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Lehrer Eisenfaust

Wie Witali Klitschko Geschichtspolitik betreibt und die deutschen Okkupanten samt ihrer Helfershelfer verharmlost

Von Reinhard Lauterbach *

In den ersten Januartagen war es auf dem Kiewer Maidan ruhig. So fand Witali Klitschko Zeit für eine Landpartie. In Berditschew südwestlich von Kiew sprach er vor Jugendlichen; Anlaß war das wenige Tage zuvor gefeierte siebzigste Jubiläum der Befreiung der Stadt von der deutschen Besatzung. Klitschko nutzte die Gelegenheit, um »überlebte sowjetische Stereotype« anzugreifen. Die ukrainische Gesellschaft habe nämlich deren Folgen nach wie vor nicht überwunden, und das hindere sie, den Weg nach Europa zu finden. »Ich habe über zehn Jahre in Deutschland gelebt und kann sagen, daß das deutsche Volk sich bereits in schmerzhafter Weise mit der schrecklichsten Periode seiner Geschichte versöhnt hat, als das Land unter der Herrschaft Hitlers stand. Das Resultat liegt auf der Hand, und nicht nur hinsichtlich des wirtschaftlichen Erfolges, sondern auch, was das Niveau der gegenseitigen Toleranz und Achtung angeht«, befand Klitschko in seiner apologetischen Geschichtsvorlesung.

Die »Versöhnung« mit der »schrecklichsten Epoche« war in der Tat von Anfang an Ziel der »Vergangenheitsbewältigung« in der alten BRD. Schmerzhaft war sie allenfalls für überlebende Opfer. Der überwiegende Teil der Deutschen redete sich die Vergangenheit so schön, wie Klitschko in seiner Rede fortfuhr: Man müsse unterscheiden zwischen den verbrecherischen Handlungen der militärischen Führung und dem Dienst der einfachen Soldaten, die lediglich die Befehle ihrer Kommandeure ausgeführt hätten. Kriegsverbrechen seien von allen Seiten begangen worden, sowohl von den deutschen als auch von den sowjetischen Kommandeuren.

Berditschew war zweifellos der geeignete Ort, um diese Gleichsetzung vorzunehmen. Die Stadt war Schauplatz eines der größten Massaker, das deutsche Truppen an der jüdischen Bevölkerung der Ukraine verübten. Zwischen dem Beginn der Okkupation im Juli 1941 und dem Sommer 1942 wurden etwa 38000 Juden in der Stadt und ihrem Umland ermordet, überwiegend durch die »Einsatzgruppe C«. Wehrmachtseinheiten leisteten dabei zumindest logistische Unterstützung. Von den etwa 30000 jüdischen Einwohnern des Jahres 1941 lebten bei der Befreiung von Berditschew noch 15. Das von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossmann 1948 herausgegebene »Schwarzbuch« über den Genozid an den sowjetischen Juden berichtet auch von der Beteiligung örtlicher ukrainischer Hilfspolizisten an den Verbrechen.

Und um deren geistige Nachkommen ging es dem Amateurhistoriker Klitschko eigentlich: die Angehörigen der mit dem Faschismus kollaborierenden Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA). Sie werden von der Rechten als Nationalhelden verherrlicht, weil sie für eine unabhängige Ukraine kämpften. Im Landeswesten, der regionalen Basis der UPA in den Kriegsjahren, ist dies herrschende Meinung. Daß die ukrainischen Faschisten dabei – neben ihren Hilfsdiensten beim Holocaust, die gern bestritten werden – im Rahmen einer »ethnischen Säuberung« in den Jahren 1943 und 1944 auch mehrere zehntausend polnische Zivilisten umbrachten, stört die Fans dieser Truppe, deren rot-schwarze Fahnen auf dem Maidan in Kiew allgegenwärtig sind, nicht weiter. Genau diese Verehrung der UPA im Westen des Landes aber steht einer Akzeptanz für den Maidan in der Ostukraine entgegen. Das Stichwort »Bandera-Leute« wirkt, wie Klitschko weiß, als emotionale Abschreckung gegen ein Eindringen der prowestlichen Opposition in die dortige Gesellschaft. So übte sich Klitschko ein weiteres Mal im Weichspülen: »Wenn wir den Kämpfer der UPA betrachten, der in den Wald ging, so sehen wir den einfachen Soldaten, der Befehle ausführte. Natürlich waren die Kommandeure der UPA Verräter und Verbrecher, doch der einfache Soldat verdient Hochachtung. Auf der UPA-Seite ebenso wie auf der sowjetischen oder der deutschen.«

Klitschko ist persönlich wohl kein ukrainischer Nationalist alten Schlages. Wäre er einer, hätte ihn die Konrad-Adenauer-Stiftung nicht als Führer einer Pro-EU-Partei aufgebaut. Denn in den westlichen Thinktanks ist man sich der regional beschränkten Ausstrahlung der ukrainischen Nationalisten bewußt. Klitschko hat das in der Sowjetunion geprägte Geschichtsbewußtsein als Hindernis für den politischen Erfolg der prowestlichen Kräfte in der ganzen Ukraine erkannt. Und so tritt er an, es zu schleifen. Daß damit eine Rehabilitierung der ukrainischen Faschisten einhergeht, nimmt er billigend in Kauf.

* Aus: junge Welt, Freitag, 7. Februar 2014


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