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"Man darf nicht Krieg gegen einen Teil des Volkes führen"

Gespräch. Mit Dmitri Schenzew. Über die aktuelle politische Situation in der Ukraine, Gewaltexzesse der Regierungsgegner und die Rolle des Westens bei der Destabilisierung des Landes *


In dieser Woche stürmte der Mob die Zentrale der regierenden Partei der Regionen. Die Büros wurden verwüstet, den Mitarbeiterinnen wurde der Schmuck gestohlen und ein Mann erschlagen, der gerade Glühlampen wechselte.
Dmitri Schenzew (49) ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Partei der Regionen in der Werchowna Rada und auch Vizechef des Rechtsausschusses. Sein Wahlkreis befindet sich in der Region Charkiw.



Ihre Parteizentrale ist, wie manch offizielles Gebäude in der Hauptstadt, eine Ruine. Es wird viel Zeit und Geld brauchen, um alle Schäden zu beheben, die durch die »demokratischen Demonstrationen« angerichtet wurden.

Ja. Aber ich begreife nicht, weshalb im Ausland für diese Gewaltexzesse und diesen Vandalismus allein die Regierung verantwortlich gemacht wird. Am Donnerstag ruft Kanzlerin Merkel bei Präsident Janukowitsch an und »liest ihm die Leviten«, wie deutsche Agenturen verbreiten. Die Wahrnehmung scheint völlig gestört. Hat vielleicht Janukowitsch das Gewerkschaftshaus und unsere Parteizentrale angesteckt, hat er das Rathaus am Kresch­t­schatik demoliert und die Pflastersteine aus den Straßen gebrochen?

Die Zentrale der Partei der Regionen befindet sich in einiger Entfernung zum Parlamentsgebäude, ein alter, mehrgeschossiger Bau, nichts Besonderes. In unmittelbarer Nähe steht das Denkmal von Dmitri Manuilski, zu Beginn der 20er Jahre Erster Sekretär der KP der Ukraine, danach arbeitete er in der Führung der Komintern, von 1944 bis 1952 war er Außenminister der Ukraine. Warum, meinen Sie, stürmte man ausgerechnet dieses Gebäude, das weitab vom Maidan und den anderen Schauplätzen liegt?

Die »Opposition« wollte am 18. Februar das Parlament stürmen. Weil dies nicht gelang – dabei verloren übrigens drei Verteidiger ihr Leben, neun Berkut-Soldaten wurden durch Schüsse schwer verletzt – wichen sie in die Seitenstraßen aus. Sie richteten nunmehr ihre Wut gegen die Zentrale der Regierungspartei. Sie schlugen die dort tätigen Mitarbeiter, auch die Frauen verschonten sie nicht, warfen Molotowcocktails, so daß die erste Etage bald brannte, und erschlugen mit Knüppeln den Ingenieur Wladimir Sacharow. Heute haben wir ihn begraben. Es war blindwütiger Mord.

Der Sturm aufs Parlament erfolgte, wenn ich mich erinnere, in der Zeit des Waffenstillstands. Was war der Anlaß?

Das Parlament suchte nach Wegen, wie wir aus der Krise kommen könnten. Die Opposition hatte die Rückkehr zur Verfassung von 2004 gefordert, also zum parlamentarisch-präsidialen Verwaltungsmodell. Wir als Regierungspartei waren (und sind) nicht dagegen, bestanden aber auf Einhaltung der demokratischen Regeln. Man kann nicht einfach erklären: Ab sofort gilt eine andere Verfassung. Dazu bedarf es einer Änderung per Gesetz. Das Parlament bildet also eine Arbeitsgruppe, die einen Entwurf erarbeitet, der in den Ausschüssen diskutiert und über den dann anschließend im Parlament demokratisch abgestimmt wird. Da hieß es sofort: Wir spielten auf Zeit. Das ist doch Unsinn. Man kann nicht einerseits nach Demokratie rufen und sich andererseits nicht selbst an deren Prinzipien halten. Die Opposition verlangte die sofortige Rückkehr zur alten Verfassung. Wäre diesem Vorschlag gefolgt worden, hätten wir gegen geltendes Recht verstoßen. Ich habe gehört, daß damals, 1990, am 17. Juni, ein Abgeordneter der Volkskammer den Antrag gestellt hatte, die DDR möge ihren sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Grundgesetz erklären. Das ist von der Parlamentsmehrheit abgelehnt worden, weil dies rechtlich unmöglich war. Aber bei uns soll das möglich sein.

