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Rätsel um "Selbstverteidigung" der Krim

Ukraine wirft Russland Einmischung vor / Gestürzter Präsident Janukowitsch erbittet Hilfe aus Moskau

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Krim ist derzeit Zentrum der ukrainischen Krise. Bewaffnete Gruppen gaben hier über ihre Herkunft Rätsel auf. Der gestürzte ukrainische Präsident trat in Russland vor die Medien.

Die Spannungen auf der Krim seien eine »natürliche Reaktion« auf den unrechtmäßigen Umsturz, meldete sich der entmachtete ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch am Freitag in der Politik zurück. Er sei »nicht abgesetzt« worden, sondern habe sich nach Drohungen »gezwungen« gesehen, das Land zu verlassen, sagte er vor Journalisten in der russischen Stadt Rostow am Don. In der Ukraine hätten »junge Neofaschisten« die Macht übernommen. Verantwortlich dafür sei eine »unverantwortliche Politik« des Westens. Janukowitsch bat Russland um Hilfe, nicht aber um eine militärische Intervention.

Derer wurde Moskau verdächtigt. Es versicherte aber, Soldaten und Matrosen der russischen Schwarzmeerflotte hätten ihre ständigen Stationierungsorte auf der Krim nicht verlassen. In der Nacht zuvor nahmen maskierte Bewaffnete den Aiport Belbek in Sewastopol unter Kontrolle. Am Nachmittag gab es widersprüchliche Angaben, ob die »Einheiten der Selbstverteidigung der Krim«, wie sie ein Abgeordneter des Parlaments der Halbinsel in Simferopol bezeichnete, den Flughafen wieder verlassen haben.

Die Regierung in Kiew behauptete, es handle sich um Angehörige der russischen Flotte. Innenminister Arsen Awakow warf Russland militärische Einmischung vor und sprach von einer direkten Provokation auf dem Territorium eines unabhängigen Staates.

Auch die Krimtataren blieben misstrauisch. Sie verweigerten der neuen Führung der Halbinsel Gefolgschaft und Gespräch. Die Regierung sei »unter vorgehaltener Pistole von Unbekannten« formiert worden, erklärte ein Sprecher der Volksgruppe. Am Vortag war das Parlamentsgebäude von Bewaffneten gestürmt worden. Der bisherige Regierungschef der Autonomie trat zurück und machte dem Führer der Partei »Russische Einheit«, Serge Aksionow, Platz. Der nannte Janukowitsch den weiterhin rechtmäßigen ukrainischen Präsidenten.

Zur Regelung der Probleme mit dem Süden und Osten der Ukraine unterbreitete das Parlament von Donezk Vorschläge. Es wandte sich »gegen Nationalismus in jeder Form«, verlangte die Wiederherstellung des Sprachengesetzes und die Entwaffnung ungesetzlicher Formationen.

Die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs äußerten sich gemeinsam »zutiefst besorgt« über die Lage auf der Krim. Die Spannungen in den östlichen Regionen des Landes müssten vermindert und ein friedlicher Dialog »zwischen allen beteiligten Kräften« gefördert werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ukrainische Premier Arseni Jazenjuk seien einig, dass die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt werden müsse, teilte die Bundesregierung mit.

Der IWF informierte, dass er Anfang der Woche in Kiew die Finanzlage der Ukraine prüfen wolle, um mögliche Hilfsprogramme vorzubereiten. IWF-Chefin Cristine Lagarde beruhigte trotz eines drohenden Staatsbankrotts und warnte vor Panikmache.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 1. März 2014


Putin bevorzugt den sanften Weg

Furcht vor militärischer Intervention auf der Krim gilt in Moskau als unbegründet

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Für unbegründet und hysterisch halten russische Experten im Westen geschürte Befürchtungen, Moskau könnte der Abspaltung »russischer« Regionen der Ukraine mit militärischer Gewalt nachhelfen.

