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Ukraine bankrott

Der IWF übernimmt beim Nachbarn Russlands das Kommando

Von Hannes Hofbauer *

Als am frühen Abend des 21. November 2013 auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Kiew die ersten Ukrainer mit EU-Fahnen auftauchten, löste das nicht nur bei linken Beobachtern aus dem Westen Erstaunen aus. Immerhin befand sich die Europäische Union, die Euro-Zone im besonderen, seit mehr als fünf Jahren in der Krise. Die Bruttoinlandsprodukte der Mitgliedsstaaten sanken, die Arbeitslosenraten stiegen, und in den Randstaaten, bricht der Mittelstand weg. In Griechenland, Zypern, Irland und Spanien hätte kein einziger blauer Fetzen mit goldenen Sternchen länger als ein paar Minuten an einem öffentlichen Platz gehangen, ohne daß Empörte das Symbol wirtschaftlicher und sozialer Zwangsmaßnahmen umgehend entfernt hätten. Und auch in Italien war es zu dieser Zeit nur an wenigen Orten möglich, ungestört mit der EU-Fahne durch die Straßen zu ziehen.

Welcher Teufel ritt die ukrainischen Demonstranten auf dem Kiewer Maidan, im Spätherbst 2013 das Brüsseler Blau mit Sternenkranz zu hissen? Vielleicht die verzweifelte Hoffnung auf finanziellen Zuschuß und logistischer Hilfe von außen? In gewisser Weise wiederholte sich das, was neun Jahre zuvor die sogenannte orange Revolution ausgemacht hatte. Damals konnte sich der Autor selbst ein Bild von den Strippenziehern der Protestcamps machen: In der von dem US-Milliardär George Soros 1990 in der Ukraine gegründeten und finanziell bestens ausgestatteten Renaissance-Stiftung plauderte z.B. ein ehemaliger Bankfilialleiter, mittlerweile zum Koordinator der Revolte avanciert, aus dem Nähkästchen. Über Monate wurden zig Widerstandsseminare im ganzen Land organisiert, junge Menschen von Ausbildern der serbischen Organisation »Otpor!« trainiert, die stolz darauf waren, zuvor in Jugoslawien den Sturz des Präsidenten Slobodan Milosevic mitbetrieben zu haben. Bezahlt wurde das Ganze außer von Soros auch von der britischen Westminister-Stiftung, patronisiert vom damaligen englischen Premier Anthony Blair. Geld, Handys und Propagandamaterial nahmen die Aktivisten gleich nach Seminarschluß mit.

Vor dem Euromaidan 2013 hat sich die Renaissance-Stiftung dann verstärkt mit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung koordiniert. Die Aufarbeitung des Beziehungsgeflechts zwischen den Unzufriedenen auf dem Maidan, den neofaschistischen Stoßtrupps von »Swoboda« und dem »Rechten Sektor« sowie ihren Unterstützern aus dem Westen steht noch aus.

Das Nein zur Assoziierung

An diesem 21. November 2013, an dem sich Demonstranten mit EU-Fahnen auf dem Maidan eingefunden hatten, sistierte Ministerpräsident Mikola Asarow das bereits ausverhandelte Assoziierungsabkommen mit Brüssel. Das erste Nein kam von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Präsident Wiktor Janukowitsch zog nach. Es war die erste offizielle Zurückweisung eines Assoziierungsabkommens überhaupt, die die Europäische Union im Zuge ihres Vormarschs in Richtung Osten erhielten. Brüssel war vor den Kopf gestoßen, seine Gangart wurde härter. In Washington – sowohl bei der US-Regierung als auch bei den internationalen Finanzorganisationen Weltbank und IWF – sah man seine Chance gekommen.

Bis zum 21. November 2013 lag Brüssel scheinbar ungehindert auf Erweiterungskurs. In drei Runden (2004, 2007, 2013) waren mittlerweile elf ehemals von kommunistischen Parteien regierte Länder der EU beigetreten. Auf dem »Ostpartnerschaftsgipfel« in der litauischen Hauptstadt Vilnius sollten an diesem Tag in einer neuen Runde sechs weitere ehemalige Sowjetrepubliken an den EU-Binnenmarkt herangeführt werden. Als »Partnerländer« waren Moldawien, Georgien, die Ukraine, Belarus, Armenien und Aserbaidschan auserkoren. Das 2009 auf Betreiben Polens und Schwedens gegründete Forum ist der EU-Kommission direkt unterstellt und agiert im Rahmen des Programms »Europäische Nachbarschaftspolitik«. Es stellt sich seit 2004 die Erweiterung des ökonomischen und politischen Einflußbereichs bis tief in die früheren Sowjetgebiete hinein zur Aufgabe.