Mit der Einkreisung des Parlaments sollte also Druck auf die Abgeordneten ausgeübt werden, damit diese der Forderung der Straße nachgeben. Das mißlang.

Kehren wir doch noch einmal an den Anfang zurück. Im November, vor drei Monaten, begannen die Proteste auf dem Maidan, weil sich die Ukraine weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Es hieß, Kiew habe, um Moskau zu gefallen, das Tor nach Europa zugeschlagen.

Von Gefallen kann keine Rede sein, es war aber auch keine nackte Erpressung durch Moskau, wie im Westen behauptet. Moskau hat uns einfach die Konsequenzen genannt. Wir haben dann alle Varianten nüchtern kalkuliert und kamen zu dem Schluß, daß eine durch das Abkommen verbundene Abkopplung vom russischen Markt uns binnen zwei Jahren Verluste von etwa 30 bis 40 Milliarden Dollar bescheren würde. Die würden nicht von der EU kompensiert werden, die Ukraine wäre darum schon nach wenigen Monaten bankrott. Darum haben wir eine Denkpause erbeten und uns an Deutschland mit der Bitte gewandt, mit Rußland gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die Opposition reagierte darauf mit demagogischen Parolen und belog das Volk, indem sie erklärte: Kiew will nicht in die EU. Das stimmte nicht. Der Westen stieß allerdings ins selbe Horn. Erst Wochen später begriff man in Berlin und Brüssel den Irrtum und ruderte zurück. Da aber war bereits alles zu spät. Die falsche und wenig diplomatische Reaktion wirkte nicht nur im sprichwörtlichen Sinne, als hätte man Öl ins Feuer geschüttet.

Was meinen Sie konkret?

Es reisten ständig auswärtige Politiker an und flanierten über den Maidan, die Reaktionen waren eine Carte blanche für die Aktivisten der Protestbewegung. Sie fühlten sich eingeladen und ermuntert, so eskalierte der Protest. Können Sie sich polnische Sejm-Abgeordnete in Zelten vorm Brandenburger Tor vorstellen, die gegen die Politik der Merkel-Regierung protestieren? Nein? In Kiew war das möglich. Die Ukraine ist ein souveräner Staat und – im Unterschied zu Polen – nicht Mitglied der Europäischen Union. Da muß man zu Recht solche und andere Demonstrationen und Bekundungen als unzulässige Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten betrachten. Wir sind doch keine Bananenrepublik, wir lehnen jeden Vormund ab.

Gab es neben der ideellen Schützenhilfe auch materielle Unterstützung von außen?

Ich hörte davon, daß über diplomatische Kanäle der US-Botschaft etliche Millionen Dollar geflossen sein sollen, um die Anführer vom Maidan zu finanzieren und die Logistik und Versorgung des Protestes sicherzustellen. Kämpfer vom Maidan tragen, sofern es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, Ausrüstungen und Uniformen der NATO. Die Berkut-Soldaten haben nur leichte Schutzwesten. Sie haben keine anderen.

Die Bilder des Bürgerkrieges zeigen Brandflaschen und Steine werfende Jugendliche, und das Vorgehen gegen offizielle Gebäude ist reiner Vandalismus. Die Oppositionsführer beschwichtigen: Das seien Provokateure, die von der Macht eingeschleust wurden, oder eben Durchgeknallte. Die würden von den eigenen Sicherungsgruppen aus dem Verkehr gezogen. Komisch, offenbar läßt man sie alsbald wieder laufen ...

