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Kontaminierte Erinnerung

Die ukrainische Zivilgesellschaft feiert einen faschistischen "Freiheitskämpfer" und degradiert den Holocaust zur Marginalie. Eine geschichtspolitische Reise nach Lwiw und Kiew

Von Frank Brendle *

Der Rathausplatz von Lwiw im Spätsommer: Eine Gruppe von Fahrradfahrern kämpft für mehr Platz auf der Straße. Auf ihrer Fahne steht »Critical Mass«. So sieht sie also aus, die ukrainische Zivilgesellschaft. Wie in Deutschland. Anders als in Deutschland: Der Anführer ruft »Slawa Ukraini«, die Menge antwortet »Heroiam Slawa«, »Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden«. Es folgt die Parole: »Ruhm der Nation – Tod den Feinden«. Das Ganze wiederholt sich mehrfach, Passanten rufen der Menge die Parolen zu, die freudig antwortet. Neu sind die Schlachtrufe nicht, es sind die Grußformeln der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihres 1942 gegründeten militärischen Arms, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Die kämpfte meist gegen die Sowjetunion, selten gegen Deutsche und brachte Zehntausende Polen und Juden um. Heute ist zumindest der erste Spruch eine gängige Anrede jener Ukrainer, die sich »proeuropäisch« wähnen. Die Geschichtspolitik ist in der Ukraine seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 ein politischer Kampfplatz. In der Offensive sind diejenigen, die die nationalistischen Kräfte der Zwischen- und Kriegszeit als Freiheitskämpfer rehabilitieren wollen. Seit auf dem Maidan Poster der OUN und ihres Anführers Stepan Bandera prominent plaziert wurden, ist deren Verehrung gesellschaftsfähig.

Lwiw, das frühere Lemberg, ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Hochburg des (west- )ukrainischen Nationalismus. Hier fuhr die ultrarechte Partei »Swoboda« zuletzt Wahlergebnisse von über 30 Prozent ein. Die Straßen tragen die Namen nationalistischer Größen oder heißen gleich »Helden der UPA«. Auf den Märkten werden Tassen, T-Shirts und Schals mit den Konterfeis von Bandera und seinen Kameraden feilgeboten. Auch das Gesicht des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist zu sehen: auf Klopapierrollen und Fußabtretern. Der »Boulevard Stepan Bandera« verbindet das überlebensgroße Denkmal des OUN-Führers mit dem »Denkmal für die Opfer kommunistischer Verbrechen«. Dort, in einem ehemaligen Gefängnis, befindet sich auch das »Museum der Opfer der Besatzungsregime«. Einheiten des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) ermordeten hier im Juni 1941 mehrere tausend Häftlinge, ein Anlass zum Gedenken ist zweifellos vorhanden. Doch dass Nazis und ihre einheimischen Kollaborateure Juden in das Gefängnis schleppten, um sie für die Tötungen verantwortlich zu machen, und dabei rund 4.000 Menschen ermordeten, daran erinnert nichts. Hier geht es nur um Ruhm und Opferbereitschaft von Ukrainern.

Im »Museum des nationalen Befreiungskampfes«, das vor zwei Jahren im Beisein von UPAVeteranen eröffnet wurde, bietet sich das gleiche Bild. In chronologischer Reihenfolge werden die gescheiterten Unabhängigkeitskämpfer der Jahre nach 1917 ebenso wie die Milizen der OUN, die UPA und selbst die Waffen-SS-Division »Galizien« präsentiert, allesamt als angebliche Repräsentanten eines kontinuierlichen »Befreiungskampfes«. Diese Logik findet ihre Fortsetzung auf dem militärischen Teil des Lytschakiwski-Friedhofes, wo die Soldaten, die derzeit bei den Kämpfen im Osten ums Leben kommen, bestattet werden – neben UPA-Soldaten und einem Obelisken der Waffen-SS. Auch an Roman Schuchewitsch, einst Kommandeur des Wehrmachtsbataillons »Nachtigall« und später der UPA, erinnert ein Ehrenmal. An den Holocaust erinnert in Lwiw – einer Stadt, in der bis zum Einmarsch der Wehrmacht rund ein Drittel der Bevölkerung Juden waren – nur wenig. Die jüdische Gemeinde hat in Eigenregie ein Mahnmal am früheren Ghetto-Eingang errichtet. Ein »offizielles« gibt es nicht.

Die jüdische Sozial- und Bildungseinrichtung Hesed-Arieh hat vor sechs Jahren eine Unterrichtseinheit über jüdische Kultur und den Holocaust entwickelt. Dazu gehörten auch Filmsequenzen, die zeigen, wie Ukrainer 1941 den Einmarsch der Wehrmacht begrüßten. Politiker von Swoboda protestierten, die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen »antiukrainischer Tätigkeiten«, Hesed-Arieh wurde vor eine Kommission zitiert. »Im Ergebnis hat man uns nicht erlaubt, diese Tätigkeit an den Schulen fortzusetzen«, erklärt Irina Belous, eine Mitarbeiterin der Organisation.

Holocaust als Randerscheinung

Auch Taras Tscholij will die Erinnerung an den Holocaust in Lwiw fördern, wenn auch sehr eigentümlich: Der Filmproduzent hat sich in den Kopf gesetzt, auf den Resten des früheren Ghettos, wo nach 1945 eine Haftanstalt des NKWD stand, ein »Territorium des Terrors« zu installieren. »Maximal interaktiv« soll es sein, inklusive wiederaufgebauter Stacheldrahtzäune, Baracken und Wachtürme. Als wir vor Tscholijs Büro ankommen, ist der Mittdreißiger gerade dabei, einen alten Wehrmachtskarabiner im Kofferraum seines Autos zu verstauen, für eine private Militärübung. Dazu passend trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Karpaten-Schützen«. Der Ableger der OUN kämpfte 1938 für die Unabhängigkeit der Karpato-Ukraine. Tscholij will OUN und UPA ehren, sein Facebook-Auftritt macht mit einem UPA-Plakat auf, doch es geht ihm durchaus auch um eine Erinnerung an den Holocaust. »Da gab es Leute, die wussten, wo die Juden das Gold versteckt hatten, und sie den Deutschen ausgeliefert haben«, sagt er. Und er räumt, immerhin, »Fehler« der UPA ein; einige ihrer Kommandanten hätten polnische Dörfer überfallen. Was er sonst erzählt, ist haarsträubend. Selbstverständlich werde der größte Teil der Gedenkanlage den sowjetischen Opfern gewidmet sein, »weil das zeitlich gesehen am längsten gedauert hat und wahrscheinlich auch am schrecklichsten war«. Der UPA Morde an Juden vorzuwerfen, weist er als »unlogisch« zurück: Schließlich habe die UPA auf die Hilfe der USA gehofft, und »in den USA dominiert das jüdische Kapital«, glaubt er zu wissen. »Also wo«, fragt er, »sollte der Sinn sein, Aktionen gegen Juden zu unternehmen?« Der Stadtrat hat Tscholij zum »Direktor« des Projektes ernannt. Faktisch ist das eher ein Ehrentitel, für den es nicht mehr als ein Taschengeld gibt. Die Baukosten müssen fremdfinanziert werden, im Moment stockt das Vorhaben.

Welche Rolle die Holocaust-Erinnerung in der Ukraine hat, spiegelt kaum ein Ort besser wider als Babi Jar. In dieser Schlucht, ein paar Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt Kiew entfernt, erschossen Nazis und ukrainische Polizisten am 29. und 30. September 1941 33.771 jüdische Einwohner. Die SS hatte genau mitgezählt. In den 1960er Jahren wurde ein Mahnmal für die ermordeten »friedlichen sowjetischen Bürger« errichtet, doch erst nach der Unabhängigkeit konnte die jüdische Gemeinde ein eigenes Denkmal aufstellen. Die Ankündigungen ukrainischer Regierungen unterschiedlicher Couleur, hier ein Holocaust-Museum zu errichten, kamen über zwei symbolische Grundsteinlegungen nie hinaus.

