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Macht- und Postenwechsel in der Ukraine / Präsidentenwahlen bereits am 25. Mai

Von Klaus Joachim Herrmann *

Der Kompromiss Präsident-Opposition hielt kaum Stunden. Dann rückten Regierungsgegner kampflos in die Machtzentralen ein.

Im Rollstuhl wurde Julia Timoschenko auf die Bühne des Maidan in Kiew geschoben. Mit ihren ersten Worten im Dunkel des späten Samstags bekam der Machtkampf in Kiew so etwas wie seinen weihevollen Augenblick für die künftige Geschichtsschreibung: »Es lebe die Ukraine!« Unter Tränen versicherte sie den Demonstranten: »Ihr seid Helden, ihr seid die Besten der Ukraine!«

Umstürze brauchen ihre Symbole, und am besten taugte dafür in diesem Augenblick nicht nur für die Zehntausenden Teilnehmer im Zentrum Kiews die kurz zuvor nach zweieinhalb Jahren aus einem Gefängnis in Charkiw befreite Ikone der orangen Revolution und frühere Premierministerin.

Dazu passte, dass mit Arseni Jazenjuk der bisherige starke Mann ihrer Vaterlandspartei hinter die Chefin getreten war und sie nach vorn in die erste Reihe schob. Julia Timoschenko hatte mit der Ankündigung ihrer Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen, die nun auf den 25. Mai und damit den Tag der Europawahl vorgezogen wurden, die Verhältnisse schon einmal vorab geklärt. Für die Wahl eines Regierungschefs würde ihr zweiter Mann zur Debatte stehen, hieß es am Sonntag. Als weiterer prominenter Kandidat für das Amt wurde der Unternehmer Pjotr Poroschenko gehandelt.

Die Zahl der Abgeordneten in der Parlamentsfraktion der regierenden Partei der Regionen verringerte sich derweil stetig. Von mehreren Kabinettsmitgliedern hieß es, sie seien ins Ausland geflohen. Zu ihnen gehörte offenbar auch der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.

Mit Alexander Turtschinow, der als neuer Parlamentsvorsitzender zum Übergangspräsidenten wurde, sowie Arsen Awakow als Innenminister besetzte ihre Vaterlandspartei rasch Schlüsselposten. Auch die rechtsextreme Partei Swoboda wurde belohnt. Sie stellt seit dem Wochenende mit ihrem Abgeordneten Oleg Machnitzki den »Bevollmächtigten des Parlaments zur Kontrolle der Tätigkeit der Generalstaatsanwaltschaft«.

In einem nächsten Schritt will das Parlament eine Übergangsregierung bestimmen. Turtschinow forderte die Abgeordneten dazu auf, sich bis Dienstag auf ein »Kabinett des nationalen Vertrauens« zu einigen.

In eben jenem Charkiw im Osten, aus dem die bis dahin prominenteste Gefangene des Landes zurück in den Westen des Landes reiste, machte dann der aus der Hauptstadt verschwundene Präsident Viktor Janukowitsch Station. Informationen des Grenzschutzes machten die Runde, der entmachtete Präsident habe in einem Privatjet die Flucht aus dem östlichen Donezk versucht. Janukowitsch selbst versicherte in einem örtlichen Fernsehsender aber: »Ich werde das Land nicht verlassen, ich habe nicht vor zurückzutreten.« Das Parlament erklärte ihn aber am Samstag für abgesetzt. Er komme seinen Verpflichtungen nicht mehr nach, hieß es zur Begründung.

Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ukraine versuchten ihm in Charkiw auf einem Kongress der »Ukrainischen Front« noch einmal den Rücken zu stärken. »Die Ereignisse in der ukrainischen Hauptstadt haben zur Lähmung der Zentralmacht und zur Destabilisierung der Regierung geführt«, erklärten die Vertreter örtlicher Regierungen und Parlamente. Das Parlament werde bei seiner Arbeit »durch Waffen und Mord bedroht«. Wie Janukowitsch sprachen Delegierte von einem Staatsstreich der Opposition. Dieser sei mit Hilfe der EU und der USA vollzogen worden.