Es ist offensichtlich so, daß die Häuptlinge ultrarechter, neofaschistischer Organisationen den demokratischen Protest beherrschen. Damit sage ich ausdrücklich, daß nicht jeder, der dort demonstriert, weil er mit der Politik und uns Politikern unzufrieden ist, ein Feind der Ukraine ist. Es ist legitim und Ausdruck lebendiger Demokratie, daß Unmut und Ablehnung auch öffentlich bekundet werden dürfen. Seit 2011 gibt es auf dem Kreschtschatik ein Camp, dessen Insassen die Freilassung von Julia Timoschenko fordern. Es gibt Zeitungen, Rundfunksender und TV-Stationen, die legal Propaganda gegen die Regierung betreiben. Das schmerzt natürlich die Regierenden mitunter, vor allem wenn die Unwahrheit verbreitet wird, aber sie läßt es zu. Das muß eine Demokratie aushalten.

Der militante Protest auf dem Maidan wird jedoch von radikalen Feinden jeder Demokratie beherrscht. Das ist Anarchie. Diese Terroristen wollen den Staat stürzen und halten sich an keine Ordnung. Es ist bezeichnend, daß die politische Opposition – die ja ebenfalls im Parlament vertreten ist – sich von diesen reaktionären, radikalen Kräften nicht distanziert. Im Gegenteil: Sie schützt und unterstützt sie. Damit erweist sie der Demokratie einen Bärendienst. Denn es wird ihnen so ergehen wie Goethes Zauberlehrling: Sie werden die Geister, die sie riefen, nicht mehr los.

Es ist offensichtlich, daß die Entwicklung völlig aus dem Ruder läuft. Warum wird nicht der Ausnahmezustand erklärt und durch die Armee die staatliche Ordnung hergestellt?

Der Präsident hat das Recht, den Ausnahmezustand zu erklären, und das Parlament muß binnen drei Tagen diese Entscheidung billigen. Ich hoffe, daß die Macht in der Lage ist, die Verfassungsordnung im Lande auch ohne dieses letzte Mittel wiederherzustellen. Es geht ums Überleben des Staates, um seine territoriale Integrität. Man darf nicht Krieg gegen einen Teil des Volkes führen.

Der Blick auf die politische Landkarte verrät den Riß, der durchs Land geht. Der ist nicht nur geopolitischer, ethnischer und sozioökonomischer Natur – ein Aspekt übrigens, der bei der Behandlung des Konflikts in den westlichen Medien überhaupt keine Rolle spielt. Er ist auch historischer Natur. Ein Teil des Landes gehörte mal zu Litauen, mal zu Polen oder zum Habsburgerreich. Er wurde Jahrhunderte lang vom russischen Zaren ausgeplündert und unterdrückt. Auch in der Sowjetzeit wurde die Ukraine bevormundet. Zur ukrainischen Geschichte gehören die tapferen Partisanen, die sich gegen die deutschen Okkupanten zur Wehr setzten, und die Kollaborateure, die mit den deutschen Faschisten paktierten. Es gab jene nationalistischen Banden von Stepan Bandera, die bis 1953 mehrere Zehntausende Menschen mordeten und auf die sich eine »Oppositionspartei«, nämlich Swoboda, stolz beruft. In Lwiw und andernorts wurden ihm Denkmale errichtet ... Nach oberflächlichem Eindruck sind die Oppositionsparteien nicht in der Lage, tragfähige Kompromisse und Konzepte fürs ganze Land anzubieten, sie scheinen politikunfähig. Aber auch Ihre Partei und der Präsident überzeugen nicht gerade mit konstruktiven Vorschlägen.

Die Macht hat der Opposition Zugeständnisse gemacht. Wir haben eine Amnestie erlassen und die harten Gesetze vom 16. Januar abgeschafft. Wir zeigten Bereitschaft, die Verfassung zu reformieren…

Nichts dagegen. Aber das war Reaktion, defensives Handeln, kein konstruktives, offensives Agieren ...

Wir haben uns kompromißbereit gezeigt und von der Opposition nur eines verlangt: Alles muß im vorgegebenen juristischen Rahmen erfolgen. Chaotisch-revolutionäre Methoden lehnen wir ab. Die letzten drei Monate waren die demokratische Nagelprobe für die Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments. Ich muß sagen: Sie hat sie nicht bestanden. Ich stimme dem US-Botschafter Pyatt ungern zu, aber er hatte einfach recht, als er im Gespräch mit der Europabeauftragten des US-Außenministers, Nuland, forderte, Klitschko solle erst einmal »seine politischen Hausaufgaben« machen.

