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Russlands Konvoi wird umgeflaggt

UNO schätzt mehr als 2000 Todesopfer / Spannung um Hilfsgüter für ostukrainisches Kriegsgebiet

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Lage Hunderttausender Einwohner der Ostukraine verschärft sich täglich. Doch der Streit um Hilfe ging weiter.

In der Ostukraine wird Donnerstag Hitze bis zu 39 Grad erwartet. Am Vortag stieg ebenso die Spannung um den russischen Hilfskonvoi. Die über 280 Lastkraftwagen mit 2000 Tonnen humanitärer Fracht wurden abends an der Grenze erwartet. Es sei aber »ausgeschlossen«, dass der Konvoi »des Aggressors« das Gebiet Charkow passiere, machte Innenminister Arsen Awakow scharf. Wieder kam das Kriegsgebiet Lugansk ins Gespräch. Aus der präsidialen Administration hieß es, der Konvoi könne dorthin fahren, das Rote Kreuz verteilen.

Die Prozeduren blieben umstritten. Doch eine mühselige Umladung auf Fahrzeuge des Roten Kreuzes schien vom Tisch zu sein. Nun sollen russische Nummernschilder durch ukrainische ersetzt werden. Die Kampfhandlungen würden ungeachtet der Route des Konvois fortgesetzt, hieß es aus Kiew.

In Lugansk sind seit fast zwei Wochen 250 000 Einwohner ohne Trinkwasser und Strom. Laut örtlichen Medien droht ein Ausbruch von Krankheiten. Viele Menschen können sich nur mit technischem oder Flusswasser versorgen. Die Stadt werde nicht mit Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff beliefert. Soziale Zuwendungen, Renten und Löhne würden nicht ausgezahlt.

Das Rote Kreuz kündigte die Übernahme der russischen Hilfssendung an, die Fracht müsse aber überprüft werden. Sie könne aber ohne Beteiligung der Kiewer Behörden verteilt werden. »Wenn wir diesen Konvoi übernehmen und er unter unserem Zeichen fährt, dann kümmern wir uns selbst um die Verteilung«, sagte Viktoria Sotikowa vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) laut Agenturen. Die Organisation bewerte selbst, wo die Güter benötigt werden. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte versichert, Moskau berücksichtige »ausnahmslos alle Wünsche der ukrainischen Seite«.

Kiew schickte sich nun sogar selbst an, Hilfsgüter in die Krisenregion zu schicken. Ein Konvoi solle Donnerstag aufbrechen, kündigte die Ostukraine-Beauftragte der Regierung, Irina Geraschtschenko, an.

Die Zahl der Opfer des blutigen Konfliktes stieg laut UNO-Angaben auf 2086. Die »sehr vorsichtig geschätzte« Zahl habe sich in zwei Wochen fast verdoppelt. Von der »Volksrepublik Donezk« wurden »Hunderte Tote« beim Beschuss von Uglegorsk am Dienstag durch die Armee berichtet. Der Rechte Sektor meldete den Tod von zwölf Extremisten.

Unklar blieb das Schicksal des russischen Fotografen Andrej Stenin von Rossija Segodnja. So berichtete RIA/Novosti, der Berater des ukrainischen Innenministers habe seine Mitteilung gegenüber dem lettischen Radiosender Baltkom, er sei vom Geheimdienst wegen »Unterstützung des Terrorismus« verhaftet worden, widerrufen. Nur eine Stunde später habe er erklärt, dass er nicht wisse, wo sich der Journalist befinde und ob er noch lebe. Die OSZE und weitere Organisationen fordern die sofortige Freilassung des Reporters.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014


Einreise verweigert

Ukraine will russischen Güterkonvoi stoppen. Wohngebiete beschossen

Von Reinhard Lauterbach **


Die ukrainischen Machthaber blockieren die Versorgung der Zivilbevölkerung des Donbass mit Hilfsgütern. Innenminister Arsen Awakow erklärte am Mittwoch, einem russischen Hilfskonvoi aus 280 LKWs und einer Ladung von Nahrungsmitteln, Mineralwasser, Stromgeneratoren, Schlafsäcken und anderem mehr werde die Einreise in das Gebiet Charkiw verweigert. Die Ukraine werde die Lieferungen ausschließlich vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und nur auf von ihr kontrollierten Routen annehmen. Zuvor hatte Kiew erklärt, es werde russische Hilfsgüter annehmen, wenn sie über durch die Ukraine kontrollierte Routen geliefert würden. Der am Montag aus Moskau gestartete Konvoi wurde am Abend im nördlich an Charkiw angrenzenden russischen Bezirk Belgorod erwartet.

