Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ukrainische Extremisten stürzen Vizeminister

Rechter Sektor mit Ultimatum erfolgreich / Bundeskanzlerin bestätigt Lettland NATO-Beistandspflicht

Von Klaus Joachim Herrmann *

Mit voller Härte wurde der ukrainische Konflikt am Montag an allen Fronten fortgesetzt. Innenpolitisch zeigten die Rechtsextremisten ihre Macht.

Alle verhafteten Rechtsextremisten seien freigelassen, die geforderte Entlassung des stellvertretenden Innenministers General Wladimir Jewdokimow in die Wege geleitet worden, hieß es am Montag in Kiew bei Rechtem Sektor und Innenministerium. Unter Hinweis darauf sagte der extremistische Rechte Sektor seinen am Wochenende ultimativ angedrohten »Marsch auf Kiew« ab.

Innenminister Arsen Awakow würdigte laut UNIAN ausdrücklich den Anteil der Rechtsextremen an der »Terrorismusbekämpfung« in der Ostukraine. Diese nehmen mit mehreren eigenen freiwilligen Einheiten sowie als Gründungskräfte der Nationalgarde an der Regierungsoperation teil.

Das fast vollständig eingeschlossene Lugansk sei »teilweise befreit«, fasste Andrej Lyssenko, Sprecher des ukrainischen Sicherheitsrates, die militärische Lage zusammen. Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden beim fortgesetzten Beschuss weitere Gebäude zerstört und brachen Brände aus. Einwohner berichteten über Schusswechsel mitten in der Stadt. Lugansk befinde sich seit über zwei Wochen in »äußerst kritischer Lage«. Der russische Hilfskonvoi kam immer noch nicht bis dahin durch. Es fehlten angeblich Sicherheitsgarantien.

Im Informationskrieg wurden Behauptungen Kiews über die Beschießung einer Flüchtlingskolonne im Gebiet Lugansk mit Raketen und Granaten weder belegt noch bestätigt. Der Sicherheitsrat hatte verbreitet, von den Aufständischen seien Frauen und Kinder getötet worden. »Die Ukrainer selbst beschießen diese Straße aus der Luft und mit Mehrfachraketenwerfern«, erklärte im Gegenzug Andrej Purgin, Vizepremier der »Volksrepublik« laut Reuters. »Wir haben keine Möglichkeit, Grad-Raketenwerfer in diese Region zu entsenden.«

Bei einem Blitzbesuch im lettischen Riga versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel, die NATO werde im Osten des Bündnisgebiets »eine sehr viel stärkere Präsenz« zeigen als bislang. Die Beistandspflicht stehe nicht nur auf dem Papier, sondern müsse im Zweifelsfall auch erfüllt werden.

In der Nacht war ein Treffen der Außenminister Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs in Berlin ohne konkrete Ergebnisse zu Ende gegangen. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin sprach von »schwierigsten Gesprächen« ohne Annäherung. Außenminister Frank-Walter Steinmeier verwies auf einzelne Fortschritte.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow beklagte, solange die Führung in Kiew den Konflikt militärisch lösen wolle, hätten solche Gespräche keinen Sinn. Eine hohe Truppenkonzentration nahe der Ukraine räumte er ein: »Wenige Kilometer von dieser Grenze entfernt findet ein Krieg mit Artillerie, Luftwaffe und möglicherweise ballistischen Raketen statt. Da kann man nicht vorsichtig genug sein.«

Im Falle neuer Sanktionen von EU und USA erwägt Russland einem Medienbericht zufolge ein Importverbot für westliche Autos, berichtete die Moskauer Zeitung »Wedomosti«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 19. August 2014


Respekt für »Rechten Sektor«

»Rechter Sektor« setzt sich in Kiew durch. Flüchtlingskonvoi in Ukraine bombardiert **

Bei einem Raketenangriff auf einen Flüchtlingskonvoi im Osten der Ukraine ist am Montag eine unbekannte Zahl von Menschen getötet worden. Die ukrainische Armee und die Aufständischen wiesen sich gegenseitig die Schuld zu. Ein Militärsprecher sagte, die »Separatisten« hätten »Grad«-Raketen und Mörsergranaten auf die Wagenkolonne abgefeuert, in der sich Schutzsuchende aus Lugansk befunden hätten. Die Rebellen dagegen erklärten, »die Ukrainer« hätten die Straße wiederholt bombardiert. Offenbar hätten die Soldaten dabei nun Zivilisten getötet. »Wir haben nicht die Fähigkeit, Grads in diese Region zu schießen«, sagte der stellvertretende Ministerpräsident der international nicht anerkannten »Volksrepublik Donezk«, Andrej Purgin, der Nachrichtenagentur Reuters.