Mit einem Budget von 600 Millionen Euro bis Ende 2013 bediente die »Ostpartnerschaft« neben der Erfüllung technischer Aufgaben hauptsächlich den ideologischen Überbau des Erweiterungsprojekts. Die diesbezüglichen Schlagworte klingen im Englischen genauso floskelhaft wie in jeder anderen Sprache, setzen sich aber als Anglizismen EU-weit fest. Da ist die Rede von »Shared values«, »Good governance« und »Rule of law«. Die handhabbaren Schwerpunkte lassen sich auf vier Anliegen eingrenzen: die Einrichtung EU-kompatibler Administrationen, neudeutsch »Institution building« genannt; den Aufbau einer von Rußland unabhängigen Gasversorgung unter dem Stichwort »Energy security«; die zwischenstaatliche und interregionale Vernetzung, genannt »Regional development« und schließlich die Zurückdrängung des Staates aus der Ökonomie bei gleichzeitiger Marktöffnung, euphemistisch bezeichnet als »Economic integration«. Mit anderen Worten: Es ging und geht um die Durchsetzung der vier wesentlichen kapitalistischen Freiheiten in den internationalen Beziehungen: um den freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und – quotiert – Arbeitskraft. Um dies zu gewährleisten und damit Investi­tionssicherheit für westliches Kapital zu garantieren, bedarf es entsprechender legislativer, exekutiver und administrativer Anpassungen an den Kanon der Europäischen Union. Die »Ostpartnerschaft« stellt den multilateralen Rahmen für diese Art von Integration dar.

Den Kern des mit Kiew vorgesehenen Assoziierungsabkommens bildet das Kapitel 4 »Ökonomische Zusammenarbeit« [1]. Darin wurde Klartext geschrieben: »Die Partner kooperieren, um die Ukraine bei der Etablierung einer voll funktionsfähigen Marktwirtschaft zu unterstützen«, heißt es bereits im ersten Satz. Die folgenden Vorgaben lesen sich dann wie aus dem Lehrbuch für Wirtschaftsliberalismus. Kiew wird aufgefordert, »die Erfahrung der EU und der Europäischen Zentralbank zu teilen, um den Geld-, Finanz- und Bankensektor (…) zu entwickeln und zu stärken«, wozu es in erster Linie »Reformen im Pensionssystem und im öffentlichen Sektor« brauche. Ohne jeden ironischen Unterton wird dann der Ukraine »die beste Expertise der EU und der EU-Mitgliedsstaaten in bezug auf Pensionsreformen« anempfohlen sowie die »Reduktion staatlicher Einmischung in die Preispolitik gemäß der besten Praxis der Europäischen Union«. Mit anderen Worten: Energie- und Lebensmittelsubventionen müssen abgeschafft werden, der staatlich regulierte Gaspreis muß im Rahmen einer Liberalisierung weichen. Auch »transparente Privatisierungsgesetze in Abstimmung mit der besten EU-Praxis« werden eingeklagt. Wie diese »beste EU-Praxis« aussieht, kann man sich durch Besichtigung der Gegend zwischen Rostock und Sofia ansehen. Es wirkt fast unglaubwürdig, daß Brüssel noch Ende 2013 mit dieser Vorgangsweise Druck auf die Regierung in Kiew aufbauen konnte.

Der Assoziierungsgipfel am 29. November 2013 in Vilnius wurde ein Flop. Aserbaidschan und Belarus galten den Herren aus Brüssel von vornherein als unreif; Armenien erklärte, sich der russisch-belarussisch-kasachischen Zollunion anschließen zu wollen, und die Ukraine verweigerte sich dem wirtschaftlichen Diktat – das auch eine militärische Seite hatte. Blieben Moldawien und Georgien, deren politische Führer die entsprechenden Dokumente unterzeichneten. Einmal mehr war damit auch in geopolitischer Hinsicht der destabilisierende Charakter der EU-Osterweiterung dokumentiert. Denn mit Moldawien und Georgien wurden gerade jene Länder an die EU herangeführt, deren Territorialität nicht geklärt ist: Weder Chisinau noch Tbilissi gebieten über das von ihnen reklamierte Staatsgebiet. Pridnestrowien, Abchasien und Südossetien haben sich für selbständig erklärt.