Kein leeres Versprechen blieb dagegen die »Holodomor«-Gedenkstätte, die 2008 auf den Dnjepr- Hügeln errichtet wurde. Gewidmet ist sie den Toten der Hungersnöte in der sowjetischen Ukraine, vor allem den bis zu vier Millionen Opfern von 1932/33. Eine Mitschuld Moskaus ist historisch kaum strittig. In einer höchst suggestiven Ausstellung wird die Hungersnot hier jedoch als absichtsvoller Genozid von Russen und Bolschewisten am ukrainischen Volk dargestellt. Dass auch Menschen russischer, jüdischer und anderer Nationalitäten verhungerten, interessiert nicht – Ziel des Memorials ist es, »nationale Identität« auf der Basis eines rein ukrainischen Leides zu konstruieren.

»Nach der ›orangen Revolution‹ wurde der ›Holodomor‹ zum Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung. Der Holocaust galt als marginale jüdische Angelegenheit«, resümiert Boris Zabarko. Der 79jährige jüdische Historiker hat den Holocaust im Ghetto eines kleinen Schtetls im rumänischen Besatzungsgebiet überlebt. Heute leitet er die Vereinigung der ehemaligen Ghettound KZ-Häftlinge. Das »Institut des nationalen Gedächtnisses«, das während der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko, dem Vorgänger des im Februar gestürzten Wiktor Janukowitsch, gegründet worden war, habe »die Kämpfer der UPA gepriesen, die Führer der OUN, die Kollaborateure« und damit »auch diejenigen, die an antijüdischen Aktionen in der Westukraine beteiligt waren«. Der Bandera-Kult löst bei Zabarko sichtbare Emotionen aus. »Ich weiß viel zu gut, welche Rolle Bandera und seine Leute gespielt haben, dass sie an der Endlösung der Judenfrage beteiligt waren«, sagt er. Über den Holocaust zu reden hieße auch, über die Kollaboration zu reden. »Aber hier bei uns wird das Thema eher verschwiegen.«

Faschisten schöngeredet

Zu den Gewinnern des Maidan gehört Wolodimir Wiatrowitsch. Der Mann ist der wohl wichtigste Weißwäscher der OUN, den es in der Ukraine gibt. Er hat nach der »orangen Revolution« das staatliche »Institut des nationalen Gedächtnisses« geleitet – das einzige Geschichtsprojekt, das überhaupt Staatsgelder erhält. Unter Janukowitsch zum einfachen Angestellten degradiert, ist Wiatrowitsch seit April wieder ganz oben und hat die Kontrolle über einen Großteil der historischen OUN/UPA-Akten. Wiederholt betont er im Gespräch, alles Negative, was über die OUN zu lesen sei, entstamme der sowjetischen Propaganda. Auf die Frage, wie es dann komme, dass etliche westliche Historiker gerade in den vergangenen zehn Jahren ausführlich über den faschistischen Charakter und die Verbrechen der OUN geschrieben hätten, über die Massenmorde an Polen und anderen, hat er eine verblüffend einfache Antwort. »Diese Historiker stehen nach wie vor unter dem Einfluss der sowjetischen Darstellungen«, meint Wiatrowitsch.

Die Bandera-Anhänger seien »die ersten gewesen, die den illegalen Kampf gegen Nazideutschland führten«, beteuert Wiatrowitsch, und im gleichen Atemzug betont er, die Zusammenarbeit mit den Nazis sei nur rein praktischer, nicht aber ideologischer Natur gewesen. Heute seien die Bandera-Nationalisten jedenfalls »ein Vorbild für viele Ukrainer, ein Vorbild des kompromisslosen und aufopferungsvollen Kampfes für einen unabhängigen Staat«. Wiatrowitsch verweist zudem auf eine Folge der angeblichen russischen Propaganda: Weil diese den Maidan undifferenziert als Angelegenheit von »Banderowzy« gegeißelt habe, sei dort die Antwort gewesen: »Ja, wir sind Banderowzy, wir kämpfen auch für die Unabhängigkeit der Ukraine.«