Möglich erscheint, daß nicht die offiziellen Einheiten der ukrainischen Armee, sondern Kämpfer der von Kiew nur unvollständig kontrollierten Milizen für die Schüsse auf die Flüchtenden verantwortlich sind. Die ukrainische Regierung hatte zahlreiche Aktivisten des Maidan rekrutiert und in den Osten des Landes geschickt. Diese sind mit den Machenschaften der neuen Machthaber jedoch zunehmend unzufrieden. Noch am Wochenende stellte der Chef des »Rechten Sektors«, Dmitro Jarosch, dem Kiewer Regime ein Ultimatum von 48 Stunden, sonst werde es eine »bewaffnete Offensive« gegen die Regierung geben. Das wirkte. Am Montag empfing Innenminister Arsen Awakow den Pressesprecher des »Rechten Sektors«, Borislaw Beresa, und äußerte ihm gegenüber »Respekt« für die Tätigkeit der »Bewegung«. Awakows Berater Anton Geraschtschenko würdigte den Beitrag der Neofaschisten im »Kampf gegen den Terrorismus«. Der Minister habe bei dem Treffen aber auch auf die Notwendigkeit verwiesen, daß der »Rechte Sektor« seine bewaffneten Mitglieder dem Verteidigungsministerium, dem Innenministerium oder dem Geheimdienst SBU: unterstellen und legalisieren müsse. Mit anderen Worten: Das ist bisher nicht passiert, obwohl sich die heutigen Machthaber dazu schon im Februar verpflichtet hatten. Zudem entließ Awakow wie vom »Rechten Sektor« gefordert seinen Stellvertreter Wolodimir Jewdokimow.

Die Bundesregierung hat derweil eine Bitte Kiews um Waffenhilfe zurückgewiesen. »Daß angesichts einer wirklich sehr schwierigen militärischen Lage die ukrainische Regierung Wünsche äußert, das kann man ihr schlichtweg nicht übelnehmen«, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Montag in Berlin. Es gebe jedoch keine Überlegungen, militärische Ausrüstung in die Konfliktregion an der Grenze zwischen der Ukraine und Rußland zu liefern. Zugleich bestätigte die Bundesregierung eine Einladung der Ukraine an Bundeskanzlerin Angela Merkel für einen Besuch in Kiew am Samstag. Diese werde derzeit geprüft.

** Aus: junge Welt, Dienstag 19. August 2014

Riga hofft auf »Mutti«

Olaf Standke über Angela Merkels Besuch in Lettland und die NATO ***

Abwägend, ausgeglichen, berechenbar sei sie. Kein Wunder also, dass Angela Merkel für viele Deutsche die »Mutti« sei, so eine lettische Zeitung vor ihrem Besuch in Riga. Sie wisse, dass Schweigen mehr wert sein kann als Reden. Dabei wollten die Gastgeber schon Worte der uneingeschränkten Solidarität hören für die einstige Sowjetrepublik an der Ostgrenze des Nordatlantikpaktes, der 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges bis an Russlands Grenzen vorgerückt ist.

Intellektuelle und Künstler hatten die Kanzlerin aufgefordert, ihre Vorbehalte gegen NATO-Stützpunkte in Osteuropa zu überdenken. Das will sie (noch) nicht. Lettlands Regierung wäre auch mit einer größeren permanenten Präsenz von Pakt-Truppen zufrieden. Mit Dauermanövern, mehr Kampfjets und Kriegsschiffen im Ostseeraum, wie es die NATO-Spitze vorschlägt – und Merkel offensichtlich unterstützt, wie nun aus Riga zu hören ist.

Würde das aber wirklich mehr Sicherheit bringen oder nicht nur die Risiken erhöhen? Ist die Angst im Baltikum und Polen vor einer Moskauer Aggression überhaupt berechtigt? Die große russische Minderheit in Lettland etwa, mehr als ein Viertel der Bevölkerung, zeigt wenig Interesse, sich von der alten Heimat befreien zu lassen. Ob die sechs Kampfjets der Bundeswehr, die ab September die NATO-Luftraumüberwachung im Baltikum verstärken, auch der Anfang eines Merkelschen Sinneswandels sind, wird sich wohl erst beim Gipfel der Allianz in gut zwei Wochen zeigen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 19. August 2014 (Kommentar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Lettland-Seite

Zur Lettland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur NATO-Seite

Zur NATO-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage