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Kiew will den Russen ihr Russisch lassen

Streit um Truppen an der Grenze / NATO droht mit Machtdemonstration / Anschläge auf KP-Büros

Von Klaus Joachim Herrmann *

Russland sorgt sich um westliche Expansion nach Osten, die USA und NATO setzen auf Sanktionen und Militär. Indessen lenkt Kiew im Osten etwas ein.

Sein Land habe keine Absicht, südöstliche Regionen der Ukraine aufzunehmen, versicherte Russlands Außenminister Sergej Lawrow in einem TV-Interview am Freitag. »Das widerspricht den Grundinteressen der Russischen Föderation«, sagte er. Dem Westen warf er die Neuauflage des Kurses der »Eindämmung« vor und verwies laut ITAR/TASS auf eine »Ausweitung des geopolitischen Einflusses nach Osten«. Lawrow forderte eine »Garantie« der Blockfreiheit der Ukraine.

Mit der Ausweitung von Sanktionen gegenüber Russland drohte hingegen US-Präsident Barack Obama. Nach Angaben des Weißen Hauses habe er in einem Telefongespräch mit Kanzlerin Angela Merkel festgestellt, die USA, die Europäische Union und andere globale Partner müssten vorbereitet sein, einer russischen Eskalation mit zusätzlichen Sanktionen zu begegnen.

Als »Gruselgeschichte« wies Russlands Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow Berichte der NATO über Truppenaufmärsche zurück. Auf vorgelegten Satellitenbildern seien nur Manöver aus dem Sommer 2013 zu sehen. Das Bündnis erklärte, die Aufnahmen stammen aus dem März 2014. Derweil kündigte die NATO selbst eine Machtdemonstration an. Laut dem britischen Brigadegeneral Gary Deakin, Direktor des Zentrums für Krisenmanagement im militärischen NATO-Hauptquartier in Mons (Belgien), seien auf Anweisung der NATO-Außenminister »sichtbare Maßnahmen« vorgeschlagen worden, die östlichen Mitgliedern Schutz durch das Bündnis demonstrieren.

Der ukrainische Übergangspremier Arseni Jazenjuk kündigte bei einem Gespräch mit Verantwortlichen in Donezk an, dem »Wunsch nach mehr regionalen Befugnissen« nachzukommen. Er versicherte, es werde keinerlei Einschränkungen der russischen Sprache geben. Das Gesetz, das Russisch als zweite Amtssprache zulasse, bleibe in Kraft.

Der Oligarch Rinat Achmetow forderte eine friedliche Lösung des Konfliktes, namentlich angesichts der weiterhin besetzten Verwaltungsgebäude. Übergangspremier Jazenjuk bestätigte, Gewalt sei keine Option. Die Anti-Terror-Einheit »Alpha« habe Befehle zum Sturm besetzter Gebäude in Donezk und Lugansk als »verbrecherisch« verweigert, so das ukrainische Internetportal From-UA.

In Lugansk besetzte der rechtsextreme »Rechte Sektor« das Stabsquartier der Kommunistischen Partei. Der Landeschef Pjotr Simonenko hatte am Vorabend vor dem Parlament Konsequenzen aus der Brandstiftung an einem Parteigebäude in Kiew gefordert und von einem faschistischen Anschlag gesprochen. Moskau übergab am gleichen Tag Interpol Unterlagen für einen internationalen Haftbefehl gegen den als Terroristen gesuchten Dmitro Jarosch, Chef des »Rechten Sektors« und Präsidentschaftskandidat.

Die Krim ist laut der vom Staatsrat bestätigten Verfassung ein »demokratischer Rechtsstaat in der Russischen Föderation«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. April 2014


Putschisten marschieren

Ukraine: Ultimatum an »Separatisten« in Donezk und Lugansk abgelaufen. Gerüchte über Truppenmobilisierung durch Kiew. Weitere Angriffe auf Kommunisten