Arsen Awakow, der am Donnerstag zum amtierenden ukrainischen Innenminister ernannt worden war, warf Russland in sozialen Netzwerken bereits »militärische Intervention« und »Okkupation der Krim« vor. Die Vorgänge in Sewastopol seien eine »blutige bewaffnete Provokation auf dem Territorium eines souveränen Staates« und daher kein Fall für sein Ressort, sondern für den Nationalen Sicherheitsrat. Der berät den Staatschef unter anderem in den Fragen von Krieg und Frieden.

Das Parlament der Krim – der mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelten Halbinsel, die erst seit 1954 zur Ukraine gehört – hatte am Donnerstag für den 25. Mai, wenn in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt werden soll, ein Referendum über den künftigen Status der offiziell autonomen Republik anberaumt. Das Wort »Unabhängigkeit« kommt im Entwurf des Textes nicht vor. Dort ist lediglich von »Vervollkommnung der Autonomie und Erweiterung ihrer Kompetenzen« die Rede.

Das liefe darauf hinaus, die Ukraine – derzeit ein Einheitsstaat – zu einer Föderation umzuformatieren. Im besten Fall. Im schlimmeren Fall würde längerfristig eine Konföderation daraus, und die ist, wie die Geschichte mehrfach zeigte, meist nur Instrument für eine »zivilisierte Scheidung«, wie Russlands Präsident Wladimir Putin es einst mit Blick auf die sieche UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS formulierte. Dem Beispiel der Krim könnten andere Regionen im Osten und Südosten mit starkem Anteil russischsprachiger Bevölkerung folgen. Diese Regionen, davor hatten Experten wie der Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums in Berlin, Alexander Rahr, frühzeitig gewarnt, würden keine Zentralregierung in Kiew dulden, in der Nationalisten aus dem Westteil der Ukraine das Sagen haben.

Tatsächlich steht das Parlament der Krim weiter zu dem am Wochenende abgesetzten und inzwischen in Russland aufgetauchten Staatschef Viktor Janukowitsch. Der hatte Donnerstag in einem Appell an das ukrainische Volk erklärt, er betrachte sich weiter als legitimer Präsident und werde bis zum Ende für die Umsetzung der Kompromissvereinbarung mit der Opposition kämpfen, die er in der vergangenen Woche unter Vermittlung der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens unterzeichnet hatte. Die Entwicklungen auf der Krim würden zeigen, dass die Menschen Anarchie, Gesetzlosigkeit und Ernennung von Ministern durch die Straße nicht hinnehmen. Ähnlich äußerte sich Janukowitsch am Freitag bei seiner Pressekonferenz in Rostow am Don. Zugleich lehnte er auf entsprechende Fragen eine militärische Intervention Russlands ab und trat für Verbleib der Krim in der Ukraine ein.

Befürchtungen im Westen, Moskau könnte der Abspaltung »russischer« Regionen der Ukraine mit militärischer Gewalt nachhelfen, halten russische Experten für unbegründet und hysterisch. Dazu, meinte Fjodor Lukjanow, in Personalunion Chef des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Chefredakteur der Zeitschrift »Russland in der globalen Politik«, müsste etwas »Welterschütterndes« passieren.

Derzeit scheint Moskau in der Tat auf den sanften Weg zu setzen: auf gezielte Förderung loyaler Partner in der Ukraine. Präsident Putin, sagte dessen Pressesprecher, habe die russische Regierung beauftragt, allein auf der Krim Investitionsprojekte im Wert von mehr als fünf Milliarden Dollar voranzutreiben, die bereits vor dem Machtwechsel in Kiew beschlossen worden waren. Das Wirtschaftsministerium, schreibt die Moskauer Tageszeitung »Kommersant«, habe russischen Unternehmern eine Beteiligung ausdrücklich empfohlen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 1. März 2014


