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Die Wahl zwischen rechts und extrem rechts

Der Ukrainer Volodymyr Ishchenko über die politische Krise in seinem Land und die Macht der Oligarchen


Volodymyr Ishchenko (31), arbeitet am Zentrum für Gesellschaftsforschung (Center für Society Research) in Kiew. Auf Einladung der Gruppe der LINKEN im Europäischen Parlament war er vergangene Woche in Brüssel. Katharina Strobel befragte ihn für »nd« über die Lage in der Ukraine und mögliche Auswege aus der politischen Krise.


Herr Ishchenko, wie geht es Ihnen?

Nicht gut. Die militärische Bedrohung der Ukraine durch Russland ist real. Es wäre ein Desaster. Die Ukraine könnte gespalten werden.

Haben Sie selbst auf dem Maidan demonstriert?

Nein. Ich habe die Entwicklung von Anfang an kritisch betrachtet. Selbst zu Beginn, also Ende November, als die Menschen für den sogenannten Euro-Maidan auf die Straße gingen, war ich dagegen.

Warum?

Die Bewegung war eine Reaktion auf das geplatzte Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Die Menschen sahen eine Annäherung an die EU in Gefahr. Ich dagegen denke, dass dieses Abkommen auch Gefahren bereithält. Ich halte den Glauben an die EU als Lösung für unsere Probleme für Utopie.

Sie glauben nicht, dass eine Annäherung an die EU der Schritt in die richtige Richtung wäre?

Natürlich müssen wir mit der EU in Kontakt bleiben. Wir müssen gute Beziehungen sowohl zur EU als auch zu Russland aufbauen. Es darf für uns keine Alternative »entweder EU oder Russland« werden. Beide sind wichtig für uns. Aber viel wichtiger ist, dass wir unsere eigenen Probleme in den Griff bekommen.

Nämlich welche?

Allen voran das Problem der Oligarchen. Sie schleusen Billionen von Dollars an unseren Steuerkassen vorbei. Sie profitieren von den korrupten Strukturen in unserem Land. Da müssen wir ran.

Haben die politischen Figuren, Julia Timoschenko oder Vitali Klitschko zum Beispiel, die sich momentan als Führungspersönlichkeiten darstellen, das Zeug dazu?

Nein. Das glaube ich nicht. Wir haben derzeit die Wahl zwischen rechts und extrem rechts. Was wir brauchen, ist eine linke Alternative. Ich sehe nicht, dass sich die Interimsregierung oder die Präsidentschaftskandidaten wirklich für das Volk auf der Straße interessieren.

Das klingt fast zynisch. Wie ist es dann möglich, dass Tausende zum Teil unter Lebensgefahr auf die Straße gingen, in der echten Hoffnung auf Besserung für ihr Land?

Zunächst dachten die Leute: Wenn Janukowitsch erst einmal weg ist, ist das schon mal der erste Schritt in die richtige Richtung. Aber klare Reformpläne wurden nie formuliert.

Haben einige Demonstranten ihr Leben umsonst gelassen?

Nein. Es gibt schon begrüßenswerte Entwicklungen, die aus den Demonstrationen resultieren. Zum Beispiel haben die Demonstranten darauf bestanden und schließlich auch erreicht, dass die restriktiven Gesetze, die zunächst am 16. Januar verkündet worden waren, wieder zurückgenommen wurden. Die Menschen auf der Straße können also etwas erreichen.

Hätte die EU Ihrer Meinung nach mehr machen sollen?

Ja, sie hätte viel früher intervenieren und Sanktionen auferlegen müssen.

Und was soll sie jetzt tun?

Das finanzielle Hilfsangebot begrüßen wir natürlich. Eine andere Idee wäre ein Schuldenerlass. Unsere Schulden lähmen uns. Sie betragen insgesamt etwa 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukt.

Sie erwecken den Eindruck, dass Sie die Lage als ausweglos ansehen.

Ja, ich bin absolut pessimistisch, was die Zukunft der Ukraine angeht. Wir haben bisher eine Entwicklung von schlimm zu schlimmer gesehen. Das wichtigste für uns ist, dass wir die Korruption in den Griff bekommen, dass die Menschen Arbeit und Sicherheiten haben. Und dafür brauchen wir Geld und den richtigen politischen Plan.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. März 2914


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