Erinnert sei an die EU-Erweiterungsrunden seit 2004. »Teile und herrsche« lautete schon damals das Motto. Von den elf postkommunistischen Ländern, die der Europäischen Union beitraten, waren vorher sieben aus vormals multiethnischen Staaten herausgeschält worden, nämlich Estland, Lettland, Litauen (aus der UdSSR), Tschechien und die Slowakei (aus der Tschechoslowakei) sowie Slowenien und Kroatien (aus Jugoslawien). Damit waren föderale multiethnische Gebilde in Europa – Ausnahme Belgien – zerstört!

Ökonomisches Schlußlicht

Kein halbes Jahr nach dem Nein aus Kiew herrscht Bürgerkrieg in der Ukraine. Präsidentenamt und Parlament wurden unter starkem Druck von EU und USA mit willfährigerem Personal besetzt, Rechtsradikalen wurde politischer Raum gegeben. Mitte Mai 2014 geht die ukrainische Armee gegen die Bevölkerung in Städten und Regionen im Osten des Landes vor, die gegen die Illegitimität der neuen Regierung mit denselben Mitteln und Argumenten kämpfen, mit denen kurz zuvor die EU-Fahnen-Schwenker in Kiew aufgetreten waren.

Die makroökonomischen Zahlen weisen dem Land – neben Moldawien – den letzten Platz in Europa zu. Anfang März publizierte die englische Wochenzeitschrift The Economist eine Statistik, aus der hervorgeht, daß das ukrainische Bruttoinlandsprodukt (BIP) – kaufkraftbereinigt – 2013 gegenüber 1992, dem ersten Jahr der Unabhängigkeit, auf weniger als 50 von 100 Indexpunkte geschrumpft ist. Eine Studie des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche zeichnet ein ähnlich verheerendes Bild. Ein Blick über die Grenze nach Belarus macht deutlich, daß es auch unter widrigen Umständen besser geht: Die entsprechenden Indexzahlen lauten 265 (bei 1992 = 100), auch in Rußland hat sich das Bruttoinlandsprodukt in diesem Zeitraum auf zumindest 130 leicht erhöht. Der 20jährige ukrainische Niedergang kommt auch in Einkommensvergleichen zum Ausdruck. Das Pro-Kopf-Einkommen – eine Größe, die zwar nichts über die soziale Verteilung aussagt, aber bei der Gegenüberstellung mit anderen Ländern eine gewisse Orientierung gibt – beträgt in der Ukraine 5900 Euro pro Jahr. In Rußland liegt es bei 14000 Euro, im Durchschnitt der 28 EU-Staaten bei 25000 Euro.

Die Ukraine hat sich auch mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nicht vom Schock des Zerfalls erholt. Schon an der demographischen Entwicklung ist die Misere ersichtlich. Seit 1990 verlor das Land ein Achtel seiner Bevölkerung. Lebten am Ende der Ära Gorbatschow noch 52 Millionen Menschen in der Ukraine, so sind es heute nur mehr 45,5 Millionen. Junge und flexible Einwohner emigrieren. Das ist kein Wunder, wenn man sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt ansieht. Der durchschnittliche Bruttolohn ist der niedrigste in ganz Europa. Magere 295 Euro werden monatlich auf dem Konto eines Beschäftigten verbucht. In Rußland sind es immerhin 667 Euro, und auch in Bulgarien bekommt der statistische Durchschnittsverdiener mit 397 Euro etwas mehr. Was hingegen in der Ukraine steigt, sind die Auslandsschulden. Sie betragen aktuell 74 Prozent des BIP, das entspricht 102 Milliarden Euro; vor zwölf Jahren waren es erst 37 Prozent bzw. zwölf Milliarden Euro.

USA gegen EU

Drei Wochen nach dem Amtsantritt der Interimsregierung von Arseni Jazenjuk, die von Moskau ihres undemokratischen Zustandekommens wegen nicht anerkannt wird, kam das Assoziierungsabkommen der EU wieder auf den Tisch und wurde – in Teilen – recht schnell, am 21. März, unterzeichnet. Sein strategisches Ziel blieb dasselbe wie zuvor: Es gilt, die Ukraine von der russisch-belarussisch-kasachischen Zollunion fernzuhalten und die wirtschaftlichen Verbindungen dorthin zu unterbrechen.

