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"Friedensaktion" im Zentrum des Donbass

Aktivisten der "Donezker Volksrepublik" wollen die Präsidentschaftswahlen am Sonntag blockieren

Von Ulrich Heyden, Donezk *

Oligarch Rinat Achmetow schlägt sich auf die Seite der Kiewer Machthaber. Die »Volksrepublik Donezk« droht ihn zu enteignen.

Hoch her ging es am Mittwoch auf dem Artjomow-Boulevard in der Millionenstadt Donezk. Einige Autofahrer hatten sich laut hupend der Aktion »für einen friedlichen Donbass gegen bewaffnete Gruppen« angeschlossen. Auf der Straße lagen ein paar Pflastersteine. Offenbar hatte sie jemand auf die Autos geworfen.

Die Aktion hatte Oligarch Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine, ins Leben gerufen. Mit »bewaffneten Gruppen« meint der mächtige Unternehmer nicht die von Rechtsextremisten durchsetzte Nationalgarde und die gefürchteten Sondereinheiten, wie »Dnjepr-1«, die vom Oligarchen Igor Kolomoiski bezahlt werden, sondern die bewaffneten Männer der »Donezker Volksrepublik.«

In einer emotionalen Videobotschaft kündigte Achmetow am Dienstag an, solange die Leute der »Donezk-Republik« mit Gewehren durch die Städte laufen und die Bürger verängstigen, werde man täglich um 12 Uhr die Betriebssirenen heulen und Autos hupen lassen. Auffällig war, dass in Donezk vor allem Autos der gehobenen Mittelklasse hupten.

Etwa fünfzig ältere Frauen und ein paar junge Leute hatten sich versammelt, um gegen die Aktion zu demonstrieren. Man sah auch zwei junge Männer mit Baseballschlägern und medizinischem Mundschutz. »Die sind bestimmt von irgendjemandem bezahlt«, glaubt Irina, eine Ingenieurin. Mit bezahlten Schlägertypen versuchten die OIigarchen und Kiew, ihre Gegner zu diskreditieren, erklärt sie mir im Gespräch auf der anderen Straßenseite.

Ein junger Mann in kurzen Hosen sammelt die auf dem Boulevard liegenden Steine wieder ein, er ist offenbar für friedlichen Gegenprotest und will eine Diskreditierung der »Donezker Republik« nicht zulassen. Weitere Steine fliegen zumindest nicht. Die Grenze zwischen Provokation und aufrichtigem Protest ist in der zugespitzten Situation nicht immer klar zu erkennen.

Einige der älteren Frauen rufen aus Leibeskräften Parolen gegen die »Junta in Kiew«. »Die sind einfach verzweifelt«, sagt Irina. »Sie bekommen 1200 Grivna Rente (80 Euro) im Monat und trauern der Sowjetunion hinterher«. Die vergangenen 20 Jahre hätten sie in Armut gelebt. Zu Zeiten der UdSSR, sagt Irina, sei – was das Soziale betrifft – wirklich Vieles besser gewesen.

Auch sie werde am Sonntag nicht zur Präsidentschaftswahl gehen, bekennt die 55-Jährige. Die aussichtsreichsten Kandidaten, Pjotr Poroschenko und Julia Timoschenko, hätten schon Regierungsposten gehabt, für das Volk aber nichts erreicht.

Am Dienstag und Mittwoch versammelten sich auf Anweisung Achmetows Belegschaften seiner Betriebe in Mariupol und Donezk vor den Werkstoren. Eine für Dienstag geplante Großkundgebung in Mariupol hatte der Oligarch jedoch wieder absagen lassen. Es habe Anschlagsdrohungen gegeben, behauptete er.

Achmetow liegt mit den Aktivisten der »Volksrepublik« quer. Angeblich hätten deren Anhänger Gleise blockiert. Wenn aber die Züge mit Rohmaterialien nicht mehr rollen, führe das zum »Genozid« der Region, drohte der Großunternehmer in seiner Videobotschaft.