In der Tat war ein bis zum Freitag unter dem Patronat von gleich drei EU-Außenministern und einem Sondergesandten des Kreml mühselig ausgehandelter Kompromiss zwischen Präsident und Opposition nur Stunden nach der Unterzeichnung gewissermaßen von den Ereignissen überrannt worden. Deutschland, Frankreich und Polen waren zwar als »Garanten« der Vereinbarungen aufgetreten, doch erinnerten sie sich daran nicht mehr.

Dafür freilich Russland. Dessen Außenminister Sergej Lawrow warf den ukrainischen Regierungsgegnern »Wortbruch und Unfähigkeit« vor. Die Opposition in Kiew habe sich in keiner Weise an den vereinbarten Plan für einen Weg aus der Krise gehalten, den sie mit Präsident Janukowitsch unterzeichnet habe, kritisierte er. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier rief er in einem Telefonat auf, seinen Einfluss auf die Regierungsgegner zu nutzen, um die Lage »sofort zu ändern«. Die Opposition werde von »bewaffneten Extremisten« angeführt, die stets neue Forderungen stellten.

Auch die Präsidenten der USA und Russlands, Barack Obama und Wladimir Putin, telefonierten miteinander und hatten noch auf eine rasche Umsetzung des Abkommens zur Überwindung der Krise in der Ukraine gedrungen. Nun sei eine Stabilisierung der Wirtschaft dringend nötig. Allerdings setzte Russland dann seine Milliardenhilfe erst einmal aus.

Auf dem Maidan, dessen Rat nach einigem Zögern dem Kompromiss am Freitag zugestimmt hatte, herrschte in der Nacht weiterhin Unwillen. Polizeikräfte zogen aber aus der Innenstadt ab. Sogenannte Selbstverteidigungskräfte der Regierungsgegner rückten in das Regierungsviertel vor. Sie postierten sich vor Parlament, Regierungssitz und Präsidialkanzlei. »Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew«, sagte der Kommandant des Maidan, Andrej Parubij, dann schon am Samstagmorgen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf in der früheren Sowjetrepublik einmischen.

Am Wochenende erlebten dafür Hauptstädter bei Kiew ihre Version von Wandlitz. Geöffnet waren die Türen der Residenz Meschigorje und sie begutachteten das präsidiale Quartier. Ob es freilich künftig als Waisenhaus Verwendung findet, wie eine Besucherin anregte, dürfte getrost zu bezweifeln sein.

Das Parlament allerdings produzierte in einem schon ungestümen Staccato bereits im Niemandsland des Landes zwischen Macht und Ohnmacht Gesetz auf Gesetz. UDAR-Führer Vitali Klitschko verhinderte diesmal nicht mehr als Blockierer den Gang zum Rednerpult, sondern stand nun selbst wieder dahinter. Seine Werbekampagne bei der Hamburger Einzelhandelskette Tchibo für Fitnessprodukte wurde allerdings gestoppt. Dafür dürfte er wohl weiter Wahlkampf machen um das Präsidentenamt.

Zum Teil mit großem Eifer wurde eine besondere Abrechnung mit der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit in Angriff genommen. So erreichten Forderungen nach einem Verbot der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei am Sonntag das Parlament in Kiew. In rund zwei Dutzend Städten stürzten Regierungsgegner Statuen des russischen Revolutionsführers und Gründers der UdSSR Wladimir Iljitsch Lenin – so in Tschernigow, Poltawa und Dnjepropetrowsk, auch in Kirowograd und in Wolhynien.

Aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen forderte der ukrainische Rabbiner Moshe Reuven Asman die Juden zum Verlassen Kiews auf. »Ich habe meine Gemeinde aufgefordert, das Stadtzentrum und auch die ganze Stadt zu verlassen und wenn möglich auszureisen«, zitierte ihn die israelische Zeitung »Haaretz« am Wochenende. Israels Botschaft in Kiew warnte Juden ebenfalls davor, ihre Häuser zu verlassen. In den vergangenen Wochen waren laut Medienberichten Juden wiederholt auf offener Straße verprügelt worden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 24. Februar 2014


Putin schweigt

Die Ukraine ist ein mit Russland vielfältig verbundener Nachbar. Hier sieht man einen Putschversuch und ist ratlos.