Wie stark die historisch gewachsenen Bande zwischen der Ukraine und Rußland sind, zeigt ein Blick auf den Außenhandel. Es ist fast ausschließlich der Osten der Ukraine, in dem jene Fabriken stehen, die Maschinen, Flugzeugteile, Rüstungsgüter und Komponenten für die Weltraumindustrie nach Rußland liefern. 32 Prozent der ukrainischen Exporte – gerechnet nach Warenwert – gehen in die von Moskau betriebene Zollunion, allein nach Rußland sind es 25 Prozent. Demgegenüber macht der Exportanteil in Richtung Europäische Union insgesamt 20 Prozent aus, Italien und Deutschland nehmen je drei Prozent der Ausfuhren auf. Bei den Importen ist das Verhältnis ähnlich. 40 Prozent der ukrainischen Einfuhren stammen aus dem Raum Rußland-Belarus-Kasachstan, während 29 Prozent aus der EU kommen. Rußland allein hält dabei – wegen seiner Energieimporte – 32 und Deutschland acht Prozent. Interessant ist der US-amerikanische Anteil am Außenhandel der Ukraine. Dieser beträgt gerade einmal 1,5 Prozent der US-Ausfuhren bzw. 3,4 Prozent der Einfuhren der Ukraine – der Iran liegt bei den Ausfuhren und Polen bei den Einfuhren davor.

Im Hinblick auf die hauptsächlich von Washington forcierte Sanktionspolitik gegen Rußland (siehe jW-Thema vom 9.5.2014) ist zu notieren, daß bei den Importen nach Rußland China mit 15,4 Prozent vor Deutschland mit zwölf Prozent und der Ukraine mit 5,7 Prozent die Rangliste anführt. 36 Prozent aller russischen Importe kommen aus der EU, 51 Prozent aller russischen Exporte gehen dahin. Die Handelsbeziehungen mit den USA können dagegen vernachlässigt werden: Nur 2,5 Prozent der russischen Exporte sind für Amerika bestimmt, und 4,8 Prozent der Importe kommen von dort. Vor diesem Hintergrund werden die in Washington beschlossenen Sanktionen und ihre lautstark geforderte Ausweitung verständlich. Die USA haben wirtschaftlich gesehen im Kampf um die Ukraine wenig zu verlieren und können sich auch ein weiterführendes Embargo gegen Rußland leisten.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es hinter der mutwillig und bewußt vom Zaun gebrochenen Staatskrise in Kiew und den politischen und ökonomischen Attacken gegen Moskau auch um eine Auseinandersetzung zwischen Washington und Brüssel geht (siehe jW-Thema vom 15.5.2014). Die ukrainische Krise jedenfalls schwächt die Europäische Union, während sie die USA kaum betrifft. Washington kann vom Zwist am Rande EU-Europas nur profitieren.

Bettelbrief an den IWF

Wie schon im Fall Griechenlands muß Brüssel bei seiner Erweiterungsstrategie in der Ukraine auch den IWF mit ins Boot holen und macht sich damit von dessen Geld und Bedingungen abhängig. Konkret geht es um eine Summe von 13 Milliarden Euro, mit der Jazenjuk und den Seinen unter die Arme gegriffen wird. Sie sollen russische Einflüsse zurückdrängen und profitable Verhältnisse und Investitionssicherheit für westliche Investoren schaffen.

Im Kampf um die Ukraine hat insbesondere der IWF früher schlechte Erfahrungen machen müssen. Der letzte Kreditrahmen, den er Kiew – wie immer mit wirtschafts- und sozialpolitischen Vorgaben verbunden – im Jahr 2010 versprochen hatte, betrug 10,5 Milliarden Euro. Doch bereits nach einem halben Jahr wurden die vereinbarten Auszahlungstranchen sistiert, weil sich die Regierung unter Präsident Janukowitsch nicht an die geforderten harten Kürzungsmaßnahmen und die Liberalisierung der Preise gehalten hatte. Im Dezember 2013 sprang dann Moskau der ins Trudeln geratenen Janukowitsch-Regentschaft finanziell zur Seite und gewährte einen Kredit in derselben Höhe. Als im Februar 2014 klar war, daß der Staatschef dem Druck der Straße und des Westens nicht standhalten würde, stoppte Moskau seinerseits die Auszahlungen.

Nun ist also wieder der IWF am Zug. Der in dieser Phase übliche Bettelbrief des Gläubigers wurde am 22. April 2014 auf den Weg geschickt.[2] Darin gibt die Interimsführung auf 42 Seiten ihren Willen zu Protokoll, für den dringend benötigten Kredit das Volk bluten zu lassen. Versprochen wird gleich zuoberst, dafür zu sorgen, daß die Löhne in den kommenden zwölf Monaten nicht steigen. Das Einfrieren des Mindestlohns, der aktuell 74 Euro pro Monat beträgt, und der tarifvertraglich gesicherten Arbeitseinkommen auf dem Niveau vom 1. Januar 2014 soll ein Drittel aller geplanten Budgeteinsparungen bringen. Weitere 25 Prozent will sich die Koalition aus Liberalen, Konservativen und Rechtsradikalen durch die »Rationalisierung von Sozialausgaben« holen.