Beeindruckend war die Zahl der Teilnehmer an seiner Aktion jedoch nicht. Doch auch dafür hat der Oligarch eine Erklärung: Die Bürger des Donbass würden von den bewaffneten Separatisten eingeschüchtert.

Die aber treten als Beschützer der Bevölkerung auf: Man führe einen Kampf gegen eine von Faschisten durchsetzte Nationalgarde und eine Regierung, die sich nicht scheue, Panzer in Wohngebieten einzusetzen, sagten die Männer der »Donezker Volksrepublik«.

»Mit Maschinengewehren kann man keine Menschen ernähren«, hält der Oligarch dagegen. Die »Volksrepublik« bringe den Menschen nur »Hunger und Kälte«. In seinen Betrieben fänden dagegen 300 000 Menschen Arbeit.

Für Denis Puschilin, den Vorsitzenden eben dieser »Volksrepublik«, ist die Sache klar: Wer wie Achmetow in Kiew Steuern bezahle, »finanziert den Terror gegen die Bevölkerung« in der Ostukraine. Eine Nationalisierung von Großbetrieben sei daher unausweichlich.

Das von der Werchowna Rada in Kiew am Dienstag verabschiedete »Memorandum für Frieden und Eintracht« sei reiner Populismus, sagt Puschilin. Denn zur gleichen Zeit würden Bürger in der Ostukraine von ukrainischen Truppen angegriffen. Bilder von zerstörten Wohnhäusern, die der »Anti-Terror-Operation« zum Opfer gefallen sind, werden allerdings nur im russischen Fernsehen gezeigt, im ukrainischen seien sie nicht zu sehen, erklären Aktivisten und Passanten in Donezk.

Mit Kiew könne man nur über zwei Themen verhandeln: über den Abzug der ukrainischen Truppen aus dem Osten und über den Austausch von Geiseln. Verhandlungen über die Wahlen seien ausgeschlossen »Präsidentschaftswahlen am 25. Mai wird es in der Donezker Volksrepublik nicht geben«, verkündet Puschilin. Wer in der besetzten Gebietsverwaltung bei Aktivisten nachfragt, was das zu bedeuten habe, dem wird unumwunden mitgeteilt, dass man Wahllokale blockieren werde. Die Ukraine sei jetzt ein anderer Staat. In der »Donezker Volksrepublik« habe das Volk seinen Willen bereits beim Referendum am 11. Mai zum Ausdruck gebracht.

Es gibt in Donezk jedoch noch ein anderes Lager. Wohl um die 20 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Regierung in Kiew, halten sich aber mit öffentlichen Meinungsäußerungen zurück. Da ist zum Beispiel Marina. Die schlanke 34-Jährige mit den langen schwarzen Haaren, der rosa Bluse und den knallengen Jeans sagt unumwunden: »Ich hoffe dass die DNR (Donezker Volksrepublik) nicht siegt.« Sie verstehe nicht, »was das für Leute sind und woher sie kommen«.

Und Odessa? Hinter dem Brand im dortigen Gewerkschaftshaus stecke Russland, glaubt Marina. Beweise dafür hat sie nicht. Ob es nicht sein könne, dass ein Oligarch die Brandstifter bezahlt habe? Marina überlegt einen Augenblick. »Ich gucke vor allem ukrainisches Fernsehen«, gesteht sie ausweichend. Doch dass hinter dem Brand ein Oligarch stecke, könne man nicht ausschließen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. Mai 2014


Der Oligarch wird zum Streikführer

Von Klaus-Joachim Herrmann **

Nach längerer Schaukelpolitik hat sich Rinat Achmetow ausgerechnet mit dem Aufruf zu Warnstreiks klar festgelegt – auf seine ureigensten Interessen. Der etwa elf Milliarden Euro schwere ukrainische Oligarch forderte zum Widerstand gegen die Separatisten und zugleich zum Frieden im Donbass auf.

Im Februar ließ der langjährige Abgeordnete des ukrainischen Parlaments in Kiew seinen Präsidenten Viktor Janukowitsch und damit den Chef der von ihm selbst finanzierten Partei der Regionen fallen. Danach war er weder so recht für noch gegen die neuen Kiewer Machthaber. Für eine einheitliche Ukraine und starke Regionen trat er aber wiederholt öffentlich ein.

