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Krim stimmt für Russland

Offenbar deutliche Mehrheit für Trennung von der Ukraine / EU berät Sanktionen *

Die Bewohner der ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim haben nach Angaben der Regionalregierung beim Referendum am Sonntag für einen Beitritt zu Russland gestimmt. 93 Prozent seien für diesen Beitritt, teilte die Krim-Führung am Abend auf Grundlage von Wählerbefragungen mit.

Dieses Ergebnis des Referendums löst zu Wochenbeginn eine Reihe von Folgen aus. Im russischen Unterhaus, der Duma, wird nun ein Gesetzesentwurf zur Eingliederung der Krim in die Russische Föderation fertiggestellt und am Freitag abgestimmt.

Bis dahin soll auch eine »Waffenruhe« gelten, die Russland nach Angaben der ukrainischen Übergangsregierung zugesagt hat. Das heißt, die Blockade ukrainischer Militärstützpunkte auf der Halbinsel werde beendet, sagte Verteidigungsminister Igor Tenjuch am Sonntag in Kiew.

Gleichzeitig gehen westliche Politiker auf Reisen. US-Vizepräsident Joe Biden will in Polen und Litauen die Lage in der Region besprechen. Die EU-Außenminister treffen sich am heutigen Montag um 9.30 Uhr in Brüssel, wo Strafmaßnahmen gegen Russland beschlossen werden sollen. Dort wird auch der ukrainische Übergangsaußenminister Andrej Deschtschyzja von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen empfangen.

Mit Einreiseverboten und Kontensperrungen will Brüssel auf das Referendum und auf die russische Militäraktion in der Ukraine reagieren. Die EU hat mehrfach erklärt, dass sie die Volksabstimmung für illegal und rechtlich unwirksam hält. Noch am Sonntag wurde an der Liste jener Personen gearbeitet, die von den Einreiseverboten und dem Einfrieren ihrer Vermögen in den Mitgliedsstaaten getroffen werden sollen. Dazu gehören Personen, die direkt für russische Militäreinsätze auf der Krim verantwortlich seien. Es galt als fraglich, ob es auch um prominente russische Wirtschaftsführer oder Politiker gehe.

Der Ukraine soll ein Hilfspaket von elf Milliarden Euro zugesprochen werden, über das Mittwoch beraten wird. Am Freitag möchte die Kiewer Übergangsregierung den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU unterzeichnen. Die will sich bislang an die Zusage halten, noch einmal mit Moskau Konsequenzen für die Handelsbeziehungen zwischen Ukraine und Russland zu besprechen.

Nach Zusammenstößen in der Ost-Ukraine teilte das russische Außenministerium mit, es würden zahlreiche Bitten von ukrainischen Zivilbürgern geprüft, sie vor Handlungen der Extremisten, darunter der Mitglieder des Rechten Sektors, zu schützen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014


Paßwort ändern

Ukraine: Tauziehen um Krim-Referendum. Hacker legen NATO-Seiten lahm

Von Reinhard Lauterbach **


Rußland und der Westen haben am Wochenende nochmals ihre gegensätzlichen Rechtsstandpunkte über die Legitimität des Volksentscheids auf der Krim deutlich gemacht. Während Rußland die Abstimmung für legitim hält, erklärten westliche Regierungen – und auch die neuen Machthaber in Kiew – das Referendum schon vor seinem Beginn für illegal. Bei dem Streit geht es letztlich darum, welches Recht man zugrundelegt. Der Westen setzt auf das geltende ukrainische Recht. Danach war die Abstimmung zweifellos illegal, da die Verfassung der Ukraine vorsieht, daß ein Referendum mit Folgen für die Staatsgrenzen nicht regional, sondern nur im gesamten Land abgehalten werden darf. Das soll Abspaltungen erschweren, dürfte allerdings die Bevölkerung der Krim und ihre prorussische Regierung nur wenig beeindrucken, da sie ja gerade von der Ukraine und den dort tonangebenden Nationalisten weg wollen. Rußland stützt seine positive Einschätzung der Rechtmäßigkeit der Abstimmung dagegen auf die UN-Charta und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Letztlich ist die Auseinandersetzung also ein Streit darum, ob innerstaatlichem oder internationalem Recht der Vorrang gebührt; gegen die erste Option läßt sich das Argument anführen, daß nicht die Frösche um Zustimmung bitten darf, wer einen Sumpf trockenlegen will; andererseits besitzt das Völkerrecht keine Exekutivinstanz außer der UNO, und die ist in der Frage blockiert. Eine Sondersitzung des Sicherheitsrates am Samstag endete mit 13 Stimmen gegen das Krim-Referendum, einem russischen Veto und der Enthaltung Chinas.