Flughäfen besetzt

Ukraine: Kiewer Regierung droht mit Militäreinsatz auf der Krim. Gestürzter Präsident Janukowitsch meldet sich aus Rußland zu Wort

Von Reinhard Lauterbach ***


In der Ukraine haben am frühen Donnerstag morgen mehrere Dutzend Bewaffnete vorübergehend den Zivilflughafen von Simferopol auf der Krim besetzt. Sie bezeichneten sich als Mitglieder der »Russischen Selbstverteidigung«. Der Flugbetrieb ging ungestört weiter. Gegen Mittag zogen die Bewaffneten Medienberichten zufolge so wortlos wieder ab, wie sie am Morgen gekommen waren. Es scheint sich bei der Aktion um eine Übung für den Fall der Fälle gehandelt zu haben. Für Aufregung sorgte am Morgen auch das Auftauchen Bewaffneter am Militärflughafen in Belbek bei Sewastopol. Innenminister Arsen Awakow sprach von einer Provokation und bewaffneten Aggression gegen die Ukraine. Russische Medien erklärten dagegen, das Flugfeld gehöre zu den Liegenschaften der Schwarzmeerflotte, das russische Militär habe dort eine Antiterrorübung veranstaltet. Unbestritten scheint damit zu sein, daß es sich in diesem Fall um Soldaten der Schwarzmeerflotte gehandelt hat. Am Morgen wurde nach Angaben aus Kiew ein Stützpunkt des ukrainischen Küstenschutzes bei Sewastopol von der Land- und Seeseite blockiert.

Die neue ukrainische Regierung sandte am Freitag widersprüchliche Signale, wie sie mit der Situation auf der Krim umgehen will. Auf der einen Seite erklärte Wirtschaftsminister Pawlo Scheremeta gegenüber der britischen BBC, Gewaltanwendung sei für seine Regierung nur die letzte aller Optionen; Beamte seines und anderer Ministerien seien in Kontakt mit der russischen Seite, um die Situation zu entspannen. Später erklärte der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Andrij Parubyj, man habe einen Aktionsplan zur »Neutralisierung« der Separatisten erarbeitet. Dieser sieht offenbar auch die Option eines Militäreinsatzes vor. Parubyj beschuldigte Rußland, hinter den Auftritten der Bewaffneten zu stehen. Das ukrainische Parlament forderte eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats über die Lage auf der Krim und rief die USA und Großbritannien auf, ihre Garantien der ukrainischen Grenzen aus dem Budapester Abkommen von 1994 zu verwirklichen.

Rußland bot derweil ukrainischen Polizisten, die infolge des Machtwechsels ihre Stellung verloren, Arbeit in den eigenen Sicherheitsorganen an. Voraussetzung sei ihre Übersiedlung nach Rußland. Der Vorschlag, den prowestliche Medien als Provokation darstellten, ist objektiv eine Geste zur Entspannung des Konflikts, denn gestern hatte es geheißen, die Besetzung des Parlamentsgebäudes in Simferopol sei eine Aktion entlassener Polizisten der Sondereinheit »Berkut« gewesen. Das vom Krim-Parlament angekündigte Referendum über den künftigen Status der Halbinsel wurde in Kiew umgehend als ungültig und illegal bezeichnet. Die Abstimmung wird aber schwer zu verhindern sein, weil sie am selben Tag wie die Präsidentenwahl stattfinden soll: am 25. Mai.

Der entmachtete ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch hat am Freitag nachmittag in der südrussischen Stadt Rostow am Don eine Pressekonferenz gegeben. Er erklärte, seine Absetzung durch die neuen Machthaber nicht anzuerkennen und forderte, die ursprüngliche Vereinbarung mit den europäischen Außenministern vom 21. Februar wieder in Kraft zu setzen. Die Bewohner der Krim forderte er auf, im ukrainischen Staatsverband zu verbleiben. Kiew hat angekündigt, Janukowitschs Auslieferung zu beantragen, falls dieser in Rußland auftauche.