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ukraine ist am Freitag ein weiteres Büro der Kommunistischen Partei attackiert worden. Nachdem in der Nacht zum Donnerstag das Gebäude des Zentralkomitees der KPU in Kiew verwüstet und in Brand gesteckt worden war (jW berichtete), griffen Aktivisten des »Rechten Sektors« in Riwne den dortigen Sitz der lokalen Parteiorganisation an. Wie das Internetportal Ukrainskaja Prawda meldete, stürmte die Faschistentruppe in der westukrainischen Stadt das Gebäude und »beschlagnahmte« es. Begründet wurde der Überfall mit der angeblichen Unterstützung der »Separatisten« in der Ostukraine durch die Kommunisten. Den anwesenden Funktionären sei bis auf einige Beschimpfungen nichts geschehen, berichtete das dem Maidan nahestehende Portal. In Riwne hatte die Polizei Ende März den Regionalchef des »Rechten Sektors«, Olexander Muzytschko, erschossen. Es kam der dortigen Führung deshalb offenbar darauf an, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Trotz eines am Freitag ausgelaufenen Ultimatums und eines Amnestieangebots aus Kiew verstärkten die Besetzer von Verwaltungsgebäuden in Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine ihre Barrikaden durch Stacheldrahtverhaue und riefen zur Bildung einer »Volksarmee« auf. Dieser sollen sich einer Meldung des russischen Internetportals Lifenews zufolge bislang etwa 1500 Kämpfer angeschlossen haben. Die Kiewer Machthaber drohten mit militärischer Gewalt. Im Internet kursierten Aufnahmen ukrainischer Militärkolonnen, die auf dem Wege in die Region sein sollen. Die fotografierten Fahrzeuge schleppten auch Panzerabwehrkanonen, die auch für den Einsatz im Straßenkampf geeignet sind. Sollten diese tatsächlich auf die von den Besetzern in Donezk und Lugansk errichteten Barrikaden abgefeuert werden, dürfte von denen wenig übrigbleiben – allerdings wäre der Einsatz von schwerem Kriegsgerät eine direkte Provokation Rußlands, das Kiew ausdrücklich vor Gewaltanwendung gewarnt hat. Einstweilen allerdings stoppten Dorfbewohner mindestens eine der Kolonnen und forderten die Soldaten auf, nicht gegen die Bevölkerung vorzugehen. Zudem kündigte Medienberichten zufolge die Sondereinheit »Alfa« in Donezk und Lugansk an, einen möglichen Angriffsbefehl zu verweigern.

Parallel dazu hat das Regime in Kiew Zugeständnisse an die Bevölkerung der Ost- und Südukraine angedeutet. »Ministerpräsident« Arseni Jazenjuk sagte bei einer Besprechung mit hohen Beamten und Unternehmern in Donezk, seine Regierung werde niemandem vorschreiben, welche Sprache er zu benutzen habe. Das Gesetz aus dem Jahr 2012, das Ukrainisch zur Staatssprache erklärt, Russisch und einige andere Sprachen aber als Regionalsprachen anerkennt, sei nie aufgehoben worden. Tatsächlich jedoch hatte das Parlament in Kiew dieses Gesetz schon als eine seiner ersten Amtshandlungen nach dem Putsch annulliert. »Präsident« Olexander Turtschinow kündigte aber wenige Tage später als Reaktion auf die sofort aufgeflammten Proteste an, diesen Beschluß nicht zu unterzeichnen. Damit ist die Aufhebung des amtlichen Status der russischen Sprache nicht rechtskräftig geworden. Jazenjuks Erklärung ist trotzdem wenig wert, weil sein Kabinett noch in diesem Jahr nach vorgezogenen Parlamentswahlen abtreten wird. Die höchstwahrscheinlich mindestens ebenso nationalistische Nachfolgeregierung wird an seine Zusage nicht gebunden sein.

** Aus: junge Welt, Samstag, 12. April 2014


Kulissen

Jürgen Reents zum russischen »Aufmarsch« vor der Ukraine ***

Mit Meldungen über fremde Aufmarschpläne war man schon immer kreativ. Als die eigene Raketenstationierung im November 1983 in die Entscheidung ging, mahnte ein Verteidigungsminister Wörner, »die Sowjets« brächten »jede Woche eineinhalb Raketen in Stellung«. Die Vierteljahresberichte der NATO in den Monaten März, Juni und September hatten indes stets die gleiche Ist-Zahl 351 wiederholt. Rechnerisch passte da gar nichts. Nirgendwo wird soviel getrickst, getäuscht und gelogen wie in den militärischen Kulissen.

Nun hören wir von bis zu 40 000 »einsatzbereiten« russischen Soldaten im Grenzgebiet zur Ukraine. Aus Moskau heißt es, die Fotos der NATO-Satelliten stammten von einem Übungsmanöver im letzten Jahr. Die Bundesregierung kann einen Abzug »nicht bestätigen«, schallt es zurück. Man möchte ein einziges Mal eine Meldung von dieser Art für ebenso zulässig halten: Die NATO hat ihre Truppen von hier oder dort in der Welt zurückgezogen, eine Bestätigung aus Moskau liegt jedoch nicht vor. Aber es ist wieder wie früher: Russische Quellen gelten als nicht glaubwürdig, die NATO und ihre Regierungen dagegen als Instanzen einer unabhängigen Wahrheit. Im ungeklärten Fall – siehe die Todesschüsse auf dem Maidan – nimmt man sogar die Version eines rechtsextremistischen Generalstaatsanwalts für bare Münze und ignoriert einen Monat lang gegenteilige Tatortvideos. Warum? Sie lagen zuerst dem russischen, nicht dem deutschen Staatsfernsehen vor. Sie waren also aus Gründen der Herkunft Propaganda, nicht Wahrheit. Beide haben – egal wo – ihren nationalen Pass.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 12. April 2014 (Kommentar)


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