Unterdessen machte der russische Außenminister Sergej Lawrow deutlich, daß das Krim-Referendum nicht automatisch bedeuten muß, daß Rußland die Halbinsel übernimmt. Nach einem sechsstündigen ergebnislosen Gespräch mit seinem US-Kollegen John Kerry in London sagte Lawrow am Samstag, die Ergebnisse vom Sonntag müßten »der Ausgangspunkt sein, um die weitere Zukunft der Krim festzulegen«. Rußland will sich also offensichtlich diplomatischen Spielraum bewahren und nicht zur Geisel des Abstimmungsergebnisses werden. Lawrows weitere Forderung an Kiew, die »Ausschreitungen ultranationalistischer und radikaler Gruppierungen« zu beenden, die »Andersdenkende, die russischsprachige Bevölkerung und unsere Landsleute« terrorisierten, läßt ebenfalls Verhandlungsspielraum offen – sofern denn der Westen bereit ist, seine Schützlinge in Kiew zurückzupfeifen. Daß der Ball hier in der westlichen Hälfte des Platzes liegt, dämmert auch westlichen Politikern, bisher allerdings vornehmlich pensionierten. Nach dem SPD-Veteranen Erhard Eppler äußerte sich auch das diplomatische Schwergewicht Henry Kissinger in diesem Sinne. Er regte an, für die Ukraine einen Status ähnlich dem Finnlands im Kalten Krieg zu finden: staatlich unabhängig, aber zwischen den Blöcken neutral. Der Vorschlag impliziert freilich die Rückkehr zu einer Quasi-Aufteilung Europas, die die aktiven Politiker des Westens angeblich gerade ablehnen, weil sie Rußland immerhin seine Einflußsphäre ließe.

Auf die militärischen Drohungen der NATO antwortet Rußland einstweilen spiegelbildlich und exakt im Maßstab 2:1. Auf die Verlegung von zwölf US-Jagdbombern nach Polen reagierte Moskau mit der Verlegung von sechs ähnlichen Maschinen nach Belarus; der Einsatz von zwei AWACS-Überwachungsflugzeugen der NATO über Polen und Rumänien wurde mit der Verlegung eines ähnlichen Flugzeugs der russischen Luftwaffe auf den belarussischen Stützpunkt Baranowitsche beantwortet. Und für alle Fälle zeigten offenbar prorussische Hacker, was sie können. Am Samstag legte eine Gruppe, die sich »Cyber-Berkut« nannte, mehrere Stunden lang Seiten der NATO lahm, unter anderem auch die der Dienststelle, die sich dem Schutz gegen Online-Angriffe verschrieben hat. »Mit freundlichem Gruß« empfahlen die Eindringlinge dem Leiter dieser Einheit, sein Paßwort zu ändern.

** Aus: junge Welt, Montag, 17. März 2014


Rege Beteiligung und Solidarzuschlag

Moskau begleitete Referendum mit der Ankündigung der Rehabilitierung der Krim-Tataren und mit Finanzspritzen

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Viele Bürger der Krim machten sich schon am Sonntagmorgen auf den Weg zu den über 1000 Wahllokalen, um über die Zukunft ihrer Halbinsel abzustimmen.

Etwa 1,8 Millionen Stimmberechtigte waren am Sonntag aufgerufen, über die Zukunft der Krim zu entscheiden: Beitritt zur Russischen Föderation oder Verbleib im Staatsverband der Ukraine als Autonome Republik.

Russische Medien, darunter auch kritische, berichteten schon am Vormittag von Schlangen vor den Wahllokalen. Die schlossen um 19 Uhr MEZ. Der Urnengang verlaufe ohne Zwischenfälle, habe zuweilen sogar Volksfestcharakter. Internationale Beobachter – darunter Abgeordnete des polnischen Sejm und des Europaparlaments – würden freundlich begrüßt und hätten keine nennenswerten Regelwidrigkeiten festgestellt, wie sie von ukrainischen Medien moniert wurden.

Abgestimmt wurde auch in Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Die Stadt hat derzeit Sonderstatus und ist der Zentralregierung in Kiew direkt unterstellt.

Kurz nach Schließung der Lokale sollten bereits erste Ergebnisse bekannt gegeben werden, und Krim-Premier Sergej Aksjonow versicherte zuvor bereits: »Heute Abend werden wir feiern, das ist eine neue Ära.« Bis zur endgültigen Aufnahme der Halbinsel durch Russland könnte nach seiner Einschätzung allerdings noch etwa ein Jahr vergehen.

