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In der Ostukraine sinkt der Flammpunkt

Kiew verweist auf angebliche russische Militärbewegungen / Moskau rechnet offenbar mit Angriffen auf die Krim

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Während die NATO Berichte bestätigt, wonach die russische Militärpräsenz im Osten der Ukraine verstärkt wird, nennt Moskau solche Behauptung provokativ.

Die Ukraine-Krise war erneut Thema einer Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrates. Moskau und Kiew hatten sich in den vergangenen Tagen gegenseitig vorgeworfen, die Minsker Vereinbarungen zu torpedieren, bei denen sich die ukrainische Zentralregierung und die pro-russischen Separatisten unter Vermittlung Russlands und der OSZE auf Verhandlungen zur friedlichen Beilegung des Konflikts geeinigt hatten. Dazu gehören auch Feuereinstellung und Truppenentflechtung.

Die Kämpfe entflammten in den vergangenen Tagen erneut, es gab wieder größere Bewegungen von Truppen und Technik. Die Separatisten behaupten, das Kriegsgerät gehöre ihnen, Der ukrainische UNO-Botschafter Juri Sergejew machte Moskau verantwortlich und sprach von letzten Vorbereitungen für den Einmarsch Russlands.

Das russische Verteidigungsministerium sprach von einer Provokation und rechnet offenbar mit Angriffen Kiews auf der Krim, um die Schwarzmeerhalbinsel, die im März der Russischen Föderation beitrat, wieder in den ukrainischen Staatsverband einzugliedern. Um die Verteidigungsfähigkeit der Krim zu stärken, die derzeit keine Landgrenzen zu Russland hat, trat am Mittwoch das Kollegium des Verteidigungsministeriums unter Vorsitz von Minister Sergej Schoygu zu einer Sondersitzung zusammen.

Details wurden bisher nicht bekannt. Lokale Medien berichteten indes, dass in der südrussischen Region Krasnodar mehrere Kolonnen von Panzerfahrzeugen mit Besatzung auf das Übersetzen mit der Fähre über die viereinhalb Kilometer breite Straße von Kertsch warten. Sie trennt die Halbinsel Krim vom russischen Festland. Webcams belegen die Meldung. Außerdem nahm die russische Luftwaffe einen aufgegebenen Militärflugplatz nahe der Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer überraschend wieder in Betrieb. Blogger wollen dort allein am Dienstag die Landung von 20 schweren Transportflugzeugen mit Eliteeinheiten beobachtet haben. Mehrere überregionale russische Zeitungen schreiben in ihren Online-Ausgaben zudem, Moskau massiere erneut Truppen und Technik an seinen Landgrenzen zur Ukraine. Vor allem an die Straße nach Nowoasowsk. Um die Hafenstadt hatten sich ukrainische Regierungstruppen und prorussische Milizen im Sommer heftige Kämpfe geliefert. Sie gilt als strategisch wichtig, ihr Besitz als Voraussetzung für einen Vorstoß Richtung ukrainische Schwarzmeerküste.

Militärexperten erklären Moskaus Muskelspiel mit Plänen der NATO für flächendeckende Manöver in Osteuropa und im Baltikum in den Grenzregionen zu Russland mit mehreren zehntausend Soldaten. Die Wahrscheinlichkeit von bewaffneten Zwischenfällen dabei tendiert aus ihrer Sicht zwar gegen Null. Die Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine mit hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung, befürchten sie, sei dagegen erneut gestiegen. Die Spannungen hätten wieder einen Punkt erreicht, in dem eine banale Provokation den Anlass für einen Waffengang liefern könnte. Zumal Kiew wie die Separatisten ihre Kämpfer nicht immer und nicht überall unter Kontrolle hätten.