Von Axel Eichholz, Moskau


Der russische Präsident Wladimir Putin hüllt sich bezüglich der neuesten Entwicklung in der Ukraine in Schweigen. Zuletzt hatte er vor drei Tagen mit Viktor Janukowitsch telefoniert. Am nächsten Tag sah sich sein Pressesprecher Dmitri Peskow zu einer Richtigstellung gezwungen. Eine Zeitungsente nannte er, dass Putin Janukowitsch angewiesen habe, den Maidan zu stürmen. Der Präsident habe seinem Kollegen keine Ratschläge erteilt und habe es auch künftig nicht vor, so Peskow. Im Kreml sei man der Meinung, dass in der Ukraine ein Putschversuch im Gange sei. Die Schuld treffe »radikale Elemente«.

Janukowitsch habe von Putin Geld angenommen, nichts dafür getan und sei am Samstag nach Charkow geflüchtet, um möglicherweise das Land zu spalten, schreibt der bekannte Kolumnist Nikolai Swanidse in einem Kommentar.

Nach Angaben des Lewada-Zentrums sehen 84 Prozent der befragten Russen in dem Maidan einen Umsturzversuch. 44 Prozent wittern Umtriebe des Westens und 35 Prozent nationalistische Stimmungen dahinter. 33 Prozent der Befragten verspüren Befremden und Ratlosigkeit darüber. Weitere 33 Prozent sind empört. Nur vier Prozent der Russen sehen darin einen friedlichen Protest. Drei Prozent begrüßen den Maidan und ein Prozent ist davon begeistert.


USA sehen eine Chance

Die Forderung nach einem Ende der Gewalt und die Drohung mit Sanktionen sowie etwas Optimismus kommen aus Washington.

Von John Dyer, Boston


US-Präsident Barack Obama begrüßte am Freitag die Einigung zwischen der ukrainischen Opposition und der Regierung. Er telefonierte auch mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Beide wären sich einig gewesen, dass wirtschaftliche Stabilität, politische Reformen und ein Ende der Gewalt nötig seien.

Am Samstag äußerte sich die Sprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf, zu den Ereignissen in Kiew. »Die Ukraine hat nun die Chance, aus der schrecklichen Situation herauszufinden.« Dabei gebe es zwei Möglichkeiten. »Entweder können wir die Gewalt beenden und den Weg in die Zukunft gehen, den das ukrainische Volk verdient hat. Oder aber, wenn das nicht geschieht, dann haben wir eine Reihe von Instrumenten in der Hand.«

Damit spielte sie auf die Sanktionen an, welche die US-Regierung in den vergangenen Tagen erlassen hat. So dürfen einige ukrainische Beamte nicht mehr in die USA einreisen. Laut Marie Harf müsse auch untersucht werden, wer für die Todesopfer der vergangenen Tage verantwortlich ist. »Wir verurteilen die Gewalt, egal, von welcher Seite sie kommt.«

Diese Haltung der Regierung stößt in den USA auch auf Kritik. Die US-Regierung sollte sich stärker auf die Seite der Opposition stellen. Ex-UNO-Botschafter John Bolton klagte: »Obama setzt Regierung und Opposition moralisch gleich.«


Polen fühlt mit

Nachbar Polen erinnert sich der eigenen schwierigen Geschichte und fordert die Bürger auf, Kerzen in die Fenster zu stellen.

Von Jens Mattern, Warschau


»Brüder, wir bewundern euch«, titelte die auflagenstarke Zeitung »Gazeta Wyborcza« am Samstag und stellte einige Privatfotos der Kiewer Todesopfer auf die Titelseite. Die polnischen Medien haben die dramatische Woche in der Ukraine mit viel Mitgefühl begleitet. Die Sprecher der staatlichen Abendnachrichten zogen sich Helm und Schutzweste an, um aus einem improvisierten Lazarett oder vor Barrikaden des Maidans die Sendung zu moderieren. Polen begrüßte den Kompromiss zur Entmachtung des Präsidenten.

Premierminister Donald Tusk rief seine Landsleute am Samstag auf, aus Solidarität mit der Ukraine eine Kerze ans Fenster zu stellen. Diese Geste erinnert an den 31. Januar 1982, als man sich weltweit mit Polen solidarisierte, über das der Kriegszustand verhängt worden war.

Vor den polnischen Medien musste Außenminister Radek Sikorski, der in Kiew zwischen der Opposition und Staatspräsident Viktor Janukowitsch vermittelt hatte, seine harten Worte gegen die ukrainische Opposition erklären. Es sei eine Notwendigkeit gewesen angesichts der drohenden Eskalation, unterstrich er. Sikorski hatte in Kiew gesagt: »Entweder ihr findet einen Kompromiss oder es gibt den Krieg und ihr seid alle tot.« Diese Worte lösten in Polen heftige Diskussionen aus.

(nd, 24.02.2014)




Rechter Staatsstreich

Ukraine: Faschisten kontrollieren Kiew. Parlament verabschiedet Verfassungsänderungen am laufenden Band. Entmachteter Präsident Janukowitsch verschwunden

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ukraine überschlagen sich seit Freitag die Ereignisse. Kampfgruppen des »Rechten Blocks« und der »Selbstverteidigung« des Maidan haben die Kontrolle über die Hauptstadt Kiew übernommen. Da die Polizei ihre Arbeit offenbar eingestellt hat, patrouillieren die Faschisten durch die Straßen und kontrollieren die Flughäfen. Die parlamentarische Opposition hat sich hiermit offenbar abgefunden. Witali Klitschko erklärte, die Kämpfer des »Rechten Blocks« seien derzeit die einzigen, die für Ordnung sorgen könnten. Eine neue Polizei müsse erst aufgebaut werden.

Die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments haben sich derweilen in eine Abstimmungsmaschinerie verwandelt. Zuerst wurden Präsident Janukowitsch und seine Minister abgesetzt, dann würde die Verfassung von 2004 wieder eingeführt; sie stärkt das Gewicht des Parlaments gegenüber dem Präsidenten. Auch die große Mehrheit der Partei der Regionen, die bisher Präsident Wiktor Janukowitsch unterstützte, stimmte mit Ja. Die Partei ist offenbar dabei, sich aufzulösen; über 100 ihrer Abgeordneten haben ihren Parteiaustritt erklärt, um die eigene Haut zu retten. Am Sonntag wollte das Parlament auch über ein Verbot der Partei der Regionen und der in den letzten Jahren mit ihr verbündeten Kommunistischen Partei diskutieren; ob es dafür eine Mehrheit gibt, ist unklar. Witali Klitschko lud zumindest die Partei der Regionen ein, an der geplanten Übergangsregierung mitzuwirken. Gleichzeitig wurde das Büro der KP in Kiew gestürmt.

Das Parlament hat auch die Freilassung der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko verfügt. Sie kehrte am Samstag nach Kiew zurück. Ihre Ankündigung, bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, fand auf dem Maidan zurückhaltende Aufnahme: Auch Gegner Janukowitschs kennen ihre Vergangenheit. Am Sonntag telefonierte Timoschenko mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die beiden Politikerinnen vereinbarten nach Angaben der Exgefangenen ein baldiges Treffen. Timoschenkos Partei »Vaterland« ist assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei, des EU-weiten Zusammenschlusses der Christdemokraten. Witali Klitschko, ein potentieller Rivale Timoschenkos für die nun auf den 25. Mai vorgezogene Präsidentenwahl, reagierte säuerlich: Er begrüße politischen Wettbewerb auf breiter Basis, sagte er am Sonntag.

Das Parlament bestimmte am Sonntag schließlich seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten. Dem Vertrauten Timoschenkos wurden vorübergehend die Vollmachten des Staatschefs übertragen.

Die neue Mehrheit in Kiew schlägt einen harten nationalistischen Kurs ein. Am Sonntag wurde ein Sprachgesetz gekippt, das den russischsprachigen Ukrainern gewisse Rechte beim öffentlichen Gebrauch dieser Sprache gewährt hatte. Der »Rechte Block« erklärte wie zum Hohn, er habe nichts gegen die Russen und Russischsprachigen, solange sie die ukrainische nationale Revolution unterstützen und das Recht der Ukrainer anerkennen, Herren im eigenen Haus zu sein. Im ganzen Land wurden mehrere Dutzend Lenindenkmäler und Denkmäler für den Sieg der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg gestürzt. In Charkiw verteidigten Bürger die örtliche Lenin-Statue gegen Versuche von Maidan-Aktivisten, sie ebenfalls zu demontieren.

Der entmachtete Janukowitsch ist in unbekannte Richtung verschwunden. Zuletzt gesehen wurde er am Samstag auf dem Flughafen von Donezk, als er Medienberichten zufolge mit einem Privatflugzeug das Land zu verlassen suchte, was allerdings vom Grenzschutz verhindert worden sei.

** Aus: junge Welt, Montag, 24. Februar 2014


Feindliche Übernahme

Westliche Brandstifter als Biedermänner: Nach der gezielten Destabilisierung der Ukraine rufen Washington, Brüssel und Berlin zur Stabilisierung des Landes auf

Von Reinhard Lauterbach ***


Die als »europäische Vermittlung« beworbene Mission in Kiew hat sich als wenig haltbar erwiesen. Seitdem am Freitag die Schlägerfraktion vom Maidan die faktische Macht in der Ukraine übernommen hat, beschränkt sich die EU darauf, die dortigen Politiker zu »verantwortlichem Verhalten« und zur Bewahrung der territorialen Integrität des Landes aufzurufen. Rußlands Außenminister Sergej Lawrow hatte schon am Samstag die westlichen Paten der kurzlebigen Vereinbarung aufgerufen, nun für die Einhaltung der von ihnen vermittelten Beschlüsse zu sorgen. Schadenfreude? Nur ein ganz bißchen.

Vermutlich haben sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Co. den Machtwechsel in der Ukraine geordneter vorgestellt. Dafür spricht eine Äußerung des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski noch im Zuge der Verhandlungen mit der Führung der Demonstranten am Freitag. Sikorski, offensichtlich genervt vom Unwillen der Radikalen, die Einigung zu akzeptieren, maulte die Maidan-Führer an, sie sollten gefälligst unterschreiben, sonst bekämen sie das Kriegsrecht und gingen alle über den Jordan. Und Steinmeier mahnte am Samstag die Beteiligten in der Ukraine zu Augenmaß und Kompromißfähigkeit.

Etwas anders klang die Kommentierung aus Washington. Dort rühmte sich ein hoher Beamter des Außenministeriums am Samstag, US-Vizepräsident Joseph Biden habe Janukowitsch vor praktisch jeder Entscheidung der letzten Wochen angerufen und ihn »ermutigt« zurückzustecken oder ihm »abgeraten«, energischer durchzugreifen; noch während der Verhandlungen mit den EU-Ministern habe Biden Janukowitsch ans Telefon geholt und ihm gesagt, die Zeit für eine friedliche Lösung laufe aus. Das klang schon deutlich nach Fernsteuerung der Unruhen, mit deren Anführern der US-Botschafter in Kiew nach derselben Quelle praktisch im Stundentakt telefonierte. Überdies fand der Mann kein Wort der Verurteilung für die Attacken der Radikalen und äußerte eher Verständnis dafür, daß es die Oppositionsführer »schwerhaben würden, die erreichte Lösung auf der Straße zu verkaufen«. Als dann die Sache aus Sicht Wa­shingtons auf gutem Weg war, konnte sich der Diplomat Nachlässigkeit im Detail erlauben; eine Frage nach dem Schicksal des geschaßten Innenministers Witali Sachartschenko beantwortete er etwas lax mit den Worten: »Er hat ein Mißtrauensvotum oder eine Amtsenthebung angehängt gekriegt. Ich weiß auch nicht, wie man heute in der Ukraine einen Innenminister loswird, aber jedenfalls hat das Parlament heute gesagt, daß er gehen muß.«

Ein einstündiges Gespräch der US-amerikanischen und russischen Präsidenten Barack Obama und Wladimir Putin über die Ukraine bezeichnete der Beamte als konstruktiv und in positivem Geist geführt. Beide Seiten seien an einer Stabilisierung interessiert gewesen. An der Stabilisierung der Situation nach der aus Washington, Brüssel und Berlin inszenierten Destabiliserung. So schön kann Diplomatie sein.

*** Aus: junge Welt, Montag, 24. Februar 2014


Verbrannter Strohmann

Wiktor Janukowitsch und sein Erbe

Von Reinhard Lauterbach ****


Um Wiktor Janukowitsch muß es einem persönlich nicht leid tun. Der aus kleinkriminellem Milieu über Türsteherjobs und Personenschutz neureicher Unternehmer aus dem Kohlenrevier des Donbass zum Politiker aufgestiegene Zwei-Meter-Mann war in seiner Karriere immer nur der Strohmann Mächtigerer, die hinter ihm standen. Über seine Unbildung kursieren Legenden, über seine Korruptheit und Geldgier auch. An letzterem ist wahrscheinlich viel dran. Vor den Toren von Kiew ließ er sich auf 34 Hektar Grund eine Residenz bauen, die schon als »ukrainisches Versailles« bezeichnet wird. Seinem Sohn ermöglichte er den Aufstieg in die Oligarchie mit einem zuletzt auf mehrere hundert Millionen Dollar bezifferten Vermögen. Wahrscheinlich hat dies dazu beigetragen, daß die älteren Oligarchen beschlossen, sich seiner zu entledigen oder ihm zumindest seine Grenzen zu zeigen. Bezeichnend ist, daß der »Pate von Donezk«, Rinat Achmetow, der lange als Janukowitschs persönlicher Schutzherr galt, sich schon sehr früh gegen eine gewaltsame Beendigung der Maidan-Proteste ausgesprochen hat.

Politisch hat Janukowitsch die Schaukelpolitik aller seiner Vorgänger zwischen Rußland und dem Westen fortgeführt. Sie hat objektive Gründe in der Struktur der ukrainischen Wirtschaft. Ihre verarbeitende Industrie ist mit wenigen Ausnahmen allenfalls im postsowjetischen Raum konkurrenzfähig; Westeuropa belieferte die Ukraine mit allerhand Grundstoffen wie Stahl und Basis­chemikalien, bei denen niemand danach fragte, zu welchen Umweltkosten sie produziert wurden. Die Handelsströme der Ukraine in Richtung GUS und EU sind ungefähr gleich groß. Als Rußland im Sommer 2013 drohte, den ukrainischen Osthandel zu blockieren, wenn das Land die Assoziierung mit der EU unterzeichnen sollte, versuchte Janukowitsch noch zaghaft, in Brüssel Ausgleichszahlungen herauszuhandeln, wurde aber dort nur ausgelacht. So zog er die Konsequenz und näherte sich zuletzt wieder Rußland an. Aus wohlverstandenem realpolitischem Interesse, das auch westliche Analytiker im stillen nachvollziehen konnten; deshalb hat er wohl nie richtig verstanden, warum sich ausgerechnet an dieser Entscheidung die Proteste entzündet haben.

Im Moment steht Janukowitschs Amtszeit im Zeichen der vielen Toten, die die Auseinandersetzungen um den Maidan in seinen letzten Amtstagen gefordert haben – auf beiden Seiten, was im Westen immer gern unterschlagen wird. Wenn man sich anschaut, wie die neuen Herren in Kiew ihre Politik angehen, ist es aber gut möglich, daß Janukowitschs Regentschaft mit einigem Abstand als eine relativ friedlich-zivilgesellschaftliche Periode der ukrainischen Geschichte erscheinen wird. Und zwar paradoxerweise genau wegen ihres kleptokratischen Charakters. Gerade, weil es ihm und seinen Hintermännern um Bereicherung ging, waren ihnen die kulturkämpferischen Bestrebungen der ukrainischen Nationalisten und Faschisten zutiefst fremd. Bei ihm konnte jeder in seiner Sprache und nach seiner Fasson selig werden, solange er Janukowitschs Leute an seinen Geschäften beteiligte.