Einnahmenseitig versprechen die durch Verfassungsbruch an die Macht Gekommenen dem IWF, die Subventionierung des Gaspreises für Endverbraucher zu stoppen und den Preis per 1. Mai 2014 um 56 Prozent zu erhöhen – was mittlerweile passiert ist. Ein Jahr später soll der Gaspreis dann nochmals um 40 Prozent angehoben werden. Ähnliche Tarifsteigerungen werden – penibel bis zum letzten Cent berechnet – auch für andere Energieformen ins Werk gesetzt. Als gelehrige Liberale wissen Jazenjuk und Co. auch, was sonst noch zu tun ist. Im Bettelbrief werden Erhöhungen von Massensteuern wie der Mehrwertsteuer für pharmazeutische Produkte (um sieben Prozent), für Alkohol und Zigaretten (um 25 Prozent), für Benzin und Diesel (um 28 Prozent) und – das Volk wird dankbar sein ob der so verstandenen Gesundheitspolitik – für Bier (um 42,5 Prozent) garantiert. Dafür erhofft sich Kiew einen Kredit von 13 Milliarden Euro, die der IWF über seine eigene »Währung« der Sonderziehungsrechte ausgibt. Freilich nicht alles auf einmal, die Kontrolle über das Land will gewahrt bleiben. In neun Tranchen soll der Kredit bis März 2016 vergeben werden. Der erste Teil muß für die Begleichung der Schulden beim russischen Energieriesen Gasprom herhalten, denn – wie es EU-Kommissar Günther Oettinger im österreichischen Standard vom 8. Mai 2014 ausdrückte – »man muß Gasprom auch verstehen, der Konzern steht zu 49 Prozent im Eigentum Privater und muß Gewinne machen«.

Parallel zur Begleichung der Altschulden beim wichtigsten Energielieferanten der Ukraine gehen indes die Bemühungen weiter, das Land aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Rußland zu lösen. Seit Mitte April fließt Gas von RWE über Polen dorthin. Nach der Unterzeichnung eines Vertrags mit der Slowakei könnte mehr Energie aus dem Westen geliefert werden. Mediale und politische Attacken auf die von Moskau finanzierte Pipeline South Stream, die mit Bulgarien, Ungarn, Italien, Österreich und Deutschland vertraglich vereinbart worden war, zielen ins Herz der europäisch-russischen Wirtschaftskooperation. US-amerikanische Energiegiganten wie Chevron sitzen bereits in den Startlöchern, um auf dem europäischen Markt zu reüssieren. Dafür haben Senat und Repräsentantenhaus Anfang April Gesetze verabschiedet, die den zügigen Ausbau von Gasverflüssigungsanlagen mit entsprechenden Hafeneinrichtungen vorantreiben sollen. Es gilt, die technischen Hürden zu überwinden, um mit gefracktem Gas den aus Sibirien kommenden Pipelines Konkurrenz zu machen. Die ukrainische Krise kommt diesem Projekt gelegen.

Bleibt noch von der Brüsseler Front zu berichten, wo das Europaparlament die Aufhebung von Handelsbeschränkungen für ukrainische Agrarprodukte beschließen soll. Die Marktöffnung für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der Ukraine gäbe dem agrarisch strukturierten Westen des Landes neue wirtschaftliche Impulse. Damit hätten die EU-Fahnen-Schwinger vom Maidan tatsächlich eine Aufwertung ihrer Region bewirkt. Mit den gleichzeitig in Kiew vorbereiteten Privatisierungsplänen käme diese freilich nicht den kleinen Leuten, wohl aber westlichen Agrar­investoren zugute.

Anmerkungen
  1. Zitiert nach: EU-Ukraine Association Agenda to prepare and facilitate the implementation of the Asssociation Agreement. Luxembourg, 24 June 2013 (www.eeas.europa.eu/ukraine/docs/2010_eu_ukraine_association_agenda_en.pdf )
  2. Siehe https://www.imf.org/external/np/loi/2014/ukr/042214.pdf
* Von Hannes Hofbauer erscheint im Herbst 2014 das Buch: »Kapitaldiktatur. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter« im Wiener Promedia Verlag.

Aus: junge Welt, Samstag, 17. Mai 2014



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