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Die Rechtsüberholer

Im ukrainischen Wahlkampf gerät Präsident Poroschenko unter Beschuß einstiger Bündnispartner

Die Rechtsüberholer Im ukrainischen Wahlkampf gerät Präsident Poroschenko unter Beschuß einstiger Bündnispartner Von Reinhard Lauterbach *

Das ukrainische Parlament hat am Dienstag in erster Lesung über einen Gesetzesentwurf zum künftigen Status des Donbass abgestimmt. Der von Präsident Petro Poroschenko eingebrachte Text erhielt 277 von 450 Stimmen, also eine ausreichende, aber keine überwältigende Mehrheit. Der Entwurf sieht vor, für die Dauer von drei Jahren den derzeit von den Aufständischen kontrollierten Teilen des Donbass einen Sonderstatus zu gewähren. Am 9. Dezember sollen regionale Wahlen stattfinden, und die Aufständischen sollen in eine neue lokale Polizeitruppe überführt werden. Dafür soll das Gebiet allerdings unter ukrainischer Hoheit bleiben.

Das Gesetz war kaum aus dem Drucker, da hagelte es schon Kritik. Die »Vaterlandspartei« der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sprach von einem Schritt zur Aufteilung der Ukraine, Ministerpräsident Arseni Jazenjuk sagte, er werde nie einer Legalisierung der »Terroristen« zustimmen, und der »Rechte Sektor« mobilisierte kurzfristig einige hundert Aktivisten zu einer Demonstration vor dem Parlamentsgebäude in Kiew. Dabei gab es am Dienstag Rangeleien mit der Polizei, bei denen ein Polizist und zwei Demonstranten verletzt wurden. Die Proteste der Rechten wurden am Mittwoch fortgesetzt.

Auch der von Poroschenko eingesetzte Gouverneur des Gebiets Donezk, Sergej Taruta, kritisierte das Autonomiegesetz offen. In Mariupol, wohin er seinen Sitz wegen der Besetzung von Donezk durch die Aufständischen verlegt hat, nannte er das Gesetz unverständlich und unausführbar. So seien die Grenzen der geplanten Autonomieregion nirgendwo definiert. In der Tat schwebt Kiew vor, den Sonderstatus nur dort zu gewähren, wo gegenwärtig die Frontlinie zwischen Regierungstruppen und Aufständischen verläuft. Kiewer Regierungsberater ergehen sich in Phantasien, wie man das unbotmäßige Donbass durch Zäune, Gräben oder Mauern von der Ukraine abtrennen und so zu einem zweiten Palästina machen könnte.

Wenig erstaunlich ist auf dieser Grundlage, daß der Entwurf bei den Vertretern der »Volksrepubliken« Donezk (VRD) und Lugansk (VRL) auf Ablehnung stieß. Es sei ein Gesetz für die Ukraine, aber die VRD und VRL hätten sich von dieser bereits gelöst, war noch die mildeste Reak­tion. Politiker der Volksrepubliken forderten andererseits für die künftige Autonomie mindestens die Grenzen der bisherigen Gebiete Donezk und Lugansk und damit etwa dreimal soviel Fläche, wie die Aufständischen derzeit kontrollieren. Hier scheint ein Kompromiß schwierig, zumal in der Bevölkerung des Donbass nach allem, was die Regierungstruppen in der Region angerichtet haben, der Haß offenbar tief sitzt. Die Regierungstruppen werden im Volksmund als »Ukrwermacht« oder gleich als »Deutsche« bezeichnet, Poroschenko als »Potroschenko« – vom Verb »potroschit«, das das Ausnehmen von Tieren beschreibt. Genau so ein Schlächter sei auch der Präsident, sagte in einem Video des russischen Fernsehens eine ältere Frau aus Lugansk.

Auf der anderen Seite werfen die nationalistischen Hardliner Poroschenko inzwischen relativ offen Verrat und Versöhnlertum vor. Ministerpräsident Jazenjuk will den NATO-Beitritt der Ukraine forcieren, Sicherheitsratschef Andrij Parubij erklärte es für einen grundsätzlichen Fehler, mit Rußland überhaupt Vereinbarungen zu treffen – sie würden sowieso nicht eingehalten. Unter den Kämpfern der Freiwilligenbataillone – rekrutiert aus der faschistischen Basis, die sich auf dem Maidan mit der Polizei geschlagen hatte – gärt es ebenfalls. Etliche Kommandeure haben angekündigt, bei den bevorstehenden Wahlen kandidieren zu wollen. Die »Volksfront« von Jazenjuk versucht, diesen Protest zu kanalisieren, indem sie einigen weniger bekannten Milizenführern Listenplätze angeboten hat. Unter den Parteien, die zu den Wahlen Ende Oktober antreten, steht das Bündnis Poroschenko/Klitschko so faktisch am linken Rand; alle weiteren Kräfte mit Chancen auf Einzug ins Parlament haben sich deutlich rechts davon positioniert. Über den Kommunisten schwebt das Damoklesschwert des Verbotsverfahrens; die »Partei der Regionen« hat auf eine Kandidatur verzichtet.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 18. September 2014

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