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Gassenlauf zum Parlament in Kiew

Präsident Poroschenko führt "Gegenangriff" in der Ostukraine und verweigert bis zur Rückeroberung der Grenzregion einen Waffenstillstand

Von Klaus Joachim Herrmann *

Keine Entspannung in der ukrainischen Krise. Der Maidan fordert Neuwahlen, eine Pipeline geht hoch und der Krieg im Osten weiter.

Zur höchsten ukrainischen Volksvertretung kamen Abgeordnete und Gäste am Dienstag nach Art des Gassenlaufs. Ein Spalier von »Selbstverteidigungs-« und sonstigen Kräften des Maidan zwang auf einen »Weg der Schande«. Tritt für Tritt führte der über die Porträts von Volksvertretern aus den Parteien der Regionen und der Kommunisten zum Parlamentseingang. Nicht nur eine »Lustration« soll die von der Macht vertriebenen Abgeordneten endgültig hinaussäubern, wie rund 1500 Demonstranten forderten. Der Ruf nach vorgezogenen Parlamentswahlen wird lauter.

Die Partei Udar beantragte die Selbstauflösung der Rada. Ein solches Vorgehen ist allerdings in der Verfassung nicht vorgesehen. Zudem gibt es offenbar größere Differenzen über das künftige Wahlrecht. Darüber wird weiter zu debattieren sein – wie über die Einführung des Ausnahme- oder Kriegszustands im Osten des Landes. Eine Explosion der Gasleitung Urengoi-Ushgorod im zentralukrainischen Poltawa meldete UNIAN. Die Ursache blieb bis zum Abend ungeklärt, beunruhigte entscheidenden Gremien aber sicher zusätzlich.

Im Donbass läuft der vom Präsidenten verkündete »Gegenangriff«. Nach offiziellen Verlautbarungen war gegen Mittag der Bezirk Swerdlow im Gebiet Lugansk »von Terroristen gesäubert«. In den Grenzregionen wurde gekämpft, »um die Sicherung der Staatsgrenze wieder herzustellen und Terroristen zu vernichten«, berichtete Espresso-TV aus dem Hauptquartier der Grenztruppen. Die »Vernichtung von 80 Terroristen in den östlichen Gebieten der Ukraine« vermeldete der Sicherheitsrat am Nachmittag als Bilanz der letzten 24 Stunden.

Die Nachrichten passten in die Linie, die Präsident Petro Poroschenko nach einer Sitzung des Sicherheits- und Verteidigungsrates am Vorabend vorgegeben hatte. Erst sei die Grenzregion zurückzuerobern, bevor es zu Waffenstillstand und Verhandlungen kommen könne. Dafür wird inzwischen mit fünf bis sieben Tagen etwa eine weitere Woche veranschlagt. Die mehrfach angekündigte Waffenruhe und die Umsetzung eines Friedensplans bleiben damit weiter aus.

Der Erste Vizepremier Vitali Jarema fasste das weitere Vorgehen gegen die prorussischen Milizen in die Losung: »Nach Russland oder Tod«. Kämpfer, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hätten, dürften die Ukraine durch Korridore Richtung Russland verlassen. Wenn nicht, würden sie »vernichtet«, erklärte Jarema laut Internetzeitung Gazeta. Ein erster Schritt des Friedensplans soll nun die Ernennung der Vertreterin der Vitali-Klitschko-Partei Udar und gelernten Journalistin Irina Geraschtschenko zur Sonderbeauftragten für die Krisenregionen sein. Allein mit einer Gesandten Kiews wollen die Vertreter der abtrünnigen Region aber auch nicht sprechen.

Angesichts der ukrainischen Offensive werden wohl wieder mehr russische Truppen in Grenznähe in Stellung gebracht. Unter Berufung auf eine »Quelle« räumte dies die russische Agentur RIA/Nowosti ein. Nach deren Angaben soll es sich um mehrere Luftlandebataillone und mehrere motorisierte Schützenbrigaden handeln. Um Grenzverletzungen vorzubeugen, könne das Truppenkontingent zusätzlich verstärkt werden.