Spannend war nicht der Ausgang des Volksentscheids – das offizielle Ergebnis soll am heutigen Montag bekannt gegeben werden – sondern, wie hoch Wahlbeteiligung und Zustimmungsrate für den Anschluss an Russland ausfallen würden. Angesichts der Tatsache, dass die Schwarzmeer-Halbinsel bis zum Jahr 1954 russisch war und die Bewohner sich mit der Schenkung an die Ukraine nie abgefunden hatten, kamen sogar kritische Meinungsforscher in Russland bei Umfragen unmittelbar vor der Abstimmung auf eine Beteiligung von 80 Prozent. Rund 77 Prozent wollten ihnen zufolge für den Beitritt stimmen. Darunter offenbar auch viele Krim-Tataren und sogar ethnische Ukrainer. Denn der russische Anteil an der Gesamtbevölkerung der Krim beläuft sich auf nur knapp 60 Prozent.

Zwar hatte die Meclis – die Dachorganisation der Krim-Tataren – zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Doch am Freitag kündigte die Russische Duma an, sie werde ein Gesetz zur Rehabilitierung der Krim-Tataren verabschieden. Unter Stalins Herrschaft waren sie wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht 1944 kollektiv nach Zentralasien deportiert worden.

Ein solches Gesetz, so Sergej Mironow, Chef der Mitte-Links-Partei »Gerechtes Russland«, der den Entwurf einbrachte, sei bisher nicht möglich gewesen. Das von Moskau 1992 verabschiedete Gesetz zur Rehabilitierung verfolgter Völker – betroffen waren insgesamt rund 40 Ethnien – sei nur auf russischem Gebiet rechtsgültig. Die Vorlage sieht auch Entschädigungen vor. Vor allem die Rückgabe von Immobilien und Grundbesitz an die Nachkommen der Verbannten. Dazu konnte sich nicht einmal der liberale Viktor Juschtschenko in seiner Amtszeit als Präsident der Ukraine aufraffen.

Russland will der abtrünnigen ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel mit massiven Finanzspritzen unter die Arme greifen. Unabhängig vom Ausgang des Referendums, so zitierte RIA/Nowosti Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew, werde Moskau den Haushalt der Krim, der sich für 2014 auf umgerechnet rund 580 Millionen US-Dollar beläuft, monatlich mit 80 bis 90 Millionen Dollar bezuschussen. Damit soll der Wegfall des Lastenausgleichs durch die ukrainische Regierung kompensiert werden. Außerdem rechnet der Minister nach dem Betritt der Krim mit Investitionen der russischen Privatwirtschaft in Höhe von weiteren fünf Milliarden US-Dollar.

Darüber hinaus lockt Moskau mit einem erleichterten Zugang für Krim-Abiturienten zu russischen Hochschulen. Zumindest in diesem Jahr bleibt ihnen die sogar in Russland umstrittene einheitliche staatliche Reifeprüfung erspart, da sie bisher nach ukrainischen Lehrplänen unterrichtet wurden. Auch dürfen sich die Krim-Bewohner auf kostenfreie Behandlung in allen russischen Kliniken freuen. Das ließ sich in der Praxis bisher nicht einmal für alle Bürger Russlands durchsetzen. Die Renten und die Gehälter von Ärzten und Lehrern sollen auf russisches Niveau angehoben werden.

Das, so fürchten kritische Wirtschaftsexperten, werde ein gewaltiges Loch in den russischen Etat reißen. Das Haushaltdefizit, das durch Sanktionen des Westens droht, werde sich weiter vergrößern. Die Kosten dafür, fürchtet Andrei Netschajew, Wirtschaftsminister in der ersten neoliberalen Regierung des postkommunistischen Russlands, würden in Form eines Solidarzuschlags auf den Steuerzahler umgelegt.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014


Proteste und Manöver

Großdemos, Cyberattacken und ein Drohnen-Dementi ****

Angesichts der angespannten Situation auf der Krim gingen in Moskau am Wochenende Zehntausende Menschen auf die Straßen. Bei Großdemonstration fand das russische Vorgehen auf der Krim sowohl Unterstützung als auch Widerstand. So protestierten am Samstag nach Angaben von Beobachtern rund 30 000 Menschen auf einer Antikriegskundgebung gegen die russische Einmischung in der Ukraine.