Unterdessen schafft die ukrainische Seite weitere Gründe für die Notwendigkeit humanitärer Hilfe. Im Donbass wurden in der Stadt Jenakijewo nördlich von Donezk ein Markt und mehrere Wohnviertel von Artilleriegeschossen getroffen. Die Aufständischen beschuldigten Kiew, die Stadt Uglegorsk nördlich von Donezk den ganzen Dienstag über aus schwerer Artillerie und mit Raketenwerfern beschossen zu haben. Dabei seien mehrere Dutzend Einwohner getötet worden. Auf die wachsende Brutalität der Kämpfe weist auch eine Statistik hin, die das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR veröffentlichte. Danach ist die Zahl der Todesopfer im Donbass, die vom Beginn des Aufstandes bis Ende Juli 1129 betragen habe, in den seitdem vergangenen zwei Wochen um 963 auf 2092 gestiegen.

Militärisch verschlechtert sich die Lage für die Aufständischen. Nach übereinstimmenden Berichten beider Seiten ist die nördlich von Donezk gelegene Stadt Gorlowka von der Einschließung durch ukrainische Truppen bedroht. Die Reserven der Aufständischen sind im Süden des Kampfgebietes im Raum Schachtjorsk gebunden; dort haben die Kiewer Truppen nach eigenen Angaben die Verbindungsstraße Nummer 21 in Richtung Rostow und damit eine Hauptversorgungsroute der Truppen der Volksrepubliken unterbrochen. Die Kämpfe sind aber auch für die ukrainische Seite sehr verlustreich. Die Kiewer Behörden meldeten mindestens elf Tote seit Dienstag; Anfang der Woche waren beim Sturm ukrainischer Einheiten auf die Stadt Ilowajsk mehrere hundert ukrainischer Soldaten von Scharfschützen der Aufständischen niedergemäht worden. An einem Kontrollpunkt vor Donezk kamen zwölf Angehörige des faschistischen Rechten Sektors um. Sie waren in einem zivilen Kleinbus vorgefahren und hatten aus dem Fenster das Feuer auf die Besatzung des Kontrollpunkts eröffnet. In dem anschließenden Gegenbeschuß der Aufständischen hatten sie keine Chance. Der Faschistenführer Semjon Semjontschenko vom Freiwilligenbataillon »Donbass« forderte Präsident Poroschenko auf, die gesamte Bevölkerung der Ukraine für den Partisanenkrieg zu schulen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 14. August 2014


Freies Geleit

Klaus Joachim Herrmann über russische humanitäre Hilfe ***

Die beste Lösung für den russischen Konvoi wäre dessen schnellstmögliche Abfertigung an der ukrainischen Grenze und freies Geleit in das Kampfgebiet Donbass. Dann wäre er an diesem Donnerstag in Lugansk, wo 250 000 Menschen seit fast zwei Wochen ohne Wasser und Strom sind. Zum demonstrativen russischen guten Willen käme der ukrainische. Denn das sollte Konsens sein: Wer Hilfe zum Überleben benötigt, dem wird sie nicht verweigert. Schon gar nicht, wenn sie unmittelbar bereitsteht.

Kiew würde auch selbst ein Problem los. Jede Stunde, die die Güter aufgehalten werden, bedürfte überzeugender Begründungen. Dabei dürfte die ukrainische Spitze trotz allen Erfindungsreichtums immer üblere Figur machen. Sie nährte vielleicht selbst bei Anhängern den Verdacht, Krieg nicht gegen »Terroristen«, sondern gegen das eigene Volk zu führen. Spender für die »Anti-Terror-Operation« erhalten Steuerbefreiung, die zivilen Opfer statt Trinkwasser, Lebensmitteln und Medikamenten dumme Ausreden. Die angeblich so gefürchteten Waffen kämen sowieso viel unauffälliger über die lange grüne, weitestgehend unbefestigte russisch-ukrainische Grenze.

Natürlich macht der Kreml propagandistische Punkte. Er hat sein Vorgehen klug kalkuliert und die Kritiker in Zugzwang gebracht. Moskau zeigt, dass ihm die prorussische Bevölkerung der Ostukraine wohl keine militärische Intervention, aber selbst gegen erbitterten Widerstand humanitäre Unterstützung wert ist. Die hat es national und international endlich als Thema gesetzt.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014 (Kommentar)


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