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Seit Monaten kein Lohn

Ukraine: Bergleute protestieren in Kiew. Regierung will Branche "gesundschrumpfen". Wegen Krise wird nur in 30 von 95 Kohlegruben gefördert

Von Reinhard Lauterbach *

Seit Mittwoch bietet das Kiewer Regierungsviertel ein Bild wie aus den 90er Jahren. Etwa 1.000 Bergleute schlagen ihre Helme gegen Müllcontainer oder auf das Straßenpflaster. Sie fordern die Auszahlung der seit Anfang des Jahres ausstehenden Löhne und einen Verzicht auf die Streichung von staatlichen Subventionen für die Branche. Vor dem Sitz des Energieministeriums haben sie Zelte aufgestellt und wollen nach eigenem Bekunden dort aushalten, bis der für sie zuständige Minister Wolodymyr Demtschyschyn zurückgetreten ist. Die Polizei hielt sich bisher zurück und lässt die Demonstranten gewähren.

Die schwere Wirtschaftskrise in der Ukraine und der Bürgerkrieg haben dazu geführt, dass derzeit nur etwa 30 von 95 ukrainischen Kohlegruben fördern. Für den Finanzminister ist das sogar gut, denn damit entfallen auch die jahrelang gezahlten Zuschüsse für die Branche. Diese Subventionen zu reduzieren, das ist auch eine der Forderungen der internationalen Gläubiger an Kiew. So wird der Bergbau von der Regierung vom Rückgrat der Volkswirtschaft zum Sorgenkind umdefiniert. Rund ein Drittel der in der Ukraine arbeitenden staatlichen Gruben gelten neuerdings als »perspektivlos« und sollen in den nächsten Jahren stillgelegt werden. Versprechen, es werde Sozialpläne geben, überzeugen die Bergleute und ihre Gewerkschaft nicht. Michail Wolynec, seit Jahrzehnten Vorsitzender der »Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft«, argumentierte jetzt in Kiew nicht nur mit den enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten infolge der Erhöhung der Mieten, Strompreise und Tarife für den öffentlichen Nahverkehr. Er nannte es auch widersinnig, wenn die Ukraine Bergwerke schließe und dann Kohle aus dem Ausland zukaufen müsse.

Protektionismus gegenüber dem eigenen Bergbau war bisher Teil eines inoffiziellen Sozialvertrags, den alle ukrainischen Regierungen seit der Unabhängigkeit eingehalten haben. Die Bergleute des Donbass hatten in den letzten Jahren der Sowjetunion die Forderungen der Nationalisten nach staatlicher Unabhängigkeit der Ukraine unterstützt, weil sie sich davon erhofften, unersetzlich zu werden: In einer selbständigen Ukraine wären sie die einzigen Kohleproduzenten, deshalb könne sich keine Regierung Einschnitte auf diesem Gebiet leisten. Genau die hatte die Planbehörde in Moskau vorgesehen, nachdem kostengünstiger abbaubare Kohlelagerstätten in Sibirien erschlossen worden waren. Jetzt steht dieser Deal in Frage. Für die Bergleute könnte dessen Kündigung existentielle Folgen haben. Gleichwohl vollzieht sich hier gerade ein »Strukturwandel«, der 20 Jahre lang aufgeschoben wurde – und der auch in anderen Industrieländern unter besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schweren sozialen Konflikten geführt hat.

An der Spitze der Proteste stehen weniger Bergleute aus dem Donbass – von dem ein Teil ja ohnehin inzwischen mit der Ukraine nichts mehr zu tun haben will, was Kiew auch einige der mit der Reduktion der Förderkapazitäten verbundenen Probleme erspart. Es sind vielmehr Kumpel aus dem durch die Kürzungen besonders stark betroffenen kleinen Kohlerevier im Bezirk Wolhynien an der polnischen Grenze. Der Westen der Ukraine ist eine Hochburg der Nationalisten. Das schlägt auch auf die Proteste durch: die Flaggen der Demonstranten sind teils blau-gelb wie die Nationalfahne, teils auch schwarz-rot in den Farben der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Dieser Chauvinismus auch bei sozialen Protesten ist in den letzten Monaten an verschiedenen Stellen in der Ukraine zu beobachten gewesen. Die »Swoboda«-Partei versucht offensichtlich, mit der Unterstützung und Einbindung sozialer Proteste ein Wählerpotential zu gewinnen, das sie bei den Parlamentswahlen im Oktober unter dem Eindruck des Krieges an die »Volksfront« von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk verloren hatte. So wehten bei Demonstrationen von der Entlassung bedrohter Lehrer und Krankenschwestern ihre Parteifahnen.

