorsitzenden aus seinem Büro geholt, ihn in einen Mülleimer gesteckt und mit giftgrüner Farbe begossen. Anlass des Übergriffs: Der Mann hatte die »Frechheit« besessen, die regionale Organisation des – im ukrainischen Parlament mit zehn Prozent vertretenen – »Oppositionsblocks« zu registrieren.

* Aus: junge Welt, Montag, 13. April 2015


Runter geht’s immer

Die Ukraine hangelt sich von einer Kreditrate zur nächsten. Ratingagentur erwartet trotzdem Staatsbankrott

Von Reinhard Lauterbach **


Als im März die Ukraine etwa zwei Milliarden US-Dollar vom Internationalen Währungsfonds erhielt, gab sich die Regierung in Kiew zuversichtlich. Dabei war das Geld auf den Konten der Kiewer Notenbank nur kurz geparkt und floss alsbald wieder zurück, um fällige Auslandsschulden des Landes zu begleichen. Das Geld vom IWF war ohnehin nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein: Die Ukraine müsste in diesem und dem nächsten Jahr rund 40 Milliarden US-Dollar zurückzahlen und hat sie nicht. Die Alternative heißt Staatsbankrott. Die amerikanische Ratingagentur Standard ans Poor’s (S&P) hält diesen Ausgang jedenfalls für so wahrscheinlich, dass sie die Ukraine am vergangenen Freitag tief in den Ramschbereich hinabschrieb. Die Stufe CC bedeutet im Finanzjargon, dass ein Zahlungsausfall so gut wie sicher sei. S&P urteilt in diesem Fall, wie ein Vergleich mit Griechenland zeigt, noch relativ milde. Athen war S&P Ende März die Kategorie BB wert; die Kollegen von Moody’s und Fitsch sahen Griechenland tief im C-Bereich und müssten demnach für die Ukraine im Grunde eine Kategorie D erfinden.

Inzwischen behauptet nicht einmal mehr die Kiewer Regierung, dass die Ukraine ihre finanziellen Verpflichtungen erfüllen könne. Die als Finanzministerin fungierende US-Investmentbankerin Natalia Jaresko setzt deshalb seit einigen Wochen auf Verhandlungen über einen Schuldenschnitt mit den internationalen Gläubigern des Landes. Sie sollen idealiter auf die Hälfte ihrer Forderungen ganz verzichten oder wenigstens die Rückzahlungsfristen strecken.

Bisher aber gibt es keine Anzeichen dafür, dass die internationalen Kreditgeber auf diese ukrainischen Bitten um Schonung eingehen. Größter ausländischer Gläubiger der Ukraine ist der US-Investmentfonds Franklin Templeton. Das für seine in der Regel konservative Investmentpolitik bekannte Geldhaus ist über die letzten zwei Jahre in ukrainische Staatsanleihen eingestiegen, weil die hohe Renditen bringen und damit die mageren Zinserträge westlicher Staatsanleihen ausgleichen sollen. Stimmt es einem Schuldenschnitt zu, leidet die Performance der Fondsanteile – keine Werbung im Kampf um betuchte Kunden. Ganz trickreich argumentierte vor einigen Tagen der ungarisch-us-amerikanische Investor George Soros. Der Mann, der seit dem vergangenen Herbst die Finanzwelt auffordert, der Ukraine mehr Zeit für den Schuldendienst zu geben, erklärte, er sei bereit, dort eine Milliarde Dollar zu investieren – wenn sich der Westen verpflichte, dem Land finanziell zur Seite zu stehen, also insbesondere die Forderungen Soros’ an die Ukraine de facto mit westlichen Staatsgarantien ausstatte. Ein Supergeschäft, wenn die Kalkulation aufginge: ukrainische Renditen mit US- oder EU-Garantien dahinter.

Zum Ärger für Kiew sieht es danach aber nicht aus. Denn nach dem US-Fonds ist der zweitgrößte Auslandsgläubiger der Ukraine Russland. Es erwartet Ende 2015 die Rückzahlung von drei Milliarden US-Dollar, die Moskau der Ukraine noch unter Expräsident Wiktor Janukowitsch als »Rettungsschirm« geliehen hatte. Als im Februar die ukrainische Regierung auch in Moskau wegen einer Restrukturierung der Schulden anfragte, stellte sich Finanzminister Anton Siluanow auf diesem Ohr taub: Russland habe erhebliche Mittel in die ukrainischen Eurobonds investiert und erwarte die pünktliche Rückzahlung. Die kleine Gemeinheit in dieser Absage: Umschuldungen funktionieren nur, wenn alle Gläubiger mitziehen. Denn ansonsten würde derjenige Gläubiger, der sich nicht beteiligt, von dem eventuellen Sanierungserfolg in voller Höhe profitieren, um dessentwillen die anderen auf einen Teil ihrer Forderungen verzichtet haben. Kiew versucht diese Regel jetzt außer Kraft zu setzen. Die ukrainische Regierung hat vor einigen Tagen einseitig beschlossen, genau diejenigen Staatsanleihen zu restrukturieren – also nicht vereinbarungsgemäß zurückzuzahlen –, die der russische Fonds für Staatseigentum Ende 2013 gezeichnet hatte, als eine Art Entschädigung für den Verlust der Krim und des Donbass. Doch das ist Propaganda; man kann nicht nur gegenüber einem einzigen Gläubiger seinen Zahlungsausfall erklären. Kiew scheint darauf zu spekulieren, dass Moskau sich das Geld nicht holen wird, weil in Kiew nichts zu holen ist, und dass der Westen diesen Verstoß gegen eine geheiligte Regel des Kapitalmarkts decken wird. Es wird dann aber schwierig zu erklären, warum Griechenland seine Schulden bezahlen soll.

Derweil ist die ukrainische Wirtschaftsleistung weiter im freien Fall. Wie die Nationalbank in Kiew vor einigen Tagen bekanntgab, ist das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zu den ersten drei Monaten 2014 – die auch schon nicht gut waren – um 15 Prozent zurückgegangen. Die Ratingagentur S&P erwartet für das laufende Jahr einen Rückgang des Sozialprodukts der Ukraine um weitere 7,5 Prozent. Einzelne Betriebe haben noch wesentlich drastischere Einbußen zu beklagen: Die Waggonfabrik in der Stadt Krementschuk am Dnipro meldete einen Produktionsrückgang um 96 Prozent im ersten Quartal. Statt der 321 Waggons, die die Firma in den ersten drei Monaten 2014 abgeliefert hatte, verließen in diesem Jahr ganze 13 Güterwagen die Werkhallen. Einer der größten Kunden der Fabrik war traditionell die russische Eisenbahn.

** Aus: junge Welt, Montag, 13. April 2015 (Kommentar)


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