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Mindestens 200 Tote in Ostukraine

Erneut schwere Kämpfe in mehreren Orten. Kiew setzt wieder Luftwaffe ein

Von Arnold Schölzel *

Die ukrainische Armee setzte am Dienstag ihre »Antiterroristische Operation« ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in der Ostukraine fort. Das Kiewer Verteidigungsministerium und Übergangspräsident Alexander Turtschinow bestätigten außerdem, daß Jagdflieger und Hubschrauber der Luftwaffe am Tag zuvor etwa 150 Geschosse auf die Stadt Lugansk gefeuert haben. Die Attacken hätten zwei Kontrollpunkten der Aufständischen in Außenbezirken der Stadt gegolten. Bis dahin hatte Kiew geleugnet, daß es Luftangriffe auf bewohnte Gebiete gegeben habe. Mindestens eine Rakete hatte das Verwaltungsgebäude der Region im Stadtzentrum getroffen, wobei acht Menschen starben.

Bei den Kämpfen seien bisher 181 Menschen ums Leben gekommen, darunter 59 Soldaten, erklärte Generalstaatsanwalt Oleg Machnizki in Kiew. 293 Menschen seien in den Gebieten Lugansk und Donezk verletzt worden. Die Aufständischen erklärten erneut, Kiew verschleiere die wahre Zahl der Opfer. Sie sprechen von Hunderten Toten und Verletzten.

Sie berichteten außerdem von neuen schweren Luftangriffen der ukrainischen Streitkräfte mit Kampfflugzeugen und Hubschraubern. Das Dorf Semjonowka nahe der Großstadt ­Slowjansk sei am Dienstag unter Beschuß genommen worden, teilte der Sprecher der Aufständischen, ­Wjatscheslaw ­Ponomarjow, mit. Es soll mehrere Tote und Verletzte gegeben haben. Auf ­Slowjansk bewege sich eine ukrainische Panzerkolonne zu. Wegen des seit Tagen andauernden Beschusses durch Regierungseinheiten hätten mittlerweile 40 Prozent der insgesamt etwa 110000 Einwohner die Stadt verlassen. Nach Angaben des Presseoffiziers der sogenannten Antiterroristischen Operation, Wladislaw Selesnjow, wurden zwei Hubschrauber vom Typ Mi 8 in der Nähe von Slowjansk abgeschossen. In Kiew sagte Turtschinow vor dem Parlament, nahe der Stadt ­Sewerodonezk bei Lugansk seien »mehrere« Rebellen getötet worden.

Aus Angst vor den Gefechten in der Ostukraine suchen nach Angaben der russischen Regierung Tausende Menschen Zuflucht in Rußland. Etwa 4000 Menschen hätten sich an die Behörden gewandt, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden oder vorübergehendes Asyl zu beantragen, sagte der Leiter der russischen Einwanderungsbehörde, Konstantin Romodanowski.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. Juni 2014


"Anti-Terror-Krieg" in den Innenstädten

Luftangriffe Kiews in der Ostukraine auf das Dorf Semjonowka bei Slawjansk und Bilder des Grauens in Lugansk

Von Ulrich Heyden, Moskau **


In der Ostukraine gibt es immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung. Kiew wünscht sich vor dem Amtsantritt von Präsident Petro Poroschenko militärische Erfolge.

Das Dorf Semjonowka nahe der Großstadt Slawjansk sei am Dienstag Ziel neuer schwerer Luftangriffe der ukrainischen Streitkräfte gewesen, berichteten prorussische Separatisten in der Ostukraine. Kampfflugzeuge und Hubschrauber hätten es beschossen, teilte »Volksbürgermeister « Wjatscheslaw Ponomarjow der Agentur Interfax mit. Es soll Tote und Verletzte gegeben haben. Die Kämpfer hätten einen Suchoi-Kampfjet vom Typ Su-25 sowie einen Hubschrauber abgeschossen, hieß es.

Bilder des Grauens gab es auch am Vortag in Lugansk. Vor der von Separatisten besetzten Gebietsverwaltung lagen Montagnachmittag Tote und blutverschmierte Schwerverletzte. Ein Geschoss – offenbar abgefeuert von einem ukrainischen Kampfflugzeug – hatte sieben Menschen getötet, in die dritte Etage des Gebäudes ein Loch gerissen und einen Baum buchstäblich abrasiert. Unter den Toten war auch die Gesundheitsministerin der »Volksrepublik Lugansk« (LNR), Natalja Archipowa.

Eine Frau mit schweren Wunden an den Beinen rief – offenbar im Schock – »wo ist mein Telefon?«. Ein Mann, der der Frau helfen wollte, stammelte ununterbrochen: »Mein Püppchen, mein Püppchen. Wir werden Euch rächen.«

Vertreter der »Volksrepublik Lugansk « erklärten, ein ukrainisches Kampfflugzeug habe eine Kassetten- Bombe auf die Gebietsverwaltung abgeschossen. Eine Kassetten-Bombe besteht aus einem Behälter mit mehreren kleinen Bomben. Videos von Augenzeugen in Lugansk zeigten, dass die ukrainischen Kampfflugzeuge Salven abfeuerten. Man sah lange grau-braune Rauch-Spuren.

Weil ukrainische Kampfflugzeuge weiter über der Stadt kreisten, rief die Führung der »Volksrepublik« die Bewohner der Stadt auf, sich in Keller von Schulen, Krankenhäusern und Wohnhäusern zu begeben. Auf der Website wurde eine Liste von Kellern veröffentlicht, die Platz für 50 bis 600 Schutzsuchende bieten.

Das russische Außenministerin sprach von einer »Strafaktion« gegen die Bevölkerung. Eine völlig andere Erklärung für die Explosion vor der Gebietsverwaltung von Lugansk hatte der Leiter der Kiew treuen Innenbehörde in der Stadt. Der Beamte erklärte, die Separatisten hätten eine Flugabwehrrakete nicht sachgemäß eingesetzt. Die Flugabwehrrakete habe ein Ziel gesucht, das Wärme ausstrahlt habe – in diesem Falle die Klimaanlage am Fenster. Allerdings sind an der Außenwand der Gebietsverwaltung keine Klimaanlagen zu sehen und arbeiten mit wesentlich geringeren Temperaturen als Flugzeugtriebwerke, auf die die Peilung tragbarer Flugabwehrraketen ausgerichtet ist.

Wie der Kiewer Militärexperte Dmitri Tymtschuk am Montagnachmittag per Facebook erklärte, beginnen die ukrainischen Sicherheitskräfte in Lugansk eine »umfassende Operation zur Neutralisierung der terroristischen Gruppen in der Stadt.« »Neutralisiert und vernichtet« würden die Kämpfer-Gruppen, die sich bei der Gebietsverwaltung, dem Geheimdienst SBU und dem Standort des Grenzschutzes aufhalten. Eingesetzt würden Luftwaffe und schwere Waffen.

Die Erklärung erweckt den Eindruck, dass die ukrainische Armee in der Ostukraine schon die Lage kontrolliere. Die Auseinandersetzung zwischen den Separatisten und den ukrainischen Truppen wird von Tag zu Tag härter. Die ukrainische Armee versucht offenbar noch vor dem Amtsantritt des ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko, am Sonnabend, die Kontrolle über die Städte Donezk, Slawjansk und Kramatorsk zu übernehmen.

Doch auch die Separatisten ahnen, dass jetzt die Entscheidungsschlacht naht. Bereits einen Tag nach dem Wahlsieg von Poroschenko am 26. Mai besetzten bewaffnete Einheiten der Separatisten den Flughafen von Donezk. Sie wurden allerdings unter großen Opfern – nach russischen Medienberichten bis zu 50 Tote – zurückgeschlagen. Durch Geschoss- Einschläge im Umkreis des Flughafens starben auch zwei Zivilisten.

Auch in der Stadt Slawjansk – hier wohnen 100 000 Menschen – wird die Beschießung mit Granaten von Tag zu Tag stärker, berichtet Iwan Zelenski, Programmierer und Bewohner von Slawjansk gegenüber dieser Zeitung. Die Artillerie-Geschosse haben nicht nur kleine Häuser am Stadtrand sondern auch schon mehrere Schulen, Kindergärten und eine Kinderklinik in der Stadt beschädigt, berichteten russische Medien. Außerdem gebe es bereits mehrere tote Zivilisten.

Immer wieder müssen die Bewohner wegen des Artillerie-Beschusses in die Keller von Wohnhäusern fliehen. Dort gibt es allerdings weder fließend Wasser noch Toiletten. Viele Familien mit Kindern versuchen die Stadt zu verlassen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Juni 2014


Scheinheilig

Klaus Joachim Herrmann über das Nein zum Ende der Gewalt in der Ukraine ***

Die Forderung Russlands nach einem unverzüglichen Ende der Gewalt in der Ukraine nennen die USA »scheinheilig«. Moskau unternehme ja nichts, um die Separatisten an Angriffen zu hindern. Eine scheinheilige Zurückweisung. Denn ebenso unternehmen die USA nichts, um ihre Schützlinge in Kiew am Krieg gegen das eigene Volk im Osten des Landes zu hindern. Ganz einfach ihres Lebens wegen sollten Zivilisten zu allen Zeiten über sichere Korridore vom Schlachtfeld gelassen oder wenigstens versorgt werden. Gute Absichten können dann ja alle Fronten und ihre heimlichen und offenen Unterstützer mit der Durchsetzung eines Waffenstillstandes beweisen.

Aber das passt offenbar nicht in den Kram und Trend. Denn längst wird aufgerüstet. NATO und USA rücken in Osteuropa ein oder vor, Russland holte sich die Krim mit ihren Stützpunkten zurück, in Kiew gab es blutigen Streit um die Himmelsrichtung, in der Ostukraine wird noch gekämpft. Es lässt sich gut und lange Krieg führen auf Kosten anderer Länder und Leute.

Supermächte müssen sicher etwas leisten fürs geostrategische Gleich- oder besser Übergewicht. Wo aber offen nach Aufrüstung gerufen wird, ist es zum Wettrüsten und einem zweiten Kalten Krieg nicht mehr ganz so weit. Wenn eine Seite vielleicht gerade noch rechtzeitig einlenken will, sollte keine scheinheilige Ausrede gesucht, sondern sofort zugegriffen werden.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Juni 2014 (Kommentar)


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