*** Aus: junge welt, Samstag, 1. März 2014


Der KPU droht neues Verbot

Parteichef Simonenko spricht von »Staatsstreich«

Von Tina Schiwatschewa ****


Die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) – zwischen 1991 und 2001 schon einmal verboten – ist derzeit mit 32 Abgeordneten in der Werchowna Rada vertreten. Dort liegt nun wieder ein Verbotsantrag vor, eingebracht von der rechtsextremen »Swoboda«-Fraktion. »Das Verbot wird von politischen Kräften gefordert, die die Spannungen im Lande weiter schüren wollen«, erklärte Oleg Solomachin, KPU-Sekretär auf der Krim, im »nd«-Telefoninterview. Die KP-Zentrale in Kiew wurde verwüstet, das Haus des Sohnes von Parteichef Pjotr Simonenko von »Selbstverteidigungskräften des Maidan« in Brand gesetzt.

Den Vorwurf, die Kommunisten hätten mit der Janukowitsch-Partei der Regionen kollaboriert, weist Solomachin zurück. Die KPU-Abgeordneten hätten stets versucht, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten. Und das – versicherte auch der Partei- und Fraktionsvorsitzende Simonenko – wollten sie weiterhin tun. So habe seine Fraktion die Rückkehr zur Verfassung von 2004 befürwortet, der neuen Regierung aber die Stimmen versagt. Simonenko billigte den jüngsten Ereignissen zwiespältigen Charakter zu: Die Tatsache, dass Hunderttausende an den Maidan-Protesten teilnahmen, spreche für die tiefe Unzufriedenheit mit dem Janukowitsch-Regime, das keines seiner Wahlversprechen eingelöst, sich jedoch maßlos bereichert habe. Im Kern jedoch habe es sich bei dem Konflikt um einen Streit zweier Gruppierungen der oligarchischen Bourgeoisie gehandelt. Die Oligarchen der Opposition seien nicht besser als die der Partei der Regionen, nur hätten sie den Protest in ihrem Interesse zu kanalisieren verstanden und auf dieser Welle einen Staatsstreich verübt.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 1. März 2014


Russischer Rückhalt

Klaus Joachim Herrmann über die Krise um die Halbinsel Krim *****

Die Krim befindet sich in strategisch herausgehobener Lage und in einer schwierigen Situation. Die neuen Kiewer Verhältnisse lassen die Russen auf der Halbinsel wachsenden ukrainischen Nationalismus und anderes Unheil befürchten. Das Recht auf ihre Amtssprache sind sie schon los, und Gutes wird vom Umsturz in der fernen Landeshauptstadt ohnehin nicht erwartet. Da nehmen auch sie sich ihres Schicksals und gern Hilfe an.

Wie der Maidan in Kiew auf Brüssel und Washington, so setzen die vielen Russen der Halbinsel auf Moskau. Das ist weder überraschend noch historisch verwunderlich. Eng sind die Bindungen, und russisch war die Krim ja auch schon einmal. Besonders in diesen Tagen gelten dem allzu großzügigen Nikita Chruschtschow, der die Halbinsel 1954 dem damals noch brüderlichen sowjetischen Nachbarn schenkte, wieder viele der berühmten deftigen russischen Flüche. Ganz sicher auch im Kreml.

Simferopol und Moskau verstehen die Vorgänge in Kiew als Beispiel. Volkes Wille ist heilig und soll sich statt auf dem zentralen Platz sogar in einem Referendum äußern. »Selbstverteidigungskräfte« sorgen für Ordnung, und statt USA und EU bietet eben Russland den nötigen Rückhalt. Es anerkennt also Volkes Willen, präsentiert den hier noch anerkannten Präsidenten – und hat, ganz wie auch der Westen in der Ukraine, strategische Interessen.

***** Aus: neues deutschland, Samstag, 1. März 2014 (Kommentar)


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