Im UN-Sicherheitsrat nutzte Russland sein Vetorecht, um einen Resolutionsentwurf zum »ungültigen« Referendum auf der Krim zu verhindern. 13 der 15 Mitglieder des Gremiums stimmten für einen Entwurf der USA, Russland stimmte dagegen, China enthielt sich.

Die diplomatischen Manöver wurden von militärischen Aktivitäten begleitet. Allerdings wies das US-Verteidigungsministerium einen Bericht zurück, nach dem eine US-Aufklärungsdrohne über der Halbinsel Krim abgefangen worden sei. Das russische Rüstungsunternehmen Rostec hatte der Agentur Interfax zufolge angegeben, der Flugkörper vom Typ MQ-5B »Hunter« sei nach einem radioelektronischen Störmanöver »fast intakt« in die Hände prorussischer Einheiten gelangt. Die Drohne gehöre zur »66. US-Aufklärungsbrigade in Bayern«.

Die Ukraine warf ihrem Nachbarn Russland vor, dass am Samstag ein Truppenkontingent in eine an die Halbinsel Krim angrenzende Region eingedrungen sei. 80 Soldaten seien in das Dorf Strilkowe in der Region Cherson eingedrungen, das auf einer schmalen Landzunge vor der Nordostküste der Krim liegt. Dort befindet sich eine für die Energieversorgung der Krim wichtige Gas-Verdichterstation.

Die USA kündigten an, der ins Schwarze Meer entsandte US-Zerstörer »USS Truxtun« werde auch nach dem Krim-Referendum Manöver vor der Küste der Halbinsel abhalten. Kommandant Andrew Biehn sagte am Samstag im Hafen von Varna in Bulgarien, die 300-köpfige Besatzung werde die »Gelegenheit« nutzen, um weitere »Routineübungen« mit rumänischen und bulgarischen Marineeinheiten zu absolvieren.

Kurz vor dem Krim-Referendum legte ein Hackerangriff mehrere Internetseiten der NATO vorübergehend lahm. Auf der Seite nato.int war in mehreren Sprachen ein Hinweis zu lesen, dass ein Fehler aufgetreten sei. Eine Gruppe »Cyber Berkut«, benannt nach der aufgelösten ukrainischen Sondereinheit, bekannte sich zu dem Angriff: »Wir erklären, dass wir heute um 18.00 Uhr eine Attacke gegen die NATO gestartet haben.« Diese habe auf ukrainischem Territorium nichts zu suchen, hieß es weiter. Die Erklärung wurde auf Russisch abgegeben.

Die offizielle Webseite des Krim-Referendums wurde nach eigenen Angaben in der Nacht zum Sonntag ebenfalls massiv durch Hacker attackiert.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014


Sieger und Verlierer

Klaus Joachim Herrmann über das Referendum auf der Krim *****

Die Bürger der Krim haben abgestimmt. Die Mehrheit hat gewonnen, die Minderheit wäre damit Verlierer. Davon gibt es aber mehrere. Denn mögen seine Anhänger die Sicherung der Krim als Triumph feiern, hat Präsident Putin doch nur einen erzwungenen Rückzug vollzogen. Russland verliert die Ukraine an den Westen und wird international ziemlich einsam. Noch mehr solche Siege kann der Kreml nicht wollen.

Dass die Ukraine hilflos eine geschenkte Halbinsel wieder verliert, ist natürlich eine Demütigung. Schlimmer noch ist, dass das Land zerfällt. Und statt eines demokratischen Aufbruchs der Zivilgesellschaft rückten Ultrarechte in die Herrschaft auf – als würde in der Bundesrepublik auch die NPD regieren.

Vor allem aber geht zwischen Europa und Russland der Streit um die Ukraine weiter, mit dem das Unheil begann. Er hat zunehmend jene Härte gewonnen, die Washington einforderte. Die Wirtschaft bangt, doch Deutschland trotzt mutig seinen eigenen Interessen. Es setzt auf Sanktionen und Bestrafung, damit auf Verschärfung statt Entspannung. Das letzte gewichtige Wort des Boxers der deutschen Konservativen im Kiewer Ring lautete übrigens »Generalmobilmachung«.

Die USA hingegen haben fünf Milliarden Dollar im Maidan bestens investiert. Mit Jazenjuk regiert in Kiew ihr Wunschpremier. Chevron und Exxon erobern den ukrainischen Gasmarkt. Wenn alle weitermachen wie bisher, werden die USA Sieger und alle anderen nur Verlierer sein.

***** Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014 (Kommentar)


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