Das verspricht jetzt anders zu werden. Eines der ersten Gesetze, das die neue Mehrheit im Obersten Rat noch am Freitag verabschiedete, ist ein Gesinnungsgesetz gegen »Separatismus«. Es bedroht alle Äußerungen mit Strafe, die die territoriale Gestalt der Ukraine in Frage stellen, und es richtet sich vordergründig gegen Überlegungen für eine größere kulturelle und finanzielle Autonomie der russischsprachigen Gebiete der Ost­ukraine, notabene der »Cash-Kühe« der ukrainischen Volkswirtschaft. Zu Sowjetzeiten waren die ukrainischen Dissidenten wegen ähnlicher Delikte verurteilt worden. Auf die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine – selbst nach zurückhaltenden Schätzungen ein gutes Drittel der 46 Millionen Staatsbürger – dürfte neuer Assimilationsdruck zukommen. Die neue Parlamentsmehrheit fand schon am Sonntag Zeit, ein relativ liberales Gesetz über den öffentlichen Gebrauch des Russischen aufzuheben. Das Problem ist dabei weniger ein praktisches: Ukrainisch und Russisch unterscheiden sich wie Niederländisch und Deutsch, man versteht sich also zur Not gegenseitig; das Russische gilt den Nationalisten allerdings als »Sprache der inneren Okkupation«, wie Plakate auf dem Maidan verkündeten. Es muß schon aus diesem Grund verdrängt werden, auch wenn die ukrainische Kultur schlicht wenig anzubieten hat, was über patriotische Erbauung am Vorbild Stepan Banderas und ein bißchen postmodernes Räsonnement einiger Dutzend Feuilletonisten hinausgeht. Das ist keine neue Erscheinung. Schon Rosa Luxemburg hatte in ihrer »Russischen Revolution« über den ukrainischen Nationalismus gespottet, genauso könne man »auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche Nation« gründen.

**** Aus: junge Welt, Montag, 24. Februar 2014


Hintergrund: Eine Frau mit Vergangenheit *****

Im Unterschied zu dem aus subproletarischen Verhältnissen aufgestiegenen Wiktor Janukowitsch verkörpert Julia Timoschenko, Jahrgang 1959, idealtypisch die Nomenklatura-Privatisierung der neunziger Jahre. Sie hatte das historische Glück, in den Perestrojka-Jahren einen einflußreichen Schwiegervater zu haben: den für Kultur zuständigen Referenten des Dnipropetrowsker Gebietsparteikomitees. Gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann verdiente sie ihr Startkapital mit dem Verkauf von – den Umständen nach – Schwarzkopien westlicher Filme, auf deren lizensierte Kopien der hochgestellte Verwandte Zugriff hatte. Später handelte sie u.a. mit Grubenholz und russischem Gas und stieg im Clan des Dnipropetrowsker Paten Pawlo Lasarenko zur Nummer zwei auf. Als der damalige Präsident Leonid Kutschma Lasarenko 1999 als geschäftlichen Konkurrenten aus dem Verkehr zog, verlor Julia Timoschenko die für ihre Geschäfte notwendige politische Protektion. Daraufhin legte sie eine 180-Grad-Drehung von der Schattenunternehmerin zur Sauberfrau hin und bekämpfte in mehreren Regierungsämtern diejenigen Oligarchen, die geschäftlich mehr Glück gehabt hatten als sie. Ihr Insiderwissen kam ihr dabei zugute – auch persönlich.

2004 wurde sie neben Wiktor Juschtschenko zur Führerin der »orangen Revolution« und zu deren medialem Gesicht. Für dieses neue Image legte die bisher brünette Timoschenko sich auch ihr neues Outfit mit blondem Zopf zu – die Angehörige der Jeunesse dorée stilisierte sich zum Bauernmädel. Interne Rivalitäten mit Juschtschenko, Korruptionsskandale und die Dauerkrise sorgten dafür, daß die ukrainischen Wähler die »Orangen« nach einer Legislaturperiode satt hatten und Timoschenkos Widersacher Janukowitsch ein Comeback erlebte. Der erkannte in ihr eine ernstzunehmende Gegnerin und ließ die Staatsanwaltschaft in ihrer Vergangenheit wühlen. Zum Verhängnis wurde ihr schließlich ein Gasdeal, den sie 2009 mit Wladimir Putin abgeschlossen hatte und an dem sich eine in der Schweiz angesiedelte Vermittlerfirma dumm und dämlich verdiente. Wegen Veruntreuung von Staatsmitteln und Amtsmißbrauch wurde sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. Weitere Ermittlungen, so wegen des Verdachts der Anstiftung zu einem politischen Mord in Donezk 1996, werden nun wohl eingestellt werden.

(rl)

***** Aus: junge Welt, Montag, 24. Februar 2014


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