In der leidenschaftlichen Videobotschaft an seine Ostukrainer – »Ich wurde hier geboren. Ich lebe hier.« – tat die rote Krawatte wirklich gar nichts zur Sache. Sehr wohl aber die Empörung des Unternehmers über eine Blockade der Eisenbahn. Damit sterbe die Industrie, klagte der 47-Jährige. Ihm sind besonders im Donez-Becken dank der Holding System Capital Management (SCM) viele seiner mehr als 100 Unternehmen und deren Beschäftigte dienstbar und bringen Profit. Allein in Mariupol, wo seine Arbeiter schon Barrikaden abräumten, gebietet der Unternehmer über zwei Stahlwerke mit insgesamt 50 000 Beschäftigten. Woher der Grundstock des gewaltigen Vermögens des tatarischen Bergarbeitersohnes stammt, weiß man freilich nicht. Dass es irgendwie mit seiner früheren Tätigkeit als Sicherheitschef des 1995 bei einem Bombenattentat ums Leben gekommenen Geschäftsmannes Achat Bragin zu tun haben könnte, ließe sich vermuten.

Der Mehrung des Reichtums von Achmetow dient Frieden besser als jede Art von Krise. Produktion am Rande der Ukraine für Russland ist allemal besser als nur am Rande in Russland. Sogar Oligarch ist man besser unter wenigen bei einer schwachen Zentrale in Kiew als unter vielen bei einer starken Zentrale in Moskau – das zeigte schon der Fall des Oligarchen-Kollegen Michail Chodorkowski.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. Mai 2014


Aus Sorge um den Frieden

Prominente verlangen von Politik und Medien, zur Deeskalation beizutragen ***

Aus Sorge um den Frieden in der und um die Ukraine haben sich bekannte Persönlichkeiten mit einer Erklärung an Bundesregierung, Parlament und Öffentlichkeit gewandt. »Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen ›dem Westen‹ und Russland eskaliert!«, heißt es darin.

Zu den Erstunterzeichnern der Erklärung gehören die Schriftsteller Daniela Dahn, Ingo Schulze und Irina Liebmann, Liedermacher Konstantin Wecker, die Schauspieler Jutta Wachowiak und Rolf Becker, die Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn und Norman Paech, die Theologen Friedrich Schorlemmer und Hans Christoph Stoodt.

Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs befinde sich die Welt in einer gefährlichen Lage, wird in der Erklärung festgestellt. Dem unverantwortlichen Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären müsse Einhalt geboten werden. Wirtschaftssanktionen und andere »Strafmaßnahmen« gegen Russland seien aber ein »untaugliches Mittel zur Deeskalation«. Das Vorgehen in der Ukraine-Krise widerspreche der 1997 von der NATO und Russland unterzeichneten Pariser Grundakte über Gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit. Darin hatten sich beide Seiten verpflichtet, »die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen« und »ein Europa ohne Trennlinien und Einflusssphären« anzustreben. Die hemmungslosen Osterweiterung der NATO sei jedoch nicht von dem Russland in dieser Grundakte zugesagten Respekt getragen. Beide Seiten müssten neu darüber nachdenken, wie das Spannungsverhältnis zwischen territorialer Unverletzlichkeit und Selbstbestimmung von Völkern und Minderheiten friedlich zu lösen sei.

Die Bundesregierung wird aufgefordert, zur Deeskalation beizutragen, indem ihre Politik die Sicherheitsinteressen aller Staaten Europas berücksichtigt. Sie müsse die Vereinbarungen der Pariser Grundakte einhalten und »rhetorisch abrüsten«, die »Strafmaßnahmen« beenden und auf die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz drängen. nd

Die Erklärung kann unter www.kontext-tv.de [externer Link] unterzeichnet werden.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. Mai 2014

Die Erklärung auf unserer Website:

Aus Sorge um den Frieden
Mit den 100 Erstunterzeichner/innen (pdf-Datei)




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