Die Lage im Osten der Ukraine hat sich nach Einschätzung der Vereinten Nationen verschlechtert, sei aber noch nicht als humanitäre Krise zu bewerten. Allerdings könne es dazu kommen, sollte keine politische Lösung für den Konflikt gefunden werden, warnte die UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos nach Angaben westlicher Diplomaten am Montag bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York. Der russische UN-Botschafter Vitali Tschurkin, der im Juni den Vorsitz des Gremiums innehat, sagte vor Journalisten, die Situation in der Ostukraine verschlimmere sich »ständig«. Als kritisch gilt vor allem die Unterbrechung der Wasserversorgung.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Juni 2014


Rebellen in der Defensive

Ukrainische Truppen greifen im Donbass an. Raketenbeschuß auf Wohnviertel angekündigt. Tausende Bewohner auf der Flucht

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ostukraine sind die Aufständischen erkennbar in der Defensive. Nachdem die Kiewer Seite schon vor Tagen mitgeteilt hatte, daß sie einen Großteil des Grenzstreifens zwischen den Bezirken Donezk bzw. Lugansk und Rußland zurückerobert habe, bestätigte am Dienstag ein Sprecher der »Volksrepublik Donezk« den wesentlichen Inhalt dieser Darstellung. Die Streitkräfte der Aufständischen seien bemüht, wenigstens einige Übergänge freizuhalten. Kiew wirft Moskau vor, über diese Übergänge Mate­rial und Kämpfer in die Aufstandsregion einzuschleusen.

In den Städten des Donbass mehren sich unterdessen die Zerstörungen an der zivilen Infrastruktur. Immer wieder werden Wohnviertel beschossen. Die Wasserversorgung von Donezk, Kramatorsk und einigen kleineren Orten ist durch Luft- und Artillerieangriffe unterbrochen. In Donezk gibt es nach russischen Agenturberichten nur noch stundenweise Strom. Die Rebellen posteten Bilder von Volltreffern auf Sanitätsstationen und Kirchen.

Angesichts der nicht mehr zu übersehenden Zerstörungen hat die Kiewer Propaganda ihre Stoßrichtung geändert. Sie macht jetzt die Aufständischen für solche Vorfälle verantwortlich. Dabei geraten gelegentlich die Versionen durcheinander. So behaupteten die Kiewer Behörden letzte Woche, der Raketenbeschuß eines Gemüsegroßhandels, bei dem ein Mensch ums Leben kam, sei von Aufständischen verübt worden. Erst hieß es, die Rebellen hätten das Ziel verwechselt, dann kam der Vorwurf, sie hätten bei dem Beschuß Uniformen der ukrainischen Nationalgarde getragen. Unklar blieb, warum die Täter nicht wirklich Nationalgardisten gewesen sein könnten.

Am Dienstag vormittag kündigte der Sprecher des Sicherheitsrats an, die Aufständischen wollten die Stadt Lugansk aus Raketenwerfern beschießen, um zu provozieren. Wenig später begann dann tatsächlich ein Angriff auf die Vororte der Stadt, bei dem ein russischer Fernsehreporter getötet wurde. Am Nachmittag kam es an einer Pipeline, die Gas aus Rußland durch die Ukraine transportiert, zu einer schweren Explosion. Kiews Innenminister Arsen Awakow erklärte, es gebe Hinweise auf einen terroristischen Anschlag.

Glimpflich endete derweil die mehrtägige Gefangenschaft eines anderen russischen Fernsehteams in der Ukraine. Der Reporter und sein Kameramann waren an einer Straßensperre von Kämpfern des »Rechten Sektors« festgenommen und mehrere Tage lang unter Mißhandlungen verhört und mit Erschießung bedroht worden. Für die Freilassung der Journalisten verlangten die Faschisten offenbar ein Lösegeld von 200000 Dollar. Am Montag erreichten die Journalisten Moskau; ob die Summe gezahlt wurde, ist nicht bekannt.

Die fortdauernden Kämpfe haben unterdessen viele Bewohner des Donbass zur Flucht aus ihren Wohnorten veranlaßt. Von Kiewer Seite wurde die Zahl derer, die vor dem »Terror der Separatisten« in andere Teilen des Donbass geflohen seien, auf 13000 beziffert. Etwa ebenso viele Menschen haben nach russischen Angaben jenseits der Grenze Zuflucht gesucht. Vor allem in den grenznahen Gebieten seien inzwischen zahlreiche Ferienlager, Sanatorien und Internate mit Flüchtlingen belegt, überwiegend Frauen und Kinder. Unter den Flüchtlingen sind aber auch Männer, die russischen Journalisten erklärten, sie hätten keine Lust, sich für eine der beiden Seiten erschießen zu lassen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Juni 2014


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