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Maidan wird abgeräumt

Straßenkämpfe im Zentrum Kiews. NATO-Chef Rasmussen bei Präsident Poroschenko. Westliche Hilfen für ukrainisches Militär diskutiert

Von Reinhard Lauterbach *

Das Symbol der ukrainischen »Euro-Revolution« ist reif zum Abriß. Am Donnerstag morgen begann die Kiewer Müllabfuhr, die nach wie vor auf dem Unabhängigkeitsplatz stehenden Barrikaden und Zelte abzuräumen. Sie stieß auf heftigen Widerstand der noch etwa 1000 Personen, die seit dem Winter in den Zelten hausen. Diese zündeten die herumliegenden Autoreifen an und bewarfen die Müllwerker ebenso wie die Polizei mit Molotow-Cocktails. Mehrere Polizisten erlitten Schnittwunden durch Messerstiche. Gegen Mittag brachen die Behörden die Räumung ab; aus Sorge vor einer erneuten Besetzung des Kiewer Rathauses ließ Bürgermeister Witali Klitschko das Gebäude von allen Wertsachen räumen und schickte die Beamten nach Hause. Im Zuge der ersten Besetzung hatten die dort kampierenden Maidan-Aktivisten unter anderem die gesamte EDV-Hardware der Stadtverwaltung gestohlen und zu Geld gemacht.

Mit der Räumung reagierte Klitschko auf wachsende Beschwerden über die von dem Maidan-Lager ausgehende Kriminalität. Seit Jahresbeginn zählte die Polizei auf dem Gelände mindestens vier Morde, etliche Vergewaltigungen und Massenschlägereien unter Alkoholeinfluß sowie Hunderte von Raubüberfällen – von Belästigungen der Passanten und penetrantem Betteln der »Helden« nicht zu reden. In den letzten Wochen hat sich die Stimmung in der Kiewer Bevölkerung erkennbar gegen die Platzbesetzer gedreht. Am Rande der Räumung beschuldigten Bürger die Aktivisten und diese die Müllwerker, Agenten des russischen Geheimdienstes zu sein. Abgeordnete der Vaterlandspartei von Julia Timoschenko und der faschistischen Swoboda-Partei kritisierten die Räumung dennoch. Der Sprecher des »Rechten Sektors« warf Klitschko vor, er habe zum Besuch von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die »revolutionären« Spuren der neuen Ukraine beseitigen wollen – da mag sogar etwas dran sein.

Rasmussen erörterte am Donnerstag mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko die militärische Lage im Osten des Landes sowie mögliche Militärhilfen. Es seien Wege diskutiert worden, wie ein NATO-Finanztopf genutzt werden könnte, um die ukrainische Armee in den Bereichen Kommando, Kommunikation und Cyberabwehrfähigkeiten zu stärken, teilte die Regierung in Kiew mit. Rasmussen ist heftig bestrebt, schon vor dem Septembergipfel der westlichen Kriegsallianz im walisischen Newport einen Beschluß über die Einbindung der Ukraine in die »atlantischen Sicherheitsstrukturen« herbeizureden. Etliche NATO-Staaten schließen inzwischen offenbar die Möglichkeit nicht mehr aus, daß Rußland auch auf eigene Faust eine »humanitäre Intervention« in der Ostukraine starten könnte, nachdem ein entsprechender Antrag Moskaus im UNO-Sicherheitsrat erwartungsgemäß von den westlichen Vetomächten abgeschmettert worden war.

Die Lage der Bevölkerung in der Ostukraine verschlimmert sich unterdessen weiter. In Lugansk sind nach Strom und Wasser nun auch Benzin und Bargeld ausgegangen. Die Stadt wird – ebenso wie Donezk – täglich von ukrainischer Artillerie beschossen; es gibt immer wieder Tote unter der Bevölkerung. Die Versuche der Kiewer Streitkräfte, Donezk schnell durch einen Panzerangriff einzukesseln, sind dagegen offenbar vorerst gescheitert. Der mit der Armeeführung verbundene Blogger Dmytro Tymtschuk räumte in einem seiner Posts ein, daß sich die Rebellen »ziemlich effizient« verteidigten.

* Aus: junge Welt, Freitag 8. August 2014


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