Wiatrowitsch stammt – man möchte fast sagen: natürlich – aus Lwiw. Dort hat der Historiker Jaroslaw Hryzak, Dozent an der Katholischen Universität, nicht viel für ihn übrig: Sein Fachkollege stehe in der Tradition der Exilukrainer, die »die historische Forschung und die Erinnerung kontaminiert hat«. Wiatrowitsch spiele mit Dokumenten, um den Bandera-Mythos zu stärken, sagt Hryzak, der das als »Verrat an seiner professionellen Ausbildung« ansieht. Bandera sei populär, weil die Leute nicht wahrnähmen, dass es zwischen dem aufgehübschten Bild ihres Idols als antirussischem Freiheitskämpfer und den historischen Tatsachen eine erhebliche Differenz gebe: »Bandera war mit Sicherheit antirussisch, aber er war genauso sicher kein Gegner eines autoritären Staatsmodells«, so Hryzak. Den Bandera-Flügel der OUN nennt er fremdenfeindlich und antieuropäisch. Wüsste Bandera, dass er heute für proeuropäische und liberale Werte in Anspruch genommen werde, »er würde sich im Grabe umdrehen«. Vor zehn Jahren hat Hryzak einen OUN-kritischen Artikel veröffentlicht, als »Einladung zur Diskussion«. Die wurde nicht angenommen, rief aber die »Swoboda« auf den Plan: »Mehrere ihrer Anführer bedrohten mich öffentlich und versprachen mir, wenn sie an die Macht kommen, werden sie eine hübsche Gefängniszelle für mich finden«, erzählt der Geschichtsdozent.

Selbst kritische Historiker wollen derzeit keine öffentliche Debatte über OUN und Bandera führen. Georgi Kasianow, Historiker an der Akademie für Wissenschaften in Kiew und in der Vergangenheit scharfzüngiger Kritiker der herrschenden Geschichtspolitik, hält es für das Beste, historische Diskussionen bis auf weiteres zu vermeiden. »Wenn die Westukrainer den Bandera-Kult etablieren und von den Helden der UPA reden wollen, sollen sie das tun, und zwar bei sich. Sie sollen aber nicht nach Donezk gehen und anderen ihre historische Bewertung aufzwingen, und das gleiche sollte für die Ostukraine gelten«, findet Kasianow, der dann noch, wenn auch mit ironischem Unterton, von einer »friedlichen Koexistenz zwischen Bandera und Lenin« spricht. Ähnlich plädiert Hryzak für einen »Pakt des Vergessens«, so wie er in Spanien nach Francos Tod 1975 praktiziert worden sei. »Nach meinem Verständnis ist die Ukraine nicht reif für historische Diskussionen«, sagt er. Es wäre gar »selbstmörderisch« für das Land, »wenn man Debatten über Bandera« lostrete. »Das werden Sie als Deutscher nicht verstehen«, schiebt Hryzak hinterher.

In der Praxis gibt es seinen erinnerungspolitischen Waffenstillstand aber ohnehin nicht. Der amtierende Präsident Petro Poroschenko hat zwar mehrfach, geradezu integrativ, sowohl die Veteranen der Roten Armee als auch die der UPA als Verteidiger der Ukraine bezeichnet; erst dieser Tage erklärte er aber den 14. Oktober, den die Nationalisten als Gründungstag der UPA begehen, zum staatlichen Feiertag. Die Bandera-Anhänger denken überhaupt nicht daran, passiv zu bleiben. Wo sie hinkommen, werden Lenin-Statuen gestürzt, und mit Wiatrowitschs »Institut des nationalen Gedächtnisses« genießen ihre Deutungen Protektion von ganz oben. Jüdische und polnische Einwohner des Landes müssen weiter zusehen, wie ein faschistischer Politiker und seine Killertruppe zu Heroen aufgebaut werden.

Quelle: junge Welt, 25. Oktober 2014; www.jungewelt.de/


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