Zwar ist ein Krieg mit der Ukraine bei den Russen nicht mehrheitsfähig. Der kollektive nationale Rausch ist wegen gravierender Wirtschaftsprobleme verflogen, wie jüngste Umfragen zeigen, die Bereitschaft zu Protesten wächst demzufolge. In Bedrängnis geraten, warnen kritische Kolumnisten, könnte Moskau versucht sein, sich durch Gewalt in der Ukraine Entlastung zu verschaffen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. November 2014


Es riecht nach Krieg

Kämpfe im Donbass immer intensiver. Kiew stellt Rentenzahlungen an Bewohner des Aufstandsgebietes ein

Von Reinhard Lauterbach **


In der Woche nach den international nicht anerkannten Wahlen im südostukrainischen Aufstandsgebiet sind die Kämpfe an der Waffenstillstandslinie heftiger geworden. Eine von den Aufständischen veröffentlichte Aufstellung vom Mittwoch morgen berichtete über heftigen Granatbeschuss der Stadt Donezk und des nördlich anliegenden Gorlowka. In Awdejewka, östlich von Donezk, haben die ukrainischen Truppen offenbar ihre Positionen verstärkt. Heftige Kämpfe gab es auch um den Straßen- und Eisenbahnknotenpunkt Debalzewo auf halbem Wege zwischen Donezk und Lugansk. Er ist seit dem Sommer von ukrainischen Truppen besetzt; alle Versuche der Aufständischen, den Frontbogen abzuschneiden, sind trotz vielfacher Erklärungen, die ukrainischen Truppen dort seien »praktisch eingeschlossen«, offenbar nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Zuletzt hatte die Kiewer Regierung im Raum Debalzewo einen »Panzerzug« der Rebellen ausgemacht; diese bestätigten dies jetzt ironisch: Ihre Truppen hätten auf Draisinen der Eisenbahn Granatwerfer montiert und führten von dort aus Schläge gegen die ukrainischen Stellungen.

Allerdings offenbar nicht nur gegen diese. In einem Frontbericht der Aufständischen findet sich die Formulierung: »Es gab einen Artillerieangriff auf Gorlowka, als Antwort haben wir Artjomowsk und Dserschinsk bearbeitet«. In der erwähnten Ortschaft Artjomowsk wehrte sich nach Darstellung der örtlichen Polizei eine junge Frau gegen einen Vergewaltigungsversuch durch zwei Regierungssoldaten, die sie im Auto mitgenommen hatten, indem sie eine Handgranate zündete. Die beiden Männer starben, die Frau verlor beide Hände. Gegen sie wird jetzt wegen Mordes ermittelt. Charakteristisch für die ukrainischen Medien: Die prowestliche Ukrainskaja Prawda strich aus der Meldung den sexuellen Übergriff und machte die Sache damit zu einem unmotivierten Sabotageakt.

Im Donbass wächst unterdessen die soziale Notlage vor allem der Älteren. Denn die ukrainische Regierung hat schon vor längerer Zeit beschlossen, die Renten an Bewohner der Aufstandsgebiete nur noch dann auszuzahlen, wenn diese sie an von Kiew kontrollierten Orten mindestens 60 Kilometer vom Aufstandsgebiet entfernt beantragen und abholen. Jetzt kam als zusätzliche Bedingung hinzu, dass die Rentner überdies noch im ukrainisch kontrollierten Gebiet einen Wohnsitz anmelden müssen. In einem Protestaufruf der »Öffentlichkeit des Donbass« wird darauf hingewiesen, dass die Kosten für das Anmieten einer auch nur fiktiven Wohnung den Gegenwert der Rente vielfach auffressen würden. Der Aufruf erhebt gegen Kiew den Vorwurf, die Bevölkerung des Donbass ihrer in Sowjetunion und unabhängiger Ukraine erarbeiteten Rentenansprüche zu berauben.

In Kiew halten sich derweilen Gerüchte, Präsident Petro Poroschenko habe befohlen, die Freiwilligenbataillone, die im Sommer die Hauptlast der Kämpfe auf Regierungsseite getragen haben, aufzulösen. Grund sei deren politische Unzuverlässigkeit. Innenminister Arsen Awakow dementierte diese Meldungen am Mittwoch und erklärte, die Freiwilligenbataillone sollten im Gegenteil in die Nationalgarde aufgenommen werden. Damit unterstünden sie seinem, Awakows, Kommando. Als erste Einheit will Awakow das berüchtigte Faschistenbataillon »Asow« in die Nationalgarde übernehmen und zur Brigade aufrüsten.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. November 2014


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