Und nun?

Wir haben der Opposition gesagt: In einem Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Entweder sie nutzen die Zeit und gewinnen die Macht mittels einer Mehrheit, oder sie unterliegen. So aber, wie sie sich das augenblicklich wünschen, geht das nicht.

Der Aufruhr scheint inzwischen das ganze Land erfaßt zu haben. Oder ist der Eindruck falsch?

Im Westen hat die nationalistische Swoboda die Besetzung staatlicher Institutionen und Verwaltungen initiiert, auch Polizeistationen wurden okkupiert. Die dort gestohlenen Waffen – MPi, Pistolen, Handgranaten – sind nun auf dem Maidan. Im Südosten brannten keine Gebäude, es wurden auch keine Verwaltungen besetzt, und dort, wo es solche Versuche gab, wurde erfolgreich Widerstand geleistet.

Ich hatte telefonischen Kontakt in eine Kleinstadt. Mein Freund sagte: Bei uns ist alles ruhig. Unsere notorischen Störenfriede sind nach Kiew und machen dort Randale. Wie erklärt sich das offensichtliche Versagen der Polizeikräfte und der Armee insbesondere in der Westukraine? Dort werden Polizeistationen und Kasernen kampflos geräumt, der Mob konnte Waffen und Munition entwenden.

Die Bereitschaft der Macht zum Dialog wurde als Schwäche interpretiert. Die Anführer der Opposition nahmen dies als Einladung, staatliche Gebäude zu besetzen. Aber es gab keinen Befehl, auf die Radikalen zu schießen. Es sollte ein Blutbad vermieden werden. Selbst dieser kampflose Rückzug wurde nicht angemessen gewürdigt. Man demütigte Staatsbedienstete, indem man diese auf die Knie zwang und verlangte, daß sie sich »beim Volk« entschuldigten. Können Sie sich vorstellen, daß in Deutschland ein Trupp vors Finanzamt zieht, die Angestellten auf die Straße zerrt und sie auffordert, entwürdigend Buße zu tun?

Nein, kann ich nicht. Aber noch einmal: Es handelt sich – was völlig aus dem Blick geraten ist – um innere Konflikte der Ukraine. Eine wie auch immer geartete Intervention von außen bedeutete eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Warum aber handelt dieser souveräne Staat Ukraine so wenig souverän? Warum läßt er sich offensichtlich vom Ausland vorschreiben, wie er mit seinen »Oppositionellen« umzugehen hat? Auf diese Weise wurden diese Kräfte doch erst ermuntert.

Nach meinem Eindruck begeben sich viele Politiker unseres Landes freiwillig in die Obhut westlicher Staaten, insbesondere der USA, wie das bereits erwähnte Telefonat zwischen Nuland und Pyatt offenbarte. Wie haben Jazenjuk und Klitschko auf diese Unverschämtheit reagiert? Sie haben sich lediglich darüber erstaunt gezeigt, daß und wie die ganze Geschichte öffentlich geworden war. In der Sache hielt man das offenbar für einen normalen Vorgang. Man läßt sich scheinbar gern kontrollieren und bevormunden.

Was will die Ukraine sein: Mitglied der EU, Mitglied der östlichen Zollunion, Brücke zwischen beiden? Das zweitgrößte Flächenland Europas als neutrale Insel auf dem Kontinent wie etwa die Schweiz, das ist wohl kaum vorstellbar ...

Nach den Ereignissen der letzten Monate werden wir uns weder bei der EU noch bei der Zollunion beeilen. Wir werden als erstes die Folgen für unsere Wirtschaft kalkulieren müssen und dann weiterschauen. Aber ein Platz an der Peripherie dieser oder jener »Wertegemeinschaft« scheint uns nicht erstrebenswert. Wir sollten uns zunächst unserer eigenen Kraft besinnen, die das Volk der Ukraine wiederholt in verschiedenen kritischen Phasen seiner Existenz schon bewiesen hat.

Interview: Robert Allertz

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. Februar 2014


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