Die Staatsführung schickt derweil die protestierenden Bergarbeiter von Pontius zu Pilatus. In der Präsidentenadministration erklärte man, die Energiepolitik sei Sache des Regierungschefs. Von dort aber kam der Vorwurf an die Demonstranten, sie seien von dem Oligarchen Rinat Achmetow vorgeschickt worden, um dessen Forderung nach mehr Subventionen für die Kohlegruben seines Konzerns Nachdruck zu verleihen. Mit anderen Worten: Holt euer Geld bei dem.

Das Problem der Lohnrückstände, das im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts aus der Ukraine verschwunden war, tritt neuerdings nicht nur in einer »alten« Industrie wie dem Kohlebergbau wieder auf. Auch lange als »Filetstücke« der ukrainischen Wirtschaft gehandelte Betriebe bleiben infolge des Krieges ihren Beschäftigten die Gehälter schuldig. So steht die Raketenfabrik »Piwdenmasch« (früher: Juschmasch) in Dnipropetrowsk seit Jahresbeginn still und hat ihre 18.000 Mitarbeiter bis zum 30. Juni in unbezahlten Urlaub geschickt. Der Grund ist das Verbot der Zusammenarbeit mit dem russischen Rüstungssektor, für den »Piwdenmasch« noch bis Anfang 2014 die Körper der Interkontinentalraketen gefertigt hatte. Inzwischen baut Russland die Raketen selbst. Der Besuch einer Delegation der NASA in Dnipropetrowsk, bei dem über langfristige Kooperationsmöglichkeiten gesprochen wurde, brachte kurzfristig keine Erleichterung.

* Aus: junge Welt, Freitag, 24. April 2015


Bluffen und drohen

USA rüsten Ukraine auf

Von Reinhard Lauterbach **


Nach einigen Wochen relativer Ruhe hat Kiew das Thema »russische Truppen im Donbass« wieder aus der Schublade geholt. Generalstabschef Wiktor Muschenko behauptete dieser Tage, sein Land habe Beweise für die Anwesenheit mehrerer russischer Divisionen in der Ostukraine und nannte ihre Nummern.

Jeder Skatspieler weiß freilich: zu behaupten, Beweise zu haben, und sie zu präsentieren, ist zweierlei. Mit diesem Unterschied operierte Muschenkos Präsident schon im Februar auf der Münchener »Sicherheitskonferenz«: Er hielt ein Bündel von Ausweisen in die Kameras, die angeblich russischen Soldaten im Donbass abgenommen worden sein sollen. Mehr als die Außenseiten dieser Dokumente hat freilich kein Außenstehender zu Gesicht bekommen, und es stellte sich auch schnell heraus, dass zu den von Petro Poroschenko stolz präsentierten Dokumenten der Dienstausweis einer 2003 aufgelösten Einheit der russischen Steuerfahndung gehörte. Das Argument verschwand denn auch schnell wieder in der Versenkung. Es wäre ja im übrigen geradezu eine Verharmlosung der »Gefährlichkeit« Russlands, ihm zu unterstellen, seine Soldaten mit echten Ausweisen in eine geheime Auslandsmission zu schicken. Hätten die notorischen Passfälscher beim FSB dann nicht auch ein paar ukrainische Ausweise beisteuern können?

Was im Falle der Ukraine ständig am Rande der Lächerlichkeit steht, machen ihre großen Brüder in Washington vor. Da präsentierte ein Senator aus Oklahoma angebliche Bilder russischer Panzer im Donbass vor einer Hochgebirgskulisse, die es dort schlicht nicht gibt. Der gute Mann hatte sich in Kiew Bilder aus dem russisch-georgischen Krieg von 2008 andrehen lassen. Und jetzt die nächste dieser Bluffnummern. Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Mary Harf, warf Russland vor, das Minsker Abkommen zu verletzen, indem es an der Grenze zur Ukraine Truppen konzentriere. Dummerweise handelt das Minsker Abkommen aber gar nicht davon, was Russland auf seinem eigenen Territorium anstellen oder nicht anstellen soll.

Und wenn Washington Moskau beschuldigt, die Aufständischen mit Drohnen auszurüsten – woher hat dann die Ukraine ihre, die gelegentlich über Donezk abgeschossen werden? Russland vorzuwerfen, es eskaliere die Lage in der Ukraine, wenn man selbst gerade 300 Fallschirmjäger auf einen westukrainischen Truppenübungsplatz geschickt hat, um die Faschisten der Nationalgarde auszubilden, ist eine Form von Chuzpe, die sich nur derjenige leisten kann, der keine Beweise braucht, um seinen Worten Taten folgen zu lassen.

Es gibt eine schöne Karikatur aus dem vergangenen Jahr. Zwei US-Generäle stehen vor einer Weltkarte, die alle US-Militärstützpunkte mit blauen Sternen markiert. Der eine sagt zum anderen: Unverschämt, diese Russen, wie nah die ihr Land an unsere Stützpunkte gelegt haben. So geht Argumentation im amerikanischen Stil.

** Aus: junge Welt, Freitag, 24. April 2015 (Kommentar)


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