Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Siege sehen anders aus

Zwischenbilanz des Aufstands im Donbass. Kiews Truppen bekommen den Osten der Ukraine nicht unter Kontrolle

Von Reinhard Lauterbach *

Mehrere Wochen nach dem Beginn der Kiewer »Antiterroroperation« im Südosten der Ukraine ist klar: Das ist nicht der Spaziergang geworden, den sich die Organisatoren anfangs vielleicht ausgemalt haben. Inzwischen gefallen sich die Anführer der Operation umgekehrt darin, das militärische Niveau der Aufständischen eher zu übertreiben. So jener Kommandeur der Nationalgarde, der erklärte, man marschiere deshalb nicht in Slowjansk ein, weil dort auf jedem Hochhaus ein Scharfschütze mit hochmodernen Waffen sitze. Dazugedacht immer: und alles aus Rußland geliefert – die Waffen zumindest, womöglich auch die Schützen.

Es stimmt: Die militärischen Einheiten der Aufständischen stellen inzwischen einiges auf die Beine. Bilder von dem Hinterhalt, den sie in der Nacht zum Mittwoch bei Kramatorsk einer Einheit der Nationalgarde gelegt haben, zeigen ausgebrannte Schützenpanzerwagen. Schon zuvor waren einige Hubschrauber der Regierungstruppen von Aufständischen abgeschossen worden. Die Klagen der Kiewer Machthaber, dies sei nur mit Hilfe hochmoderner mobiler Abschußgeräte möglich, die nur von ausgebildeten Soldaten bedient werden könnten, übergehen allerdings die Erfahrung des Afghanistan-Krieges. Damals hatten die USA die sowjetische Luftherrschaft unter anderem dadurch gebrochen, daß sie den Mudschahedin die sogenannten Stinger-Raketen geliefert hatten, wärmesuchende Projektile, die jeder paschtunische Analphabet abzufeuern in der Lage war. Der nach russischen Analysen sehr mangelhafte Ausbildungsstand der ukrainischen Piloten trug das Seine zu diesen Verlusten bei.

Die Aufständischen im Donbass sind durchaus keine militärischen Analphabeten. Westliche Reporter, die in den letzten Wochen Kontakt mit ihnen hatten, beschreiben sie als disziplinierte Truppe örtlich rekrutierter Freiwilliger. Die Kämpfer hätten ihr militärisches Handwerk teils noch in Afghanistan gelernt, teils in kürzer zurückliegenden Jahren des Dienstes als Zeitsoldaten in der russischen oder auch der ukrainischen Armee. Ihre Waffen allerdings stammten überwiegend aus den 1980er und 1990er Jahren. Nur wenige moderne Systeme seien vorhanden, und die seien nach Auskunft der Kämpfer korrupten ukrainischen Offizieren abgekauft worden – ein Phänomen, das auch schon in den 1990er Jahren die erstaunliche Feuerkraft der tschetschenischen Rebellen gegenüber der russischen Armee erklärte. Indizien für jene russischen Spezialkräfte, die die Kiewer Machthaber als das Rückgrat der Aufständischen ausmachen, konnten diese meist US-amerikanischen Berichterstatter nicht erkennen. Selbst der ukrainische »Übergangspräsident« Oleksander Turtschynow mußte unlängst einräumen, die Aufständischen würden von einem erheblichen Teil der Bevölkerung unterstützt. Neuere Analysen sprechen von etwa einem Drittel; sollten diese Zahlen zutreffen, würde dies bedeuten, daß die Kiewer »Antiterroroperation« die Region nicht nur nicht befriedet, sondern sogar umgekehrt den Aufständischen zusätzliche Unterstützung verschafft hätte.

Der Großteil der Bewohner des Donbass gilt allerdings als politisch passiv und bereit, sich mit jedem Machthaber zu arrangieren; kiew-treue Aktivisten scheint es im Wesentlichen in der jüngeren Generation zu geben, die nach der Unabhängigkeit im ukrainisch-nationalistischen Schulwesen sozialisiert worden ist.

* Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014


Und willst du nicht mein Bruder sein

Das Donbass notfalls abstoßen: Ukrainische Nationalisten denken in der Frage der Einheit des Landes um

Von Reinhard Lauterbach **


Der Aufstand im Donbass hält sich ausdauernder, als viele in Kiew erwartet hatten. In dieser Situation macht sich unter den in Kiew dominanten prowestlichen Nationalisten Frustration breit. Nicht nur, daß Uniformierte in den Kiewer Fernsehkanälen ständig beklagen, ihnen seien wegen der – offenbar beim Kiew-Besuch von CIA-Chef John O. Brennen im April unmittelbar vor dem Beginn des Militäreinsatzes abgesprochenen – Maxime, die Zivilbevölkerung möglichst zu verschonen, »Hände und Füße gebunden«. Was jahrelang ein feuilletonistisches Gedankenspiel von westukrainischen Autoren wie Jurij Andruchowytsch oder Mykola Rjab­tschuk war: daß die Ukraine viel europäischer wäre, wenn sie nur aus Galizien bestünde und sich von den sowjetisch geprägten Regionen im Osten lossagte, gelangt plötzlich auf die vorderen Seiten der Maidan-nahen Presse. Bezeichnend war ein Text, den am vergangenen Wochenende der Kiewer Politologe Maksim Stricha in dem Onlineportal Ukrainskaja Pravda veröffentlichte. Der Mann arbeitet in einem »unabhängigen« »Institut für Offene Politik«, das offenbar von George Soros finanziert wird; im vergangenen Jahrzehnt war er eine Zeitlang stellvertretender Erziehungsminister und steht offenbar der »Vaterlandspartei« von Julia Timoschenko nahe.

Strichas bezeichnenderweise nur auf der ukrainischsprachigen Fassung der Seite zu findender Beitrag trug den Titel: »Die Ukraine und ihre Vendée – wie weiter?« Schon dieser Titel ließ aufmerken. Denn die Bezeichnung »Vendée« steht im historischen Kontext für den Aufstand royalistischer und katholischer Bauern gegen die Französische Revolution von 1793 bis 1796, den diese mit für die damalige Zeit beispielloser Gewalt niederschlug. Für ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Bevölkerung des Donbass spricht sich auch Stricha aus: »Es ist heute unmöglich geworden, in der Region mit relativ geringen Opfern Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Wenn die Ukraine siegen will, muß sie lernen, entschieden zu kämpfen.« Die auf den Bildern aus dem Donbass oft zu sehenden älteren Menschen aus der Region werden bei Stricha zu »friedlichen Omas« in Anführungszeichen und mutieren zu einer Spielart »feindlicher Kämpfer«.

Als Alternative zu einem entschiedeneren Vorgehen gegen das Donbass einschließlich seiner Bevölkerung entwickelt Stricha das Konzept, das Donbass in Gottes Namen los- und es dann vor die Hunde gehen zu lassen. Das koste die Ukraine 15 Prozent ihres Gebiets und große natürliche Ressourcen, außerdem müßten wahrscheinlich mehrere zehntausend Flüchtlinge von dort untergebracht werden. Es gebe aber für die Ukraine keinen Grund, auf die Steuereinnahmen aus der im Zuge eines anhaltenden Bürgerkriegs zusammenbrechenden Wirtschaft des Donbass verzichten und gleichzeitig weiterhin den »friedlichen Omas« die Renten zahlen zu müssen, die die Aufständischen mit ihren Körpern deckten. Das möge dann eben jenes Rußland tun, das die »Separatisten« unterstütze.

Strichas Überlegungen könnten im übrigen durchaus in eine neoliberale Agenda zur »Reform« der Ukraine passen. Denn die Steinkohle, der wichtigste Rohstoff, der im Donbass vorhanden ist, ist zwar von guter Qualität, muß aber aus großen Tiefen von weit über 1000 Metern gefördert werden. Das macht diese Kohle teurer als die auf dem Weltmarkt angebotene aus südafrikanischen, kolumbianischen oder australischen Tagebauen. Die Oligarchen wie Rinat Achmetow, die die staatlichen Gruben in den neunziger Jahren übernahmen, kompensierten die relativ hohen Förderkosten dadurch, daß sie auf Verschleiß fuhren und die Sicherheit systematisch vernachlässigten. Die ukrainischen Bergwerke gehören heute trotz dauerhafter Subventionierung aus dem Staatshaushalt zu den unfallträchtigsten der Welt. Ein Auslaufen dieser Förderung wäre durchaus im Interesse der »Haushaltskonsolidierung« in der Ukraine und ließe sich sogar noch als Beitrag zum Klimaschutz verkaufen.

Im Gegenzug entwickelt der Autor aber auch Vorteile, die sich aus einer Trennung vom Donbass für die West- bzw. Restukraine ergäben: als wichtigsten nennt er, daß das Land jenen Pfahl im Fleische, den die sowjetisch sozialisierte Bevölkerung des Donbass darstelle, verliere und sich ohne ihn schneller als ukrainischer Nationalstaat konsolidieren könne. Damit spricht der Mann einen wirklichen Widerspruch an: mit ihrem Beharren auf einer Ukraine in den Grenzen der früheren Sowjetrepublik haben sich die Nationalisten tatsächlich in eine strategische Sackgasse manövriert. Was Stalin 1939 ad hoc zusammengefügt hat, als sich durch den deutschen Angriff auf Polen die Gelegenheit ergab, die Niederlage im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919–21 zu revidieren, paßt heute genausowenig zusammen wie seinerzeit: die Bevölkerungen des Ostens und des Westens haben weiterhin stark divergierende Mentalitäten und Geschichtsbilder. Schon während der deutschen Besatzung versuchten die ukrainischen Faschisten von der OUN, sich auch im Donbass zu etablieren – aber ohne jeden Erfolg. Angesichts der stagnierenden »Antiterroroperation« gewinnt die Adenauersche Maxime »Lieber das Halbe ganz als das Ganze halb« in Kiew offenbar an Aktualität – Wiedervereinigungsrhetorik wie damals unbenommen.

** Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014


Oligarchische Charmeoffensive ***

Der von den Kiewer Machthabern in Donezk als Gouverneur eingesetzte Oligarch Sergej Taruta will an diesem Wochenende die Barrikaden in Mariupol von der Bevölkerung abbauen lassen. Alle »Spuren des Geschehenen« – des Angriffs der Nationalgarde mit bis zu 40 Toten am 9. Mai – sollten beseitigt werden. Taruta sagte nach dem ersten »Nationalen Runden Tisch« in Kiew, es hätten sich schon 1000 Freiwillige für diese Aufgabe gemeldet. Bedingung sei allerdings, daß Armee und Nationalgarde sich aus der Stadt und ihrer Umgebung zurückzögen.

Taruta, ein enger Vertrauter von Rinat Achmetow, will sich bei seinem Vorschlag offenbar auf den Ordnungsdienst stützen, dessen Aufstellung dieser vor einigen Tagen angekündigt hatte. Dazu sollten Beschäftigte seiner Metallkombinate herangezogen werden. Auch Oligarch Achmetow selbst positionierte sich deutlicher auf Seite der Kiewer Machthaber. In einer Botschaft, die er dem »Runden Tisch« zukommen ließ und gleichzeitig veröffentlichte, warnte er vor den Konsequenzen einer Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk für die regionale Wirtschaft. Sie käme dann unter den Druck westlicher Sanktionen und werde ihre Produkte nicht mehr absetzen können. In einer vereinten Ukraine werde das Donbass »glücklich« sein, sofern die Verfassung des Landes in Richtung Bundesstaat verändert werde. Achmetow dachte dabei offenkundig an seine eigenen Geschäfte mit den EU-Ländern.

Beide Oligarchen erklärten, die Mehrheit der Bevölkerung des Donbass sei nicht gegen den ukrainischen Staat, sondern nur gegen die gegenwärtigen Machthaber. Taruta deutete an, daß von der Zentralregierung ungelöste soziale Probleme für die Unterstützung der Aufständischen durch Teile der Bevölkerung mitverantwortlich seien